Читать книгу Himmel - Sandra Newman - Страница 11
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ОглавлениеDann erwachte sie in dem Traum. Sie spürte eine Mattigkeit, die ihr aus all ihren Träumen vertraut war; sie war Emilia und sie wollte wieder einschlafen. Draußen krähte ein Hahn, schrie mit wahnwitziger Inbrunst, weckte sie mit seinem Gezeter, obwohl seine Stimme nur gedämpft zu ihr drang. Die Hühner lebten zwei Straßen weiter. Sie waren das Hofgeflügel von Whitehall Palace. In der Ferne läuteten die Glocken zweier Kirchen, schlugen weiter und immer weiter.
Schrittweise hörte der Traum auf, ein Traum zu sein. Auf ihrem Gesicht war echte Kälte zu spüren, echtes Morgenlicht hinter echten Lidern. Der Moment war so still und trist, wie kein Traum es sein konnte. Sie öffnete die Augen.
Sie lag in einem zu weichen Bett, das von allen vier Seiten von Vorhängen umschlossen war. Die Vorhänge in der Nähe ihres Gesichts rochen nach Staub und Winter. Sie zog daran, sie ließen sich leicht aufziehen und gaben den Blick frei auf eine verputzte Decke und einen schmalen gemauerten Kamin, dessen Feuer zu Asche heruntergebrannt war. Der Boden war mit Binsen bedeckt: ein struppiger Teppich aus blassen getrockneten Gräsern, in dem silbriger Lavendel aufblitzte. Emilia betrachtete ihn mit körperlichem Wohlbefinden. Sie wusste, wo der Lavendel gewachsen war – im Ostgarten, wo sie ihre erste Tabakpfeife geraucht hatte. Sie erinnerte sich, wie sie in den Binsen gesessen und mit ihren Fingern die Halme geknickt hatte, um besser denken zu können. Sie erinnerte sich an eine Fülle von Dingen, die sie vorher nicht gewusst hatte, Dinge über Emilia, aus Emilias Kopf.
Das ist der Traum, dachte Kate. Ich bin in dem Traum. Darum war ich so froh.
Sie kämpfte sich unter den Decken in eine sitzende Haltung, und ihr Atem war dünn. Ihr Bauch war gleichzeitig gedehnt und eingedrückt, sein Gewicht heiß und lebendig an ihrem Arm. Dann erwachte ihr Inneres, ein Treten, das stumpf gegen ihre Rippen stieß. Ihre Brüste waren wund und empfindlich. Sie war schwanger. Darum war ich so froh.
Dann hielt sie inne, um mehr zu erfahren: Es fiel ein Schnee aus Informationen, dessen Flocken sich zu einer neuen Landschaft formten. Dies war nicht der Mond. Dies war der Londoner Stadtteil Longditch. Dies war das neue Haus, von dem Tuchhändler gepachtet, das elegante Haus in der Nähe von Whitehall Palace. Die Königin weilte im Moment nicht in London; es gab eine Seuche. Deshalb war Emilias Gatte abwesend; er war mit dem Hofstaat verreist. Anders als in New York war es nicht Herbst, sondern März. Anno Domini 1593. Ein Unglücksjahr, ein Pestjahr; alle Orte der Vergnügung geschlossen, die vornehme Gesellschaft aus der Stadt geflüchtet, zumindest gab es Gottes Gnaden sei Dank keinen Krieg. Die Informationen häuften sich, und Emilia ließ es zu, fühlte sich wohl, das Kind in ihr ein lebendiger Ballast, die Decken warm.
Als sie blinzelte und sich erinnerte, erschien auf dem Boden neben dem Ofen eine Maus. Ihre Bewegungen erschreckten sie; dann erschreckte sie ihre schiere Anwesenheit. Unheimlicherweise sah sie genauso aus wie die Mäuse, die Kates Wohnung in Brooklyn heimsuchten: eine Maus direkt aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert. Sie beschnupperte wichtigtuerisch die auf dem Boden verstreuten Binsen, genau wie eine Maus aus Brooklyn den Linoleumfußboden beschnuppern würde.
Dann war sie wieder Kate, erstaunt. Die Maus kroch über den Fußboden, unleugbar lebendig. Sie war echt. Sie lebte und sie war echt.
Dies war nie ein Traum gewesen. Es war die Vergangenheit.
Draußen im Flur war ein Schritt zu hören, eine Pantine, die auf Holz schlurfte. Die Maus erlitt einen flackernden Anfall von Angst und flitzte unter eine bemalte Truhe. Emilia richtete sich auf, verstand zum einen, zum anderen tat sie es aus Gewohnheit. Sie rief nervös (und fühlte ihre Absicht, fühlte sie in ihrem Hals, war überrascht von ihrer tiefen und melodischen Stimme): »Mary, bist du das?«
Der Schritt hielt inne. Einen Atemzug lang war Emilia sich bewusst, dass sie nicht ganz Emilia war. Dann dachte sie an das, was sie sagen musste. In der seltsamen Art, die Träumen anhaftet, rief sie: »Sei so gut, komm und entzünde das Feuer, mein Kind. Es ist hier kalt wie der Mond.«
Sie hörte, wie ein Holzeimer abgestellt wurde, den eigenartig hohlen Hall des Wassers. Die Tür öffnete sich und Mary trat ein. Sie war ein winziges Mädchen von etwa dreizehn Jahren mit rosafarbenem Gesicht. Sie hatte eine schmuddelige Haube auf, doch sie trug ein sauberes Kleid mit weiten Röcken, pfauenblau. Auf Kate wirkte sie wie ein Schulmädchen in einem Kostüm für eine Theateraufführung. Emilia verdross die schmuddelige Haube, ein nie enden wollendes Ärgernis. Mary nestelte mit rußgeschwärzten Fingern daran herum; sie gehörte zu der ewig schmutzigen Sorte Dienstmädchen.
Mary knickste, so schnell, dass es wie ein Stolpern aussah, ging dann zum Herd und förderte mit dem Schürhaken unter der Asche eine dickflüssige Glut zutage, die orange aufflammte, unberechenbar wie eine Schlange. Sie legte einige Zweige in das Leuchten, mit solch eleganter Fingerfertigkeit als vollführe sie ein Kunststück. Sofort wuchsen Zungen an den Seiten empor, und Mary hob zwei Scheite auf und legte sie in die Flammen. Der Geruch des Feuers breitete sich aus, vermischt mit Marys lebendigem Gestank, doch seine Wärme war noch nicht zu spüren; und nun erkannte Emilia auch ihren eigenen Körpergeruch, die Überreste des Parfums, vermischt mit Schweiß und dem säuerlichen Geruch der Flüssigkeit, die aus ihren Brüsten drang. All das war echt.
Darin keimte Bedeutsamkeit auf, die an ihr nagende Eingebung, dass es etwas gab, das Emilia tun musste. Es hatte mit dem Rahmen der Szene zu tun, mit ihrer Form. Sie war hier, um … es lag ihr auf der Zunge. Es hatte nichts mit dem Baby oder der Seuche zu tun. Auch nicht mit der Königin. Sie hatte es ihr ganzes Leben lang gewusst. Es war … sie wusste es, fast.
Währenddessen betrachtete sie Marys schmutziges Gesicht mit einer besitzergreifenden Zuneigung, die Emilias ureigenste Empfindung war, Kate hatte dergleichen noch nie gefühlt. Und nun erwiderte Mary den Blick, hob störrisch ihr Kinn und sagte: »Wie es Euch beliebt, doch ist der Mond nicht kalt.«
Für einen kurzen Moment war Emilia überrumpelt. Sie antwortete vorsichtig: »Wie nun – der Mond ist nicht kalt?«
»Madam, Ihr sagtet, es ist so kalt wie der Mond. Doch ist der Mond näher bei Gott. So wird er schon warm sein. So dachte ich, Madam.«
»Ach, Gott ist also warm? Er wärmt den Mond?«
»Sicherlich. Gott ist gut. Und sehr groß. Er kann alle Himmelsgefilde erwärmen.«
Emilia lachte überrascht, und Mary glühte geradezu vor intellektueller Selbstzufriedenheit, schwankte leicht auf ihren Fersen vor und zurück. Mary war – das fiel Emilia nun wieder ein – eine große Denkerin, die unglücklich war, wenn sie ihre Reden nicht halten durfte. Aus diesem Grund hatte man sie aus dem Haushalt der Hunsdons, wo ihr Geschwätz nicht toleriert worden war, hierher geschickt.
Mit zunehmendem Ernst sagte Mary jetzt: »Es ist die Hölle, die kalt ist. Mein Bruder sagt, die Hölle sei heiß vom Höllenfeuer, doch ich sage, es muss eine kalte Flamme in der Hölle sein, die brennt, und doch keine Wärme gibt. Ich weiß, dass ein Priester einmal dergleichen sagte. Es ist also nicht nur meiner Einbildung entwachsen. Es ist die wahre Lehre, Madam.«
»Welch melancholischer Gedanke«, sagte Emilia.
»Was bringt dich zu solcher Grübelung?«
»Der Glaube, falls die Pestilenz allein nicht ausreicht!«
So plapperte Mary immer weiter, beschrieb die Hölle und wie ihre eigene Mutter als Sünderin gestorben sei; und Mary würde dafür beten, dass ihre Mutter nicht in die Hölle gekommen sei, wenn es aber nun so wäre, sei es doch strittig, ob es ihre Pflicht als Tochter sei, gut zu sein oder zu freveln und zu sündigen, denn es heißt, man solle Vater und Mutter ehren, und es wäre doch der Ehre wenig, sie allein in der Hölle schmoren zu lassen. Und dies sei ein allgegenwärtiger Gedanke in dieser pestgeplagten Stadt, dieser Stadt, in der nur noch die Würmer frohlocken würden. Immerhin seien selbst die Katzen vor Londons Siechtum geflohen. So habe Mary es gehört, und sie hinterfrage es nicht, denn oft seien Tiere weise, wo die Menschen töricht seien. Mary redete immer weiter und Emilia hörte zu, mit dem nervösen Gefühl, dass sich ihr irgendein Hinweis offenbaren müsse, während das Feuer im Ofen kühn prasselte, Mary an ihrer Haube zupfte, und die Fensterläden mit jedem Windstoß klapperten. Einige Sätze aus Marys Erzählung lösten bei Emilia ein Kribbeln aus und verfingen sich in ihren Gedanken wie Kletten: Mein Vetter … weiser, zu fliehn … dass sie meinem Vater Hörner gab. Schließlich verstummte Mary, blickte ins Feuer, ihr Gesicht mahnend und düster, als sähe sie dort ihre zitternde Mutter. Sie nahm den Schürhaken und stieß ihn grollend gegen einen der Scheite, biss sich auf die Lippe.
»Weshalb aber bin ich dann hier?«, fragte Emilia heiser. »Kannst du es mir nicht sagen?«
Voller Hohn stieß Mary Luft zwischen den Zähnen hervor. »Wir sind hier, weil Euer Bauch zu groß zum Reisen ist. So sagtet Ihr. Doch ich sage, es wird dem Kind keine guten Dienste erweisen, wenn es seinen ersten Atemzug im Pesthauch Londons nimmt. Und meine Tante ritt einst fünf Tage lang, als ihr Bauch größer war, als –«
Dann riss Mary sich zusammen. Sie stand mit der Steifheit aller Dreizehnjährigen auf, die ob der Dummheit der Erwachsenen störrisch werden, und wandte sich ab, um den Schürhaken zurück an seinen Platz zu hängen. Emilias Blick fiel auf den Griff des Hakens, der die Form eines Salamanders hatte, jedoch mit menschlichen Ohren. Einen Moment lang formten die Scheite und Flammen hinter Mary eine grässliche, gespenstische Silhouette. Es war der schartige Umriss einer Stadt aus Feuer und Asche, das sich windende Gespenst einer toten Welt.
Ein stechender Ruck ging durch Emilias Bauch – das Kind reagierte auf Emilias Empfindung, bevor diese selbst sie wahrgenommen hatte. Es war Furcht. Draußen hatte der Hahn das Krähen aufgegeben, doch die Glocken schlugen immer weiter. Sie schlugen für die Pesttoten. Die Furcht durchfuhr sie wie ein Fanfarenstoß, wie ein Imperativ, der Emilia den Atem anhalten ließ. Im Feuer wurde der Umriss dunkler und deutlicher. Er war echt. Er war eine Vision, deutete jedoch auf etwas Echtes. Eine Stadt am Ende der Welt.
Dann fühlte sie, was zu tun war. Es war da draußen. Wie ein Hund nahm sie die Witterung auf.
Sie machte Anstalten, aufzustehen, und sagte zu Mary: »Es wird uns fern von London besser ergehn. Du tust weislich an deiner Furcht. Wir wollen zu meinem Vetter nach Horne fliehn.«
Das Zimmer begann, sich in Grau aufzulösen. Sie schlief ein. Sie konnte nichts mehr sehen. Alles wurde schwarz.
Sie erwachte in Bens Armen – sie fühlte sich fremd, sie fror und empfand zugleich eine freudige Erregung.
Da war das Hotelzimmer: die weißen, anonymen Wände, der Fernseher, dessen Fernbedienung an einer Kette hing, die so kurz war, dass man neben dem Gerät stehen musste, um den Kanal umzuschalten, der Hinweis, keinen Strom zu verschwenden, mit einer Comiczeichnung der lächelnden Erdkugel. Kate war schweißgebadet. Das Bettzeug war klamm.
O nein, dachte sie in froher Erregung. Ich muss zurück. Hier kann ich überhaupt nichts ausrichten.