Читать книгу Knowing a Superhero - Sarah Bartel - Страница 6
1. Neue Stadt, neues Haus, neues Leben
ОглавлениеDie Straße wand sich vor meinen Augen zwischen den Bäumen hindurch. Es war Nacht, doch der Mond schien hell, genauso wie die Scheinwerfer vor uns, welche die Straße beleuchteten. Weit und breit war kein anderes Auto zu sehen, nur der geliehene VW Caddy von Mums ehemaliger Arbeitskollegin war um diese Zeit noch unterwegs.
Genau jener Caddy, in dem meine Mutter und ich eingepfercht zwischen dem letzten Rest von unseren Möbeln und Kleidern, die noch nicht ihren Platz in unserem neuen Haus gefunden haben, saßen.
Der Umzug. Von einer relativ kleinen 3-Zimmer Wohnung in der Großstadt zogen wir jetzt in ein großes Haus auf dem Land. Ich sage nicht „in eine Kleinstadt“, weil ich mir noch nicht sicher war, ob man den Ort, an den wir zogen, überhaupt Stadt nennen konnte. Redwood. Umgeben von Feldern, Wäldern und einigen Seen lag es ziemlich abseits allem, womit ich aufgewachsen war. Kein Starbucks an der Ecke, keine Einkaufszentren und das Schlimmste: Keinen Buchhandel, der irgendetwas verkaufte, das jünger als 50 Jahre alt ist. Das Kaff hatte noch nicht mal eine U-Bahn! Ich konnte froh sein, dass es eine High School gab und dass ich nicht jeden morgen eine Stunde mit dem Auto fahren musste.
Doch wenigstens hatte ich von nun an mein eigenes Badezimmer und musste es nicht mehr mit Mum teilen. Und sie wirkte so glücklich über dieses Haus, dass ich mich bemühte, mich mit ihr zu freuen. Sie kam vom Land und ist nur wegen meines Vaters in die Stadt gezogen. Damals, als meine Großeltern noch lebten, hatten wir öfter mal Ausflüge aufs Land gemacht, wo sie wohnten. Als Kind war ich immer begeistert von der Weite der Landschaft gewesen, davon, dass man ganz weit laufen konnte und trotzdem in der Ferne noch das Haus sieht. Ich habe es geliebt, in ihrem Garten herum zu laufen, den Schmetterlingen nachzujagen, auf Bäume zu klettern und mit meinen Eltern verstecken zu spielen. Wenn ich so darüber nachdenke, habe ich die glücklichsten Zeiten meiner Kindheit bei meinen Großeltern auf dem Land verbracht. So schlimm würde es schon nicht werden. Und falls doch, würde ich in 2 Jahren, wenn ich meinen Abschluss hatte, sowieso wieder in die Stadt ziehen. Ein College gab es hier jedenfalls erwartungsgemäß nicht. So lange würde sich die Zeit hoffentlich nicht hinziehen. Hoffte ich wenigstens.
Die Bäume zogen vorbei, bis sie zu einem dunklen Schatten verschwammen. Ob es hier wilde Tiere gab? Plötzlich meinte ich, etwas in dem dichten Schwarz des Waldes gesehen zu haben. Ich drehte mich auf meinem Sitz um. Da hatte sich doch etwas bewegt, oder? Es hatte ausgesehen wie der Kegel einer Taschenlampe, nur viel heller, aber es war sofort wieder weg gewesen. Doch vielleicht hatten meine übermüdeten Augen mir einfach nur einen Streich gespielt.
„Sora, ist alles in Ordnung, mein Schatz?“, fragte meine Mutter, die das natürlich mitbekommen hatte. Ihre Stimme klang besorgt.
„Ja, ich dachte nur, ich hätte etwas gesehen. Aber bestimmt habe ich mir das nur eingebildet.“
„Es war ein langer Tag. Nicht mehr lange und wir sind da, dann können wir uns endlich ausruhen. Auspacken können wir morgen immer noch.“ Sie lächelte mir vom Fahrersitz aufmunternd zu und angesichts ihrer Freude über den Umzug konnte ich nicht anders als ihr Lächeln zu erwidern. Auch wenn mir bei dem Gedanken, was bereits am Montag auf mich wartete, unwohl wurde.
Ich war im Allgemeinen ein sehr schüchternes Mädchen und ich hasste es, im Mittelpunkt zu stehen. Daher konnte ich mir auch Schöneres vorstellen als mich am Montag in der neuen Schule anstarren lassen, als käme ich von einem anderen Planeten. Immerhin kannten sich die Leute hier schon ihr Leben lang, sie sind zusammen aufgewachsen und haben alle Phasen ihres Lebens angefangen beim Kindergarten über die Grundschule bis hin zu den peinlichen Jahren der Pubertät zusammen erlebt. Ich wäre die Neue, von der noch niemand etwas weiß, eine Art Alien. Na super.
In dem Moment fuhren wir um eine Kurve und der Wald lichtete sich. Die Umrisse der ersten Häuser zeichneten sich noch dunkler ab als der Hintergrund. Nirgendwo brannte Licht, was aber angesichts der Uhrzeit nicht weiter verwunderlich war. Wobei, es war Samstag, vermutlich fand irgendwo eine Party statt und alle waren ausgeflogen.
Wir bogen in eine Seitenstraße ein, in die sich vermutlich nicht mal tagsüber jemand, der nicht gerade hier wohnte, verirren würde. Soweit ich erkennen konnte, gab es außer unserem nur noch ein weiteres bewohntes Haus ganz am Ende Straße, und das stand in ziemlich abseits. Ich versuchte, etwas Genaueres zu erkennen, doch die einzige funktionierende Straßenlaterne stand zu weit entfernt.
Meine Mum fuhr auf den Hof, stellte den Motor aus und atmete tief ein. Ich sah sie an und bemerkte erstaunt, dass sie nervös aussah. Das Lächeln, das sie mir nun zuwarf, war unsicher, angespannt.
„Ich hoffe, es gefällt dir. Es müsste schon alles funktionieren. Wenn du möchtest, können wir noch etwas kochen“, plapperte sie drauflos. Ich sah sie stirnrunzelnd an. Was sollte das? „Ich weiß, dass es schwer für dich war, dein altes Leben hinter dir zu lassen, und ich bin so stolz auf dich, wie du damit umgehst. Du bist schon so erwachsen.“ Ich bemerkte überrascht, wie sie sich verstohlen eine Träne aus den Augenwinkeln strich.
„Mum, was ist los, warum weinst du?“ Ich beugte mich hinüber und nahm sie in die Arme.
„Ich... Ich will nur, dass du hier glücklich wirst. Es war nicht fair von mir, dich so kurz vor deinem Abschluss aus deinem alten Leben rauszureißen. Du musst dich total übergangen gefühlt haben“, schluchzte sie. Offenbar hatte sie größere Schuldgefühle als ich gedacht hatte, obwohl ich immer versucht habe, mir nicht anmerken zu lassen, wie erschreckend ich den Umzug fand.
„Mum, Mum, hör auf. Es ist ok, ich fühle mich nicht übergangen oder sonst etwas. Ich bin froh, wenn du glücklich bist, du hast es dir verdient. Und so schlimm wird das alles schon nicht, du musst dir keine Sorgen machen“, beruhigte ich sie und strich über ihren Rücken. So aufgelöst hatte ich sie das letzte Mal vor 2 Jahren erlebt, als ...
„Bist du dir sicher?“ Sie hielt mich auf Armlänge weg und sah mir prüfend ins Gesicht. Ihre Augen hatte sie zusammengekniffen und sie sah so ernst aus, dass ich losprustete. Nach einem kurzen verdatterten Blick stimmte sie in mein Lachen mit ein. „Tut mir leid, ich glaube, der ganze Stress vom Umzug hat mich wohl doch mehr geschafft, als ich dachte.“
„Es tut mir leid, dass du das alles allein machen musstest.“ Ich hatte ihr nicht helfen können, da sie darauf bestanden hatte, dass ich lieber in die Schule gehen sollte anstatt sie zu begleiten und den Großteil der Sachen aufzubauen. Ich hatte das komplette Haus noch nie gesehen. Das einzige Zimmer, das noch nicht fertig war, war mein eigenes. Ich hatte darauf bestanden, das allein zu machen. Der Nachteil darin bestand, dass ich leider vorerst im Wohnzimmer auf dem Sofa schlafen musste, da bisher noch keine Möbel standen und mein neues Bett auch noch nicht angeliefert worden war.
„Das muss dir nicht leidtun, dafür darfst du dich morgen bei deinem eigenen Zimmer austoben. Aber jetzt lass uns erstmal reingehen. Es war eine lange Fahrt und ich bin so erschöpft, dass ich glaube, gleich im Stehen einzuschlafen. Nimm nur das Nötigste mit, den Rest holen wir morgen.“
Als wir aus dem Auto stiegen, streckte ich mich erst einmal. Meine Glieder waren steif vom langen Sitzen. Als ich nach oben sah, erblickte ich Dutzende von Sternen. Es war so ruhig, kein Straßenlärm war zu hören, wie ich es gewohnt war. Irgendwie entspannend. Nachdem meine Mutter gesagt hatte, dass wir das Auto morgen leer räumen würden - wofür ich wirklich dankbar war, da ich das Gefühl hatte, nicht mehr länger als nötig wach bleiben zu können - nahm ich nur meine Handtasche und den kleinen Kosmetikbeutel mit. Im Haus angekommen, bezogen wir das Sofa sowie ein Kissen und die Decke für mich. Als wir damit fertig waren, putzte ich mir die Zähne und wusch mir Gesicht und Arme, bevor ich in Top und Shorts schlüpfte. Eine Katzenwäsche musste für jetzt reichen, duschen würde ich morgen früh. Genauso wie ich mir das Haus in Ruhe erst morgen anschauen würde.
Nun war es erst einmal Zeit fürs Bett. Meine Mutter wünschte mir eine gute Nacht und ging selbst in ihr Zimmer. Ihr Bett war schon fertig, schließlich hatte sie einen Großteil der letzten Wochen hier verbracht. Mit Blick durch die große verglaste Wand des Wohnzimmers auf die Sterne schlief ich ein, sobald mein Kopf das Kissen berührt hatte.
Am nächsten Morgen wurde ich von zwitschernden Vögeln geweckt. Als ich die Augen aufschlug, erkannte ich, dass am Himmel draußen das Taubenblau der Nacht langsam einem zarten Rosa wich. Lange konnte ich nicht geschlafen haben, aber dennoch fühlte ich mich ausgeruht. Ich schlang mir die Decke um die Schultern und schlurfte in die Küche.
Nachdem ich gestern noch keine Möglichkeit hatte, mich umzusehen, staunte ich nicht schlecht, als ich in die Küche ging. Es sah aus wie in einer Designerwohnung. An der Wand standen und hingen Schränke mit schwarzer Front, von denen sich die beiden größten als Kühl- und Gefrierschrank herausstellten, sowie ein Backofen, der in perfekter Höhe angebracht war, sodass man sich nicht bücken musste, um hinein zu sehen. Gelegentlich wurden die glatten Schränke von Schubladen unterbrochen.
In der Mitte der Küche war eine Insel, auf der sich der Herd und die Spüle bestanden. Über dem Herd war eine Dunstabzugshaube angebracht und als ich den vermeintlichen Schrank unter der Spüle aufmachte, erkannte ich, dass es sich dabei um einen Geschirrspüler handelte. Trotzdem hatte man sowohl auf der Insel als auch auf der Wandseite noch genug freien Platz um zu arbeiten. Außerdem bildete eine erhöhte Fläche auf der Insel einen Tisch, sodass man dem Koch gleich auf Barhockern gegenüber sitzen konnte. Wem das zu ungemütlich war, der konnte sich auch auf die Eckbank in der Ecke setzen.
Auf der Arbeitsfläche an der Wandseite standen ein Wasserkocher und unser alter Kaffeevollautomat, den ich sofort ansteuerte. Ich brauchte jetzt unbedingt einen Latte Macchiatto, sonst würde ich das Gefühl, dass ich träumte, nicht mehr loswerden.
Ich liebte es, mit meiner Mum oder mit Freunden zu kochen, und hatte schon immer von so einer Küche geträumt - nicht unbedingt der typische Traum einer Siebzehnjährigen, ich weiß. Aber es machte einfach Spaß und in so einer Traumküche konnte einfach nichts schief gehen.
Ich war ehrlich gerührt, dass meine Mum sich daran erinnert hatte, wie ich ihr letztes Jahr davon erzählt hatte, dass ich irgendwann einmal eine Küche wie diese haben möchte.
„Überraschung“, hörte ich Mums leicht verschlafene Stimme hinter mir. Sie stand in einem rosa Pyjama vor mir, die Haare lose zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ein Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. „Gefällt‘s dir?“
Als Antwort grinste ich und gab ihr eine stürmische Umarmung. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr. Du bist einfach die Beste.“ Ich drückte ihr einen Kuss auf die Wange und sie lachte.
„Das dachte ich mir. Die Vorbesitzer des Hauses haben sie dringelassen, weil sie in ihre neue Wohnung nicht gepasst hätte. Maßanfertigung oder sowas“, erklärte sie schmunzelnd. „Das war einer der Gründe, warum ich gerade dieses Haus hier gekauft habe.“
„Sie ist wunderbar. Aber warum bist du eigentlich schon wach?“, wollte ich dann wissen. Normalerweise schlief sie länger, ich war immer die Erste, die wach war.
„Ich habe deine Schritte gehört und wollte dabei sein, wenn du das erste Mal das Haus erkundest“, lachte sie. „Na komm, ich könnte jetzt einen Kaffee vertragen.“
Wir machten Kaffee und entschieden uns zur Feier des Tages für Waffeln. Sie zeigte mir, wo wir alle Zutaten finden konnten und während ich die Zutaten zusammen mixte, bereitete sie das Waffeleisen vor.
Als wir fertig waren - und aus irgendeinem Grund meine Kleider voller Mehl - wollte ich mich schon an den Esstisch setzen, doch meine Mum hielt mich auf.
„Ich habe noch eine Überraschung für dich“, sagte sie und führte mich wieder zurück ins Wohnzimmer. Doch sie blieb dort nicht stehen, sondern öffnete die Terrassentür und trat hinaus.
Ich folgte ihr und die noch kühle Luft ließ mich kurz frösteln - die Bettdecke hatte ich bereits vor dem Waffelnbacken weggeräumt. Doch dann sah ich, wo sie mich hinführte und die Kälte war vergessen. Wir hatten einen großen Garten und auf der Terrasse stand ein Tisch für maximal vier Personen. Er war nach Süden ausgerichtet. Wenn wir also nach links sahen, konnten wir schon die ersten Sonnenstrahlen über den Spitzen der riesigen Nadelbäume hervorblitzen sehen.
„Es ist wunderschön, Mum“, hauchte ich. Sie strahlte mich an.
„Es freut mich, wenn es dir gefällt.“
Während wir frühstückten, sprachen wir über den heutigen Tag und das, was wir vorhatten. Ich wollte mein Zimmer einrichten, also die Möbel aufbauen - außer mein Bett, das würde erst am folgenden Tag kommen - und meine Sachen einräumen. Sie würde sich in der Gegend umsehen und den Wagen ihrer Kollegin zurückbringen.
Als sie gegangen war, ging ich nach oben und putzte Zähne, duschte und kramte eine alte Jogginghose und ein altes T-Shirt aus meinem Koffer.
Mein Zimmer war groß und eine Wand war beerenfarben gestrichen, während der Rest weiß war, damit das Zimmer nicht zu dunkel wirkte. Eine Balkontür, die von beiden Seiten von Fenstern flankiert war, ließ das strahlende Sonnenlicht herein. Mein Bett würde in die eine Ecke kommen und um den Rest der Einrichtung würde ich mich jetzt kümmern.
Das Aufstellen der Möbel dauerte länger als gedacht und obwohl ich schon öfter früheren Freunden geholfen hatte, verzweifelte ich irgendwann. Nach einigen Stunden gab ich auf und entschied mich für eine Pause.
Dafür machte ich mir ein Sandwich und nahm einen Eistee aus dem Kühlschrank. Beides trug ich zum Tisch mit der Eckbank und ließ mich darauf nieder. Während ich aß, dachte ich über den Umzug nach. Als ich davon erfahren hatte, war ich zugegebenermaßen nicht übermäßig begeistert gewesen. Schließlich musste ich alles zurücklassen, was ich bisher kannte.
Schon seit ich denken konnte, hatte ich mit meiner Mum und früher auch mit meinem Vater in dieser Dreizimmer-Wohnung gelebt. Ich war zur Schule gelaufen, weil sie nur ein paar Blocks entfernt war. Hier musste ich mit dem Auto fahren. Zum Glück hatte meine Mum meinen Nissan Qashqai schon vor einer Woche hergefahren.
Nach der Schule war ich gelegentlich mit meinen Freunden zum Kaffeetrinken gegangen oder einfach in einen Buchladen. Mein altes Zimmer quoll schon quasi über vor Büchern. Hier war ich mir nicht sicher, ob es so etwas überhaupt gab. Einen Buchhandel, meine ich. Na ja, ein Hoch auf Internetshops, die lieferten.
Aber eigentlich trauerte ich meinem alten Leben nicht hinterher, und das lag nicht an dieser genialen Küche. In unserer alten Wohnung erinnerte uns alles jeden Tag aufs Neue an Dad. Meine Mum hatte es auch nach 2 Jahren noch nicht über sich gebracht, seine Kleidung wegzuwerfen. Außerdem hatte ich selbst bemerkt, wie meine alten Freunde und ich uns auseinandergelebt hatten. Sie wollten jedes Wochenende auf irgendwelche Partys gehen, worauf ich keine Lust hatte. Ein paar Mal war ich mitgekommen, doch da sie sich meistens nur sinnlos zulaufen lassen wollten, hatte ich mich meist nur gelangweilt. Ich meine, ich trinke auch zu bestimmten Anlässen ab und zu ein Glas Sekt oder sowas, aber ich trank nicht um des Alkohols willen.
Außerdem gefiel es mir hier. Nicht nur das Haus an sich, sondern auch die Landschaft. Ich würde wetten, hier gab es einige Seen, an die man bei warmen Wetter fahren oder vielleicht sogar laufen konnte, was in der Stadt natürlich eher selten ging.
Wenn ich nur wegen morgen nicht so nervös gewesen wäre. Ich hoffte einfach, es würde alles glattlaufen, die Leute würden mich nicht anstarren und es würde nichts Peinliches passieren.
Um mich abzulenken, machte ich mich wieder an die Arbeit. Das ging auch ganz gut, Schränke hatte ich schon mehrere zusammen gebaut, bis ich zu meinem Kleiderschrank kam. Emanzipation hin oder her, aber ich war einfach nicht stark genug. Doch leider wusste ich nicht, wie ich das Problem alleine lösen sollte.
Daher machte ich mich schon einmal daran, die anderen Schränke einzuräumen. Vor allem meine geliebten Bücher mussten verstaut werden. Als ich damit fertig war, schleppte ich die Kiste, die meine Mum heute Morgen netterweise aus dem Auto in den Flur gestellt hatte, nach oben in mein neues Zimmer.
In dem Moment hörte ich unten die Haustür. Meine Mum war wieder zu Hause, vielleicht konnte sie mir ja helfen.
„Sora, wo bist du?“, rief sie nach kurzer Zeit.
„Ich bin hier oben, Mum.“
Ich hörte, wie sie leise etwas sagte und dann die Treppe hochkam. Bildete ich mir das ein, oder waren da noch weitere Schritte hinter ihr? Doch wer sollte schon da sein, wir wohnten alleine hier. Deshalb sortierte ich auch die Sachen in der weiteren Kiste - noch mehr Bücher, aber auch DVDs.
„Sora, das ist Damien Roberts, er wohnt nebenan. Er hat gefragt, ob er helfen kann.“
Ich blickte auf und sah in ein paar wunderschöne blaue Augen, die definitiv nicht die meiner Mutter waren und bei denen mir kurz die Luft wegblieb. Zu dem Augenpaar gehörten neben einer geraden Nase und etwas längeren braunen Haaren noch unglaublich ... perfekte Lippen, bei denen ich mich unwillkürlich fragte, wie es wäre, sie zu küssen.
Als ich mich von meinem kurzen Schock erholt hatte - es dauerte (hoffentlich) nicht länger als ein, zwei Sekunden - fiel mir auf, dass ich vielleicht etwas sagen könnte.
„Ehm, hi. Ich bin Sora, aber das weißt du sicher“, stammelte ich. Die vollkommenen Lippen teilten sich zu einem Lächeln und er antwortete mit einer angenehmen Stimme.
„Freut mich, dich kennen zu lernen, Sora. Wie kann ich helfen?“
„Ehm, ich ... also ich schaffe es leider nicht, den großen Schrank da aufzustellen.“ Gott, konnte ich auch nur einen Satz zu ihm ohne „Ehm“ anfangen?! Am Ende hält er mich noch für minderbemittelt. Am liebsten würde ich mich selbst ohrfeigen.
„Ich gehe unten schnell noch etwas aufräumen. Ihr schafft das doch allein, nicht wahr?“, flötete meine Mum.
„Ja, das dürfte kein Problem sein. Wir bekommen das schon hin, Mrs. Bailey“, versicherte Damian. Und tatsächlich schien er keine Probleme zu haben, den riesigen Schrank aufzustellen. Als ich ihn fragte, wie ich ihm helfen könne, grinste er nur und meinte, er schaffe das schon.
Während er fast schon ohne Anstrengung - er keuchte nicht mal! - den Schrank an die Wand stellte, musterte ich ihn. Er war schlank und sein Bizeps spannte sich unter den Ärmeln seines schwarzen T-Shirts, während er arbeitete. Er war etwas mehr als einen Kopf größer als ich, schien aber im selben Alter zu sein.
Als er sich umdrehte, konnte ich den Blick gerade noch schnell genug von ihm abwenden, damit er nicht sah, wie ich ihn beobachtet hatte. „Kann ich dir sonst noch bei etwas behilflich sein?“
„Ich glaube nicht, den Rest habe ich heute Morgen schon erledigt.“
Er runzelte die Stirn und ließ den Blick durch mein Zimmer wandern. „Schlafen musst du nicht?“, fragte er dann und mir fiel ein, dass ja noch gar kein Bett hier stand. Ich spürte, wie meine Wangen sich röteten.
„Doch, natürlich, aber das wird leider erst morgen geliefert. Ich schlafe in der Zwischenzeit unten auf dem Sofa“, erklärte ich.
„Puh, zum Glück, ich dachte schon, du wärst ein Vampir oder sowas“, scherzte er und wir lachten. „Kann ich dir wirklich nicht mehr helfen?“ In seinen Augen lag etwas Forschendes.
„Nein, ich muss nur die Sachen noch in die Schränke einräumen“, antwortete ich mit Blick auf die Kiste in der Ecke.
„Aber zu zweit geht es schneller“, meinte er und kniete sich schon hin, um die Kiste zu öffnen. Zum Glück war es keine Klamottentasche, sondern nur eine Kiste mit Büchern und DVDs. „Wohin damit?“
„In das Regal dort, ich helfe dir.“
„Möchtest du das irgendwie sortiert haben?“ Wow, rücksichtsvoll war er auch!
„Nein, eigentlich ist das schon einigermaßen sortiert, also kannst du sie einfach rausnehmen.“
Während wir die Sachen auspackten, bemerkte ich, dass er einige DVDs besonders begutachtete. Allerdings sagte er lange nichts dazu, bis irgendwann ...
„Sag mal, hast du eigentlich einen Freund?“ Etwas überrascht von der sehr direkten Frage, spürte ich, wie ich rot wurde.
„Nein, wieso fragst du?“
„Na ja, ich habe bisher noch kein Mädchen kennen gelernt, das sich freiwillig Filme wie die Fast & Furious Reihe ansieht.“ Er hielt einen der besagten Filme hoch.
„Ich mag schnelle Autos. Und außerdem sind die Schauspieler gut“, rechtfertigte ich mich.
„Und die Avengers? Oder die anderen Superhelden-Filme?“ Er hielt die ersten beiden Avengers Teile in der Hand. Während er mich ansah, wirkte sein Blick ernster als ich bei so einer Frage erwarten würde. So, als würde meine Antwort ihm wirklich wichtig sein.
„Na ja, bei allem, was so in der Welt passiert, wäre es schön zu glauben, dass jemand da draußen ist, der es schafft, all den Idioten da draußen in den Hintern zu treten, und dabei trotzdem noch so menschlich bleibt.“
Daraufhin sah er mich ein paar Augenblicke nur an, als würde er das, was ich gesagt hatte, erst einmal verarbeiten müssen.
„Das war wirklich nicht die Antwort, die ich erwartet hatte.“
„Was hättest du denn erwartet?“
„Eher etwas wie: ‚Also, da spielt so ein Typ mit, der ist echt heiß.‘“
Eine Sekunde starrte ich ihn an und wusste nicht, ob ich sauer sein sollte, dass er mich für so oberflächlich gehalten hatte, oder ob ich einfach lachen sollte, weil seine Stimme so komisch geklungen hatte. Schließlich prustete ich einfach los. Er stimmte mit ein und es dauerte ziemlich lange, bis wir uns wieder beruhigt hatten.
Nachdem wir alles aufgeräumt hatten, was in der Kiste war, fragte ich, ob er noch zum Essen bleiben wollte. Er zögerte kurz, lehnte dann jedoch ab. „Ich glaube, ich sollte langsam gehen. Meine Tante besteht immer auf dem gemeinsamen Abendessen.“
Mit etwas Bedauern nickte ich und grinste trotzdem. „Na gut, ich denke wir sehen uns dann morgen, richtig?“ Wir hatten zuvor schon festgestellt, dass wir im selben Jahrgang waren. Allerdings hatte er das Thema ziemlich schnell gewechselt, weshalb ich jetzt noch einmal nachhakte.
Seine Augen wirkten jedoch plötzlich verschlossen. „Ja, bestimmt. Bis morgen dann.“ Hatte ich etwas Falsches gesagt? Er ging die letzten Stufen runter und auf sein Haus zu, drehte sich jedoch noch einmal um und lächelte mir zu. Vielleicht hatte ich mir das doch nur eingebildet.
Als ich am Abend ins Bett - oder in meinem Fall auf‘s Sofa - ging, hatte ich Schmetterlinge im Bauch. Zum einen natürlich wegen des folgenden Tages. Sämtliche Negativ-Szenarien spukten in meinem Kopf herum und ließen mich nicht schlafen. Typisch für mich. Am nächsten Tag würde ich vermutlich durch Schlaflosigkeit auch noch aussehen wie ein Zombie.
Aber ich würde lügen, wenn sich nicht auch ein paar kleine Falter in meine Magengegend verirrt hätten, die Damiens Namen trugen. Er war so nett und lustig gewesen. Dazu sah er noch gut aus. Ich hoffte, dass wir zumindest ein paar Kurse zusammen haben würden.
Natürlich war ich nicht verliebt - so schnell ging das ja nicht - aber ich war wirklich froh, schon jemanden zu kennen, mit dem ich mich so gut verstand. Dazu kam noch das seltsame Gefühl, das mich bei seiner ausweichenden Antwort beschlichen hatte, das Gefühl, als würde mir etwas Entscheidendes entgehen. Zumindest redete ich mir ein, dass es nur das war.