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Wie ich mit dem Auto über den Atlantik fahren wollte und mir der Tod zu meinem Lebenstraum verhalf …

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Es ist still am Kaffeetisch meines Opas und die goldene Uhr neben dem Rahmen mit den gestickten, knallroten Hagebutten tickt. Der perfekte Moment, um zu meinem Volk zu sprechen. »Ich fahre nach Amerika!«, erkläre ich meiner Familie laut, während ich einen Keks drohend wie ein Zepter in der Hand halte. Es besteht die Möglichkeit, dass ich dabei die große Fläche zwischen Europa und den USA für einen mysteriösen Kontinent aus Blaualgen halte, den man mit dem Auto überqueren kann. Egal. Ich finde, es reicht erst mal, wenn man mit sieben Jahren schon weiß, was der eigene Lebenstraum ist. Gedanken um die Details kann ich mir noch machen, wenn ich erwachsen bin – denn Erwachsene machen sich ja so unheimlich gern Gedanken. Die Uhr tickt weiter. Dann lacht die Runde. Ich senke mein Zepter und esse es kommentarlos auf. Natürlich nimmt mich keiner ernst. Es hat aber auch keiner dieses Kribbeln in meinem Herzen gespürt, als ich meinem Vater neulich ein Buch über die USA aus dem Regal geklaut habe. Dunkelrote Felsen in Form von Drachen, die Golden Gate Bridge, Sternenhimmel über der Wüste und die Freiheitsstatue, die seltsamerweise eine brennende Eiswaffel in der Hand zu halten scheint. Da muss ich hin. Irgendwann. Ich weiß es. Und ich weiß, dass mich nichts aufhalten kann.

Während meine Freunde erst heftig in Tamagotchis und Pokémon-Karten und später in Klamotten und Autos investieren, schaffe ich sämtliche Geldgeschenke und Einkünfte aus verschiedensten Jobs auf mein spießiges Sparkassen-Sparbuch, das genauso knallrot ist wie die gestickten Hagebutten bei meinem Opa. »Hast du dir eigentlich mal was Schönes von unserem Geburtstagsgeld gekauft? Was machst du mit dem ganzen Geld – du gönnst dir ja nie was!«, fahndet die Verwandtschaftsstasi. Erfolglos. Wenn ich denen sage, was ich wirklich damit machen will, lachen alle wieder nur.

Einige Jahre später bin ich 22, studiere Journalismus im vierten Semester und weiß immer noch: Irgendwann fahre ich nach Amerika. Irgendwann. Wenn ich das Geld und die Zeit habe. Irgendwann. Das ist ein Wort so neblig wie die Luft über einem See in den Bergen kurz vor Sonnenaufgang. Bequem wie ein Chefsessel mit Rollen, mit dem man sich die Fotokopien angeln kann, ohne aufstehen zu müssen.

Dann kommt der Tag, an dem das Telefon klingelt. Am anderen Ende ist mein Vater. »Oma ist im Krankenhaus«, sagt er. Meine Oma ist 85 Jahre alt und eine verrückte Nudel. Sie ist andauernd im Krankenhaus, weil sie mit dem Fahrrad über Straßenbahnschienen gefahren ist (mehrmals hintereinander an verschiedenen Orten), auf einem Basketball balancieren wollte oder auf irgendeiner spanischen Insel bei 35 Grad einen auf Usain Bolt gemacht hat. Ich lache beinahe: »Was ist es dieses Mal?« »Sie hatte einen Schlaganfall«, erwidert mein Vater. Seine Stimme ist ganz komisch und auf einmal ist das Telefon so schwer wie ein Ziegel. »Das wird schon wieder«, sage ich mit Nachdruck. »Wann wird sie denn entlassen?« Am anderen Ende ist Schweigen.

Plötzlich würde ich das Telefon am liebsten wegwerfen. Aus dem Fenster. Ganz weit. Meine Oma ist nicht einfach nur eine Person, mit der ich zufällig verwandt bin und zu der man hingeht, wenn man mal wieder abgebrannt ist oder Bock auf Kuchen hat. Sie ist eine Inspiration und Institution, eine beste Freundin, risikobereit, frech, immer herzensgut und immer für mich da. Es ist drei Monate her, seit ich sie zuletzt gesehen habe. Es ist Frühsommer und ich habe bald unheimlich viele Prüfungen in der Uni. In den vergangenen Wochen habe ich wie verrückt gelernt und ab und zu Freunde getroffen, um abzuschalten. Wir haben ja noch den ganzen Sommer, habe ich gedacht. Es ist, als hätte jemand zu heißes Wasser in eine Glasschlüssel gekippt. Mit einem leisen Klick zerspringt etwas in mir. Meine Oma, einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben, war gegangen. Einfach so. Ich hatte ihr nicht noch einmal gesagt, wie wichtig sie mir mein ganzes Leben lang gewesen war, was ich noch alles mit ihr hatte unternehmen wollen und wie lieb ich sie hatte.

Auf der Beerdigung will ich schreien. Du hast nicht mal Tschüss gesagt! In Gedanken antwortet sie mir: Du bist ja nicht dagewesen. Ich begreife, dass irgendwann nichts ist als eine Ausrede. Dass es einfach mal ganz brutal zu spät sein kann. Es gibt keinen Anspruch auf ein Frühwarnsystem für die großen Erschütterungen des Lebens. Es ist der Moment, in dem ich weiß, dass ich konkret werden muss mit meinem Lebenstraum. Ich kann nicht wieder gut machen, was ich vergeigt habe, aber ich kann dafür sorgen, dass ich nicht noch einmal zu lange warte.

Während meine Kommilitonen in der Studentenkneipe abhängen, leihe ich mir wie ein Nerd Bücher über Statistikerhebung aus. Mein Ziel: Schnell meine Bachelorarbeit schreiben, ein oder zwei Jahre in Vollzeit arbeiten, um das restliche Geld heranzuschaffen, und dann nichts wie weg. Manchmal, wenn mir das Licht der Schreibtischlampe abends in den Augen brennt, weiß ich, dass es ein seltsamer Mix ist, der mich treibt. Ein Kindheitstraum, katalysiert durch ein Erwachsenentrauma. Die Vorfreude, endlich das große Ding zu drehen, verbunden mit der Angst, dass vorher etwas passieren könnte, das dies unmöglich machen würde. Die Vorfreude auf den Lebenstraum – gerührt und geschüttelt mit der Angst vor dem Tod.

Überhaupt ist das mit der Angst bei mir so eine Sache. Manchmal schaue ich in meinen Kopf, betrachte die blühenden Neurosenhecken darin und beschließe, dass der Selbstzweifel mal wieder umgetopft werden muss. In ein größeres Gefäß. Das ist also die Zeit des Erwachsenseins, in der man sich so unheimlich gern Gedanken macht. Obwohl ich schon einige Male innerhalb Europas geflogen bin, kriege ich vor Flugangst schon Herzrhythmusstörungen, wenn ich am Himmel bloß einen Kondensstreifen sehe. In der Luft spüre ich jede Erschütterung und interpretiere jedes Geräusch und in meinem Geiste sehe ich Nächte vor dem Abflug einen Adler im Getriebe in Flammen aufgehen. Ohne Beruhigungsmittel geht nichts. Wenn die Kabinentür schließt, fühlt es sich an, als würde ich mit der Yellow Submarine in einen Atomkrieg ziehen. Und diese Schwimmwesten an Bord sind ja wohl ein Witz. Wer einmal eine verunglückte Arschbombe vom Fünf-Meter-Brett gemacht hat und danach drei Tage Steißbeinschmerzen hatte, weiß, dass im Falle eines Absturzes über Wasser aus 10 000 Metern Höhe nicht mehr viel Zeit bleibt, um in die bekloppte Trillerpfeife zu pusten, die die Stewardess bei der Sicherheitseinweisung so enthusiastisch in die Höhe hält. Wenn die Rollbahn endet und die Maschine durchstartet, habe ich rote Flecken im Gesicht, atme arrhythmisch und schwitze wie ein Bär. In solchen Momenten liebe ich die fürsorgliche Frage der Crew: »Müssen Sie sich übergeben?« »Nein«, möchte ich sagen, »ich habe bloß so lange Todesangst, bis dieses Monster wieder physischen Kontakt mit dem Rollfeld hat. Aber wenn Sie so fragen, wäre es mir lieber, wenn ich mich stattdessen einfach ein paar Mal übergeben könnte.«

Keine Ahnung also, warum ich unbedingt eine zehnstündige Flugreise über den Atlantik mit zusätzlichen Inlandsflügen im Verlauf der Reise machen will. Und das ist nicht das Einzige, das mein Vorhaben verkompliziert. Ich habe nämlich ein ernsthaftes Problem mit Essen. Schon als Kind war ich eine echte Landplage. Fleisch fand ich eklig, Käse hat gestunken, Oliven sahen aus wie Augäpfel, Gemüse war komplett raus, falls es nicht jemand vorher zu Tode gekocht hatte, und Obst bedeutete mehr oder weniger Apfel. Zum Glück hat sich meine Totalverweigerung mit der Zeit etwas gelegt – doch nur, wenn ich zu Hause essen kann und alles so aussieht und schmeckt, wie es schon seit zwanzig Jahren aussieht und schmeckt. Unterwegs sind fast alle Lebensmittel anders. Sie sind anders angebaut, sehen anders aus, sind anders verpackt. Von lokalen Spezialitäten und Rezepten brauchen wir gar nicht erst anfangen. Wenn ich etwas sehe, das meinem Gehirn signalisiert, dass es zu glitschig, zu grün, zu knackig, zu weich, zu hell, zu unförmig oder einfach zu anders ist, kann ich es nicht mehr essen. Mein Hunger versandet lautlos in einem stummen Gefühl von Brechreiz. Dann esse ich lieber gar nichts. Oder Salzstangen. Außerdem ist da irgendetwas, das mir das Gefühl gibt, dass fremde Teller, Messer und Gabeln kontaminiert sind. Jetzt muss ich nur noch erwähnen, dass ich sowieso immer ein bisschen aussehe wie der Suppenkasper, dann lässt sich erahnen, welche Auswirkungen allein ein Kurztrip auf mich hat. Manchmal liege ich im Urlaub nachts im Dunkeln wach und habe Bauchschmerzen vor Hunger. Ich bin das personifizierte Ur-Trauma von Evas vergiftetem Apfel.

Zum Glück müssen sich andere Menschen nicht groß mit meinem störanfälligen Geisteszustand beschäftigen. Denn zu meinen weiteren Phobien gehört, spontan mit fremden Menschen zu sprechen. Noch schlimmer ist nur, spontan mit fremden Menschen auf Englisch zu sprechen. Deshalb will ich auch unbedingt in die USA. Ich habe echt eine Meise. Sobald jemand Englisch spricht, verstehe ich nur noch Bahnhof und krächze sinnlose Antworten wie ein Blechmännchen, während mein Kopf die Farbe einer roten Paprika annimmt. Danach laufe ich in der Regel weg und verstecke mich entweder hinter einer Bushaltestelle oder einem großen Baum, wo ich für gewöhnlich erstmal in Hundekacke trete. Weil man das immer so schlecht wieder vom Schuh wegbekommt, hoffe ich einfach, dass mich unterwegs niemand anspricht oder mir am Ende noch die Gegend zeigen will. Ich möchte nämlich einfach nur friedlich und allein die Sehenswürdigkeiten und Naturwunder des Landes betrachten und nicht gleich die einheimische Bevölkerung heiraten.


Ein Tagebuch in Papierform und eine Kamera – ohne diese beiden Gegenstände gehe ich nie auf Reisen. Ich liebe es, Erinnerungen festzuhalten. Gute und schlechte, aufregende und bewegende.

»Übernachte am besten in Hostels, da lernst du sofort ganz viele Leute kennen«, schwärmen andere Reisende. Hostels. Diese Mehrbettbunker, in denen man kein Auge zubekommt, weil immer irgendwer zum Klo schleicht, quatscht, das Licht anlässt oder um drei Uhr nachts betrunken durch die Tür stolpert – Horror! Ich habe aus Preisgründen einige günstige Privatzimmer über Airbnb vorgebucht und verlasse mich ansonsten auf Motels. Hoffentlich muss ich niemals jemanden um Hilfe bitten. Ach was. Wenn ich alles manisch bis ins winzigste Detail durchplane, wird schon nichts schiefgehen. Ich verbringe Stunde um Stunde vor dem Rechner, um mich gegen alles Mögliche abzusichern, lade mir Straßenverläufe und U-Bahn-Pläne herunter, markiere jede einzelne Abzweigung der Route 66 in einer Offlinekarte und setze Lesezeichen an Supermärkte, die ich aus Deutschland kenne. Doch wenn ich den Laptop herunterfahre, dreht mein Gedankenkarussell erst richtig auf. Oft werde ich nachts wach und habe Herzrasen. Was, wenn ich mitten in der Wüste eine Panne habe? In meinem Kopf bleibt ein kleines, schwarzes Auto mit plattem Reifen schnaufend in einem Graben stehen. Kein Funksignal, kein Schatten. Ich habe noch drei Schluck Wasser und hinter dem nächsten Monolith lauert ein Berglöwe. Dann wiederum sehe ich mich in einer Geisterstadt, in der ein riesiger, schwarzer Hund auf mich zugerast kommt und mir ins Bein beißt. Und was ist mit der Kriminalität in den ganzen Großstädten? Kurz vor dem Abflug höre ich im Radio, dass Chicago eine der gefährlichsten Städte der Welt ist und jede Nacht Dutzende Menschen erschossen werden. An einem Abend besuche ich Bekannte, die öfter in den USA sind. »In Washington ist es so sicher, da kannst du im Dunkeln nackt auf der Straße tanzen«, witzeln sie. Ich habe nicht das Gefühl, dass sie mich ernst nehmen.

Eigentlich ist es unmöglich, in so einem verstrahlten Zustand auf so eine Reise zu gehen. Auf meinen bisherigen Kurztrips war immer jemand dabei. Jemand, hinter dem ich den ganzen Sperrmüll aus Angst, Unsicherheit und Chaos verstecken konnte. Dieses Mal werde ich allein sein. Mehrere Monate lang. Es ist die absolute Konfrontation mit allem. Doch ich weiß, dass ich all die Orte, von denen ich seit fast zwanzig Jahren träume, nur dann sehen und erreichen kann, wenn ich es endlich mache. Jetzt. Und trotz allem. Bevor es zu spät ist. Schon wieder. Ich weiß: Angst ist keine Ausrede.

Es ist Sommer 2016, als ich mein Visum beantrage. Im April 2017 will ich starten, denn kurz vorher läuft der Arbeitsvertrag meines zweijährigen Vollzeitjobs aus. Da die Bearbeitung des Visums bis zu acht Wochen dauern kann und ich geplant habe, früh günstige Flüge zu buchen, will ich die Einreiseerlaubnis am besten zeitnah eintüten. Nachdem ich zwecks Planung der Route heimlich am Dienstcomputer auf Google Maps herumgezoomt habe, fällt mir auf, dass die USA verdammt groß sind. Für meinen Trip von New York über Washington, D. C., die Niagarafälle, Chicago, die gesamte Route 66, Los Angeles, den Highway 1 bis San Francisco und den Rückweg durch die nördlichen Staaten mit dem Yellowstone Nationalpark errechne ich nach dem Verschleiß mehrerer Taschenrechner knapp vier Monate. Ein normales Visum, das jeder Urlauber online beantragen kann, ist aber nur für 90 Tage gültig. Also studiere ich gefühlt ein paar Millionen Jahre die katastrophale Website der amerikanischen Botschaft, um herauszufinden, dass ich ein B2-Besuchervisum brauche, das für Einreisen von bis zu 180 Tagen gültig ist. B wie bekloppt. Vermute ich jetzt einfach mal. Weil das so krass lange ist, laden sie mich direkt zum persönlichen Gespräch in die Botschaft nach Frankfurt am Main ein. Ich muss auch nur 200 Goldstücke für die benötigten Formulare abtreten, den halben Regenwald für das Ausdrucken von Anträgen und Nachweisen abholzen, ein Passfoto in einem kryptischen Format machen lassen und schon bin ich dabei.

Mein Kopf dröhnt und es ist spät, als ich in meinem Hostel in Frankfurt noch einmal schnell alle Papiere für den Termin am nächsten Morgen durchgehe. Ja, in einem Hostel. Wo nachts immer jemand zum Klo spaziert. Die einzigen Termine in der amerikanischen Botschaft in der nächsten Ewigkeit waren für sieben Uhr morgens verfügbar gewesen. Nein, ist klar. Schlafen die da nicht, oder was? Da Frankfurt rund 250 Kilometer von meinem Wohnort entfernt liegt und ich kein besonderes Bedürfnis verspürt habe, um drei Uhr morgens auf der A45 in einen Sekundenschlaf zu fallen, habe ich beschlossen, schon am Vorabend anzureisen. Und weil dieser Tagesausflug in meinem Reisebudget nicht vorgesehen war, habe ich mir erst eine billige Fernbusfahrt mit Deo sprühenden Geruchsblinden und dann ein luxuriöses Stockbett in einem Betonbunker-Hostel gegönnt. Nachdem mir meine südkoreanische Zimmergenossin auf ihrem Handy stumm 700 Fotos vom Königssee gezeigt hat, falle ich in einen äußerst unruhigen Schlaf. Ich hasse Hostels.

Nervös zerknicke ich am nächsten Morgen meine knallorangefarbene Mappe mit den wichtigen Unterlagen zwischen den feuchten Fingern. Sie ist so auffällig, dass ich das Gefühl habe, sogar die Taube über dem Eingang der Botschaft starrt mich an. Grandios. Die Schlange vor der Tür ist lang. Meine Augen brennen. Durch meinen Kopf wandern noch einmal sämtliche Horrorgeschichten, die ich im Internet über Interviews in US-Botschaften gelesen habe. Das ist ungefähr so, als würde man Kopfschmerzen googeln. Da hat man am Ende auch immer einen Tumor. Angeblich wurde mal jemandem die Einreise verweigert, weil er Sandalen getragen hat. Ich habe klobige Turnschuhe an und schwitze wie blöd. Doch ein viel größeres Problem, als meine langsam in den flüssigen Zustand übergehende Haut, ist die Tatsache, dass die USA bei Beantragung eines B2-Visums einen stichhaltigen Nachweis über die Rückkehrintentionen erwarten. Was denken die? Nur weil ich deutsch bin, will ich da nicht gleich einmarschieren! Eine Immobilie oder ein Arbeitsvertrag im Heimatland reichen aus, stand irgendwo. Sehr hilfreich. Ich bin 26 Jahre alt, habe wie verrückt für diese Reise gearbeitet und mir nicht zufällig nebenbei noch als Rücklage Schloss Neuschwanstein zugelegt. Meinen aktuellen Arbeitsvertrag habe ich nicht verlängert, weil ich diese Reise sonst gar nicht hätte machen können. Vier Monate Jahresurlaub waren nämlich leider gerade aus. Ich habe also keinen echten Nachweis über meine Rückkehrintentionen und deshalb einen Haufen von nichtssagendem Kram gesammelt, der mit viel Erklärungsaufwand eventuell ausreichend sein könnte. Das bedeutet jedoch, dass ich mit jemandem sprechen und mich eventuell aufwendig erklären muss. Für etwas, das gar nicht existiert. Ich werde so nervös, dass ich meine Unterlagen fast in kleine Schnipsel reiße. Zum Glück kann ich mir aussuchen, ob ich das Gespräch auf Englisch oder Deutsch führen möchte. Englisch – geht’s noch?

Um überhaupt in die Botschaft zu gelangen, muss jeder Antragsteller eine Art Flughafenkontrolle passieren. Alle Gegenstände aus den Taschen müssen in einer Plastiktüte deponiert werden. Alle. In meiner aufgekratzten Korrektheit packe ich auch mein benutztes Taschentuch hinein. »Das brauchen wir nicht«, sagt der Beamte und scheint sich ein Grinsen zu verbeißen. Ich packe es umständlich zurück in meine Jacke und setze auf meiner To-do-Liste einen Haken an den Punkt Sich in einer ausländischen Botschaft blamieren. Ich möchte sterben, obwohl ich noch keinen Fuß ins Gebäude gesetzt habe. Danach muss ich ungefähr fünfhundert Mal meine Fingerabdrücke abgeben. Immer wieder werde ich von Schalter A zu B zu C geschickt. Ich komme mir vor wie Asterix und Obelix auf ihrer Jagd nach Passierschein A38. Für das anschließende Interview erwarte ich ein großes Büro mit Eichenstühlen, langer Tafel, US-Flagge und der Aufgabe, die Nationalhymne rückwärts zu schmettern. Dann stelle ich fest, dass das Gespräch stehend an einem Schalter vor einer kleinen Glasscheibe stattfindet, der so modern wirkt, wie die Kassenhäuschen der Deutschen Bahn in den Neunzigern. Nur, dass hier kein Kaugummi auf dem Lautsprecher klebt.

Drei Schalter sind geöffnet. Am ersten sitzt eine herzlich wirkende Afroamerikanerin, am zweiten ein junger Typ, der aussieht wie mein Steuerberater, und am dritten ein verbitterter alter Kerl, der jeden Klienten erstmal anzuschreien scheint. Vermutlich drückt er sich nach Feierabend einen Stempel auf die Stirn auf dem Abgelehnt! steht. Als mich die Afroamerikanerin zu sich winkt, spüre ich, wie mir der Mount Everest vom Herzen bricht. Aber nur ganz kurz, denn dann baue ich Mist.

Sie schaut mich an und fragt, ob ich das Gespräch auf Englisch führen möchte. Während mein Gehirn die Konsistenz von Pudding annimmt, nicke ich dämlich und bekomme sofort Herzflimmern aufgrund meiner grenzenlosen Blödheit. Um das an dieser Stelle klarzustellen: Natürlich spreche ich Englisch. Irgendwie. In der Schule stand ich allerdings mündlich immer ganz mies, weil ich mich nie getraut habe, auch nur einen Piep zu sagen. Wenn eines sicher ist, dann dass man so nicht wirklich eine Fremdsprache lernt. Und jetzt soll ich das wichtigste Gespräch meines Lebens plötzlich auf Englisch führen. Ich komme nicht dazu, meine Aussage zu korrigieren und »Deutsch« zu stammeln, weil ich mit Atmen beschäftigt bin. Am Schalter neben mir keift der alte Kerl einen Vater mit seiner Tochter an. Meine Sachbearbeiterin prüft meinen Pass mehrfach und ich habe kurz Angst, er könnte sich vor ihren Augen einfach in Luft auflösen. Dann fragt sie, wo genau ich hinmöchte. Ich grabe mit zitternden Fingern in meiner neonfarbenen Mappe und suche die Landkarte heraus, die ich extra ausgedruckt und beschriftet habe. »No, just tell me«, erwidert sie und winkt gemütlich ab. Ich umreiße also kurz mündlich meine überdimensionale Reiseroute. »New York, Washington, D. C., Niagara Falls, Chicago, Route 66, Los Angeles, San Francisco, Yellowstone. Coast to Coast. And coast. Ähm, back.«


Da ist das Visum! Jetzt gibt es erst mal einen Freudentanz nach dem ganzen Stress. Das ist die Eintrittskarte für den großen Lebenstraum.

Sie nickt, während mir noch mehr Hitze ins Gesicht steigt. Was mache ich hier? Am liebsten würde ich weglaufen, mir in der Stadt ein Eis holen, mich hinter einem Baum verstecken, in Hundekacke treten und heimlich wieder nach Hause fahren. Doch dafür weiß ich zu genau, was ich hier mache. Das hier ist der erste Schritt zur Erfüllung meines verdammten Lebenstraums. Eisessen und in Kacke treten kann ich, wenn ich tot bin.

Dann fragt sie, mit wem ich reise – »alone« – und wer für mich zahlt – »myself«. Aufgrund meiner »enorm langen« Antworten tippt sie erst einmal einen halben Roman in ihren Computer. Sehe ich verdächtig aus wegen der Schwitzeflecken unter meinen Armen? Vermerkt sie, dass mein Kopf aussieht wie ein Kürbis, der gleich platzt? Wie viel Geld ich für die Reise eingeplant habe, will sie dann wissen. Ungefähr 13 000 Euro. Wieder grabe ich in der Mappe, um ihr meinen Finanzstatus zu zeigen, den ich mir gestern noch von der Sparkasse bescheinigen lassen habe. »No, no.« Sie lehnt sich zurück. »Just tell me!«

Ich werde noch bekloppt. »Thirteenthousand«, stammle ich. »Thirty?«, fragt sie streng zurück und ich nicke bräsig. Dreißig? Als sie wieder tippt, habe ich das Gefühl, dass gerade irgendetwas außer Kontrolle geraten ist. Auf einmal hat sie keine weiteren Fragen mehr. Sie hackt weiter auf ihre Tastatur ein, verstaut meinen Reisepass hinter sich in einer Ablage und sagt dann: »Your visa has been applied.« Ich frage, ob ich noch etwas tun muss, und sie schüttelt den Kopf.

Ich bin wieder draußen. Ohne Pass und ohne irgendeine Ahnung, was applied heißt. Mein Gehirn tanzt Polka, während ich zum Bus laufe. Mein Shirt klebt an mir wie ein Taucheranzug und ich muss aufs Klo. Ich kann das alles entscheidende Wort über eine halbe Stunde lang nicht nachschlagen, weil mein Handy in meinem Betonbunker-Hostel liegt. Das darf man nämlich nicht mit in die Botschaft bringen. Ich bin kurz davor, wildfremde Menschen auf der Straße anzuschreien und ihnen das Smartphone zu klauen. Aber dann fällt mir wieder ein, dass ich keine wildfremden Menschen ansprechen kann. In meinem Zimmer stürze ich mich sofort auf ein Online-Wörterbuch. Beauftragt. Mein Visum wurde beauftragt. Ich donnere auf der Stelle mit dem Bus zurück in die Innenstadt und kaufe mir ein monströses Sandwich und ein Kilo Eis. Nur wenige Tage später liegt mein Reisepass im Briefkasten. Darin das B2-Visum für einen sechsmonatigen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten von Amerika. Ich schmeiße den Pass in die Luft und möchte schreien, weil ich so glücklich bin – und weil ich es irgendwie geschafft habe, mir dieses Papier zu beschaffen, obwohl mein Gehirn in der Botschaft eine astreine Telekom-Störung hatte.

Ein paar Wochen bevor mein Arbeitsvertrag ausläuft, kommt meine Chefin zu mir. Sie schließt die Tür und setzt sich. Das macht sie sonst nie. Ich hoffe, dass ich nicht aus Versehen den Kopierer in Brand gesetzt habe oder jemand herausgefunden hat, dass ich auf dem Dienstcomputer USA-Karten gebastelt habe. »Frau Bauer, ich habe da ein Angebot für Sie«, sagt sie. Es ist eines dieser Angebote, bei denen man nicht Nein sagen kann. Eine unbefristete Stelle im öffentlichen Dienst mit glänzendem Gehalt und eigenem Büro. »Dann können sie natürlich nicht nach Amerika. Der Job würde gleich jetzt beginnen«, sagt sie.

Ich schaue sie an. Nur ganz kurz. Dann sage ich: »Nein.« Sie ist irritiert. Wie jetzt – nein? Nein. Weil ich seit der Erfindung der Keilschrift darauf hinarbeite, diesen Traum zu leben. Weil ich ein Visum habe, gebuchte Flüge und Unterkünfte. Und weil es eine Mission ist. Meine Oma und mein siebenjähriges Ich grinsen. Meine Chefin nicht. Sie denkt, ich hätte irgendetwas zwischen akuter Arroganz und Größenwahn. Doch ich weiß, dass es jetzt wichtiger ist, meinen Lebenstraum zu leben, als unbefristet irgendwo zu vergammeln wie diese Brote in Büro-Kühlschränken, die immer keiner mitgebracht haben will, sobald sie blau anlaufen. Ich darf es nicht vermasseln, bevor ich selbst irgendwo blau angelaufen rumliege.

Angst ist keine Ausrede

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