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3. KAPITEL

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Der Sheriff nahm Abigails Aussage auf, mehr konnte oder wollte er nicht für uns tun. »Ich habe in der Dunkelheit niemanden erkannt«, log ich auch ihn an. Ich wollte Rin nicht in Schwierigkeiten bringen, zumal er behauptet hatte, es nicht gewesen zu sein. Und ich glaubte ihm.

Wahrscheinlich würde ohnehin die Versicherung greifen, so dass meine Tante zumindest nicht selbst für die Reparaturkosten aufkommen musste. Nachdem Sheriff Hunter den Tatort untersucht und unsere Aussagen aufgenommen hatte, genehmigte er sich einen Schinkenbagel und eine Tasse Milchkaffee.

»In letzter Zeit häufen sich solche Vorfälle«, erklärte er und biss herzhaft in den Bagel. Ein paar Krümel blieben in seinem Schnauzbart hängen.

»Warum tun die Leute nur so etwas?« Meine Tante konnte das beim besten Willen nicht verstehen.

Der Sheriff zuckte mit den Schultern. »Das ist ein Problem unserer Zeit. Die Jugend hat zu viel Freizeit, zu viel Langeweile. Da kommt man schnell auf dumme Gedanken. Ich habe selbst so einen Teenager zu Hause. Aber glauben Sie mir, mit der richtigen Erziehung bekommt man solche Jungs in den Griff. Alles eine Frage der Autorität«, war Hunter überzeugt und strich dabei über seinen Sheriffstern.

Als Roger wenige Minuten später vorbeikam und das zertrümmerte Fenster sah, regte er sich mächtig auf. Seine Wut galt vor allem dem Sheriff, weil der seiner Ansicht nach nicht genug unternahm, um die Täter zu fassen. Mehr als die Aussage meiner Tante aufzunehmen würde er nicht tun, behauptete Roger vehement.

»Keine Sorge, guter Mann, ich kümmere mich um den Fall«, versicherte Hunter.

»Wer’s glaubt ...«

Hunter nahm Rogers Einwände nicht weiter ernst und verabschiedete sich, stopfte den letzten Bissen seines Bagels in den Mund und verließ das Café. Er stieg in seinen Dienstwagen und brauste davon.

»Das ist ein Unding«, beschwerte sich Roger.

»Reg dich nicht auf, denk an dein Herz«, beruhigte Abigail ihn und schenkte ihm Zitronentee ein.

»Ist doch wahr. Was hat der je für unsere Gemeinde getan? Und so einer will Sheriff sein.«

»Er tut, was er kann.«

»Aber das ist offenbar nicht genug.«

»Was soll er denn machen, Roger? Wir haben nun mal niemanden erkennen können.«

Der Einzige, der Licht ins Dunkel bringen konnte, war Rin. Er musste den oder die Täter gesehen haben.

Ich suchte nach Müllschippe und Handfeger und machte mich daran, die Scherben zu beseitigen. Die Sache mit dem Fenster war schnell geregelt. Bereits am Nachmittag wurde eine neue Scheibe eingesetzt.

Ich half meiner Tante im Café, machte jedoch am späten Nachmittag Feierabend, weil Ira ihre Freunde und mich zu einem DVD-Abend zu sich nach Hause eingeladen hatte. Ich war sehr gespannt auf Pway und Linda, bekam aber auch ein schlechtes Gewissen, meine Tante mit der Arbeit allein zu lassen. Doch Abigail versicherte mir mehrmals, dass sie allein zurechtkäme und ich mir einen tollen Abend machen sollte.

Die McLaines wohnten in einem wunderschönen Häuschen, das aus einem amerikanischen Familienfilm hätte stammen können. Überall wuchsen herrlich bunte Blumen, im Vorgarten, in den Fensterkästen, auf den kleinen Beeten vor der Haustür. Rosafarbene Vorhänge zierten die weiß gerahmten blitzblanken Fenster. Es war ein Puppenhaus. Einzig der Schädel eines Büffels, der über der Haustür hing, passte zu dem Westernstil, der in dieser Gegend typisch war.

Ich klingelte, und Ira öffnete mir. »Schön, dass du es einrichten konntest! Komm rein. Ich möchte dir meine Familie vorstellen.«

Mrs McLaine sah genauso aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Eine perfekte Hausfrau und Mutter, die zugleich Schürze und Make-up trug.

»Willkommen in Pennington County«, begrüßte sie mich und schüttelte mir überschwänglich die Hand.

Mr McLaine arbeitete für das Rapid City News Journal und hatte ein eigenes Büro im Haus. Er winkte mir nur kurz durch die Tür zu.

»Eigentlich wollte ich mir eine Studentenbude in Rapid City nehmen, aber das klappt finanziell nicht«, erklärte Ira und stieg die Treppe nach oben. Ich folgte ihr.

»Du studierst?«

»Ja, Geschichte und Literatur.«

Nach meinem sozialen Jahr hatte ich eigentlich auch vor zu studieren, ich hatte mich allerdings noch für kein Studienfach entschieden. »Wollt ihr ein paar Kekse?«, rief uns Mrs McLaine hinterher. »Nein danke, Mom. Wir haben noch genug in meinem Zimmer.« »Alles klar. Dann viel Spaß!«

»Danke, Mom.« Und an mich gewandt, meinte sie: »Die anderen sind übrigens schon da.«

Ira stellte mir Pway, der ohne die Ölflecken im Gesicht ganz nett aussah, und Linda, eine natürliche Schönheit mit irischen Vorfahren, vor. Außerdem war da noch Jack, ein Freund von Pway, der, wie ich erfuhr, ursprünglich aus Jamaika stammte und gleich mehrere Tüten Erdnussflips mitgebracht hatte. Wir guckten »American Beauty«, und anschließend erzählte ich ihnen von meinem Leben in Berlin.

»Wie haben sich deine Eltern eigentlich kennengelernt?«, wollte Jack wissen.

»Auf dem deutsch-amerikanischen Volksfest. Mom hat Zuckerwatte verkauft, und Dad war in Zivil unterwegs. Er hat sich auf den ersten Blick in ihr strahlendes Lächeln verliebt und sie dann jeden Tag an ihrem Stand besucht. So lange, bis er sie so weit hatte, dass sie mit ihm Achterbahn fuhr. Mom hatte schreckliche Angst vor den Karussells und ganz besonders vor der Achterbahn. Dass sie dann schließlich doch ja gesagt hat, sprach lediglich für Dads Charme. Dad wusste nicht nur, wie er jemanden überzeugen konnte, er war auch ein schlauer Fuchs. Die ganze Fahrt über hat sich Mom an ihm festgekrallt, bis sie ihn schließlich gar nicht mehr loslassen wollte.«

»Eine süße Geschichte. Und wie heißt es so schön, Gegensätze ziehen sich an.«

Als Ira das sagte, musste ich unwillkürlich an Rin denken. Gab es einen größeren Gegensatz als ihn und mich, das Stadtmädchen? Ich konnte das Sprichwort nur bestätigen. Nie zuvor hatte ich mich so stark zu jemandem hingezogen gefühlt. Und das, obwohl ich ihn kaum kannte. Vielleicht lag es an seiner geheimnisvollen Andersartigkeit? Ich wusste nicht genau, was es war, doch ich hatte es vom ersten Moment an gespürt.

»Das finde ich auch«, meinte Linda leise, die ein sehr ruhiges Mädchen war. Ihre Haare schimmerten rotblond. Ich erfuhr, dass es ihre Naturfarbe war, um die ich sie ehrlich beneidete.

Pway hätte ich älter geschätzt. Das lag an seiner Stimme. Sie klang sehr ruhig, ausgeglichen und deutlich tiefer als die von Jack. Er arbeitete in der Autowerkstatt seines Vaters und hatte sich erst kürzlich von seiner Freundin aus Rapid City getrennt. In der Gegend um Calmwood und in den Black Hills kannte er sich wie kein Zweiter aus.

»Wenn du magst, zeige ich dir ein paar schöne Flecken«, versprach er. »Oder wir gehen alle zusammen campen. Der Wald ist in dieser Jahreszeit unvergleichlich. Bevor du abreist, solltest du unbedingt in die Black Hills fahren. Das ist ein Muss.«

»Pway hat recht, Jorani. Die Natur hier ist einzigartig«, ermunterte mich Ira.

»Und wann wollt ihr das machen?«

Pway zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. An einem Wochenende vielleicht?«

Damit waren alle einverstanden. Ich auch. Denn ich wollte wirklich gern mehr von South Dakota sehen, und wegen Gladice’ Unfall würde meine Tante nicht viel Zeit für eine Sightseeing-Tour haben.

Gegen 23 Uhr machte ich mich auf den Heimweg. Linda und Jack begleiteten mich ein Stückchen, aber dann mussten sie in eine andere Richtung. Pway war schon etwas früher aufgebrochen, so dass ich nun allein war.

Friedlich, ja geradezu totenstill lag die von Bäumen gesäumte Straße vor mir. Calmwood hatte bei Nacht einen ganz besonderen, eigenen Charme. Es war in seiner ländlichen Atmosphäre beschaulich und anheimelnd. Ich ging an liebevoll gepflegten Vorgärten vorbei, in denen Briefkästen mit hoch-und runterklappbaren Fähnchen standen, wie man es aus Filmen kannte. In einigen Häusern brannte noch Licht, in anderen war es bereits dunkel, weil die Bewohner schon schliefen. In der Ferne hörte ich das einsame Bellen eines Hundes.

Es stimmte, was man sagte. In ländlichen Gegenden war man den Sternen näher als in der Großstadt. Ein Meer aus funkelnden und glitzernden Diamanten erstreckte sich über mir. Ich blieb stehen, um den Anblick zu genießen, als ich das Rascheln von Laub hinter mir hörte. Erschrocken drehte ich mich um, aber niemand war zu sehen. Die Straße war menschenleer. Wahrscheinlich war es nur ein Tier gewesen, das sich in die Stadt verirrt hatte. Dennoch beschloss ich, mich zu beeilen. Die Vorfälle der letzten Tage, die eingeworfene Fensterscheibe und der getötete Hund spukten mir noch immer im Kopf herum. Offenbar steckte diese Jugendbande hinter allem, und ich hatte keine Lust, ihnen allein auf offener Straße zu begegnen.

Ich bog in eine Seitenstraße, in der Hoffnung, eine Abkürzung gefunden zu haben, als plötzlich jemand hinter mir auftauchte und mich am Arm festhielt.

»Warte bitte.«

Ich blieb wie angewurzelt stehen, hielt vor Schreck den Atem an. Das Herz schlug mir bis zum Halse. Aber dann riss ich mich los, wollte wegrennen.

»Keine Angst, ich bin es«, flüsterte der Fremde. Diese Worte ließen mich innehalten. Langsam drehte ich mich um und blickte in ein schmales Gesicht mit ausgeprägten Wangenknochen und einem kantigen Kiefer. »Hab ich dich erschreckt?«

»Rin!« Ich war unendlich erleichtert, ihn zu sehen, und wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen.

»Entschuldige, ich wollte dir keine Angst machen.«

»Du kannst schleichen wie eine Katze, weißt du das? Aber was machst du denn hier?« Der Schrei einer Krähe hallte durch die Nacht und ließ mich zusammenzucken. In der Krone einer riesigen Eiche hockten sieben, acht, vielleicht sogar zehn Krähen. Ich erkannte im Dunklen nur ihre Umrisse. Ihre Köpfe waren nach vorn gereckt, so, als starrten sie auf uns herab. Sie erinnerten an Raubvögel, die auf Beute hofften. Oder auf Aas. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in meinem Magen aus.

»Ich habe dich gesucht.«

Rin folgte meinem Blick zu den schwarzen Vögeln, die auf den Ästen saßen.

»Vor den G’takalag brauchst du dich nicht zu fürchten. Man sagt, sie seien im engen Kontakt mit den Zorwaya, und so wissen sie, was erst geschehen wird. Sehr kluge Tiere.«

»Ehrlich gesagt klingt das alles andere als beruhigend.« Diese Vögel waren mir unheimlich.

Rin lachte leise. »Hab keine Angst, Stadtmädchen, sie werden dir nichts tun.«

Er sagte das so überzeugend, dass ich ihm glauben musste. Immerhin kannte sich niemand so gut mit Tieren aus wie Rin.

»Was ist gestern Nacht geschehen?«, fragte ich, denn ich wollte endlich Klarheit haben.

»Du musst mir glauben, dass ich nichts damit zu tun habe. Ich habe eure Scheibe nicht eingeworfen.«

»Das weiß ich doch«, versicherte ich ihm eilig. Ich hatte von Anfang an gespürt, dass er unschuldig war. Warum hätte er meiner Tante und mir das auch antun sollen?

Rin wirkte erleichtert.

»Aber warum warst du ausgerechnet zu dem Zeitpunkt in Abigails Garten?«, wollte ich wissen.

Er atmete tief durch. »Ich war zufällig in der Nähe, als ich die Jungen sah, die über den Zaun ins Desert Spring kletterten. Ich wusste sofort, dass das nichts Gutes zu bedeuten hat. Leider kam ich zu spät, um es zu verhindern. Doch ich wollte sichergehen, dass keinem von euch etwas passiert war.«

Ich war gerührt. Also war er nur gekommen, weil er sich Sorgen um uns machte. »Hast du die Jungen erkannt?«

»Es waren die Jugendlichen aus der Gegend. Ich kenne ihre Namen nicht.«

»Dann hat meine Tante ja recht gehabt.«

Wahrscheinlich handelte es sich tatsächlich um die verspätete Rache für das Hausverbot im Desert Spring.Eine Sache wollte mir aber noch nicht in den Kopf.

»Warum bist du so schnell weggerannt? Du hättest meiner Tante doch alles erklären können.«

»Hätte sie mir auch nur ein Wort geglaubt?«

»Natürlich!« Daran gab es für mich keinen Zweifel, doch Rin sah das offenbar anders.

Eine Weile liefen wir schweigend nebeneinanderher. Ich blickte mich immer wieder nach den Krähen um, und jedes Mal waren sie direkt hinter uns, saßen in einer Baumkrone oder auf dem Dach eines Hauses.

»Ich weiß, was die Leute über mich denken. Sie halten mich für sonderbar. Und das bin ich vielleicht auch. Ich möchte keinen Ärger mit ihnen.«

Ich erinnerte mich an Iras Worte. Er galt als Sonderling, als menschenscheu. Ich fragte mich, warum er dann ausgerechnet meine Nähe duldete. »Meine Tante hat nichts gegen dich, das kannst du mir glauben«, versicherte ich ihm.

In diesem Moment setzte eine Krähe zum Sturzflug auf uns an. Ich erschrak dermaßen, dass ich sofort die Hände vors Gesicht schlug, um den heftigen Flügelschlag abzuwehren.

»Alles ist gut«, beruhigte mich Rin.

Vorsichtig nahm ich die Hände wieder herunter. Rin holte ein Stück Brot aus seiner Hosentasche, brach ein Stückchen ab und reichte es der Krähe, die auf seiner Schulter Platz genommen hatte.

»Das ist unglaublich.« Ich hatte noch nie eine zahme Krähe gesehen. »Wie machst du das nur, sie scheint dir völlig zu vertrauen.«

Er gab ihr einen weiteren Brocken, den sie mit der Klaue nahm und dann zum Schnabel führte, um daran zu knabbern. Eine zweite Krähe setzte sich, davon ermutigt, auf Rins andere Schulter. Auch sie bekam einen Leckerbissen.

»Als ich ein kleiner Junge war und meinem Bruder sein Totem, der Bär, erschien, wollte ich auch ein Totem besitzen. Eines, das größer und mächtiger war als der Bär. Aber Vater sagte, dass nicht ich es bestimmen könne, sondern dass es mich erwählen und sich mir zu erkennen geben würde, wenn die Zeit dafür reif sei.

Die Männer und Frauen meines Stammes haben eine alte Tradition. Sie gehen nach Hokatriri, dem Land der Steine, das ihr Badlands nennt. Dort fasten sie und bitten die Zorwaya um ein Zeichen. Wenn sie gnädig sind, senden sie ihnen ihr Totem in einem Traum.

Viele Krieger hoffen auf ein Totem wie den Bären, das Pferd oder den Adler. Wir glauben, dass ihre Fähigkeiten auf uns übergehen. Doch jeder bekommt nur das Totem, das seinem Selbst entspricht.«

Rins Stimme war tief und rau geworden, während er das erzählte. Ich bekam eine Gänsehaut, weil sie plötzlich fern, beinahe geisterhaft klang.

»Es sind die Krähen, nicht wahr? Sie sind dein Totem.«

Er nickte. »Als ich alt genug war, ging ich nach Hokatriri, wie es schon meine Vorfahren und mein Bruder getan hatten, setzte mich auf einen Felsvorsprung und wartete, bis mir das Zeichen geschickt würde. Die Sonne brannte heiß. Ich hielt es in meiner Kleidung nicht länger aus, streifte sie ab und streckte mich auf dem Stein aus. Normalerweise dauert es drei Tage und Nächte, manchmal sogar länger, ehe die Zorwaya die jungen Krieger erhörten. Doch zu mir waren sie gnädig. Eine Krähe erschien mir und setzte sich auf meine Brust. Sie sah so echt aus, dass ich glaubte, ihr Gefieder berühren zu können. Ich blieb liegen und spürte, wie ihre Kraft durch mich floss, wie sie und ich miteinander verschmolzen. Es war ein erhabenes Gefühl. Seit diesem Tag folgen sie mir.«

»Welche Fähigkeiten hat die Krähe?«

»Die Krähe ist das Totem des Cha-Bekum. Ihr würdet ihn Schamane nennen. Seine Fähigkeit ist die Spiritualität.« Er musterte mich sehr eindringlich und wartete auf eine Reaktion. Aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

»Für dich klingt das wie ein Märchen. Hab ich recht, Stadtmädchen?«

»Nein, eigentlich nicht.« Vielleicht hätte es so klingen müssen, das wäre zumindest vernünftig gewesen, aber ich war fasziniert von Rins Geschichte und seinem Wissen über die Geister. Ich wollte mehr über ihn und seine Welt erfahren.

»Du bist also ein Schamane?«

»Noch nicht. Ein langer Weg liegt vor mir. Manche sagen, es dauert ein Leben lang, um die Weisheit von zehn Kreisläufen zu erlangen. Ein Schamane aber braucht die Weisheit von hundert Kreisläufen.«

»Das klingt, als sei es unerfüllbar.«

»Es ist eine Lebensaufgabe. Aber nun weißt du, was es mit den Krähen auf sich hat. Sie tun mir nichts, und auch dir werden sie kein Haar krümmen.« Er warf das letzte Stückchen Brot in die Luft. Sofort breitete eine Krähe ihre Flügel aus und schoss hinterher, um es aufzufangen, bevor es zu Boden fiel.

»Welchem Stamm gehörst du an?«

»Wir nennen uns Ti’tibrin E’neya. In eurer Sprache heißt es Kinder der E’neya, der Gründerin und Urmutter unseres Stammes, welche die Männer und Frauen zu einer Sippe einte und uns den Weg der Natur lehrte.«

»Von diesem Stamm habe ich noch nie gehört.«

»Es gibt über fünfhundert anerkannte Stämme in den USA. Wie sollte ein Großstadtmädchen wie du sie alle kennen?«

»Haha. Ich wünschte, du würdest aufhören, mich so zu nennen.« Es kränkte mich ein bisschen. Er musste glauben, dass ich von nichts eine Ahnung hatte, was sich außerhalb von Berlin befand.

»Ich meine es nicht böse. Das weißt du hoffentlich?« Er legte sacht den Arm um meine Schultern und zog mich an sich. So dicht, dass mir der Duft von Wald und Wiese in die Nase stieg. Ich inhalierte dieses wilde Aroma, das meine Sinne vernebelte.

»Ja, ich weiß.«

Es war aufregend, ihm so nahe sein zu dürfen. Ich fing an zu schwitzen. Ausgerechnet jetzt. Rasch wischte ich meine klebrigen Hände an meiner Hose ab. In dem Moment ließ er mich los und ging vorneweg. Ich war enttäuscht, hatte ich doch gerade angefangen, seine Nähe zu genießen. Seine Bewegungen waren sehr anmutig und leichtfüßig, doch zugleich strotzten sie vor Stärke. Er besaß eine natürliche Eleganz, die ich nie zuvor bei einem anderen Menschen wahrgenommen hatte. Die schulterlangen Haare wippten im Rhythmus seiner Schritte, gleich der wilden Mähne eines Mustangs, der durch die Prärie galoppierte.

»Danke fürs Heimbringen«, sagte ich, als wir vor dem Desert Spring stehen blieben. »Hoffentlich hast du jetzt keinen allzu langen Heimweg vor dir?« Ich hoffte herauszufinden, wo er lebte. Dann könnte ich zufällige Begegnungen inszenieren.

Er nickte mit dem Kopf nach Norden. »Ein Stückchen von hier ist es schon. Aber das stört mich nicht. Ich lebe hinter der Stadtgrenze.«

»Auf einer Farm?« Ich hatte diese fixe Idee, Rin könne als Farmerjunge angestellt sein. Sein kariertes Hemd und die Jeanslatzhose erweckten diesen Eindruck. Er schüttelte amüsiert den Kopf.

»Aber was ist denn dort draußen? Noch eine Stadt?«

Von der hätte ich sicherlich inzwischen gehört. Andererseits gab es im Pennington County viele kleine Orte, die nur mit etwas Glück auf einer Landkarte zu finden waren.

»Ich lebe dort, wo die Wälder beginnen.« »Das muss sehr einsam sein.« »Ich mag es, wie es ist.«

Ich ließ das Gartentor hin- und herschwingen, doch als Rin mich plötzlich auf unsagbar sanfte Weise ansah, hielt ich abrupt inne. Seine Augen waren wie zwei große schwarze Löcher, in die man sehr schnell hineingesogen wurde, wenn man sich nicht in Acht nahm. Ich jedenfalls konnte nun, da ich zu lange hineingeschaut hatte, nicht mehr wegsehen.

Sein Blick wanderte tiefer und blieb an meinen Lippen hängen. Ein aufregendes Kribbeln breitete sich in meinem ganzen Körper aus.

»Das war ein schöner Abend«, sagte er.

»Ja, das war er.« Ich wünschte nur, er würde jetzt nicht zu Ende sein. »Kommst du auch zur Cluberöffnung?«, fragte ich in der Hoffnung, ihn dort wiederzusehen. »Cluberöffnung?«

»Der Cobra Club in Rapid City. Das soll schon jetzt ein angesagter Laden sein«, erklärte ich und berief mich dabei auf Iras Aussagen. »Der mit der großen Kobra über dem Eingang.«

Rin wiegte nachdenklich den Kopf. »Ich glaube nicht, dass das etwas für mich ist.«

»Schade.« Das hätte ich mir eigentlich denken können. »Gute Nacht, Jorani.« Er kam näher.

Ich spürte seinen Atem auf meinen Lippen und glaubte, nein, hoffte, er würde mich küssen. Mein Verlangen nach einem Kuss war so groß, dass ich mich sogar unbewusst auf die Zehenspitzen stellte, nur um seinen Lippen näher zu sein. Ich sog seinen Atem ein, spürte, wie mein Herz immer heftiger schlug, bis mir schwindelig wurde. Aber das konnte ich geschickt überspielen, indem ich mich leicht gegen den Zaun lehnte. Rins Duft vernebelte mir die Sinne. Erneut roch ich Gras, Weide, sogar Pferd, wahrscheinlich haftete etwas von Larkis Geruch an ihm.

»Bis bald«, sagte er leise. Fast berührten sich unsere Münder. Unmerklich spitzte ich die Lippen. Eine solche Sehnsucht hatte ich nie verspürt. Sie brannte unerträglich in meiner Brust.

Er machte einen Schritt nach hinten, und die Magie war fort. Plötzlich fühlte sich mein Kopf wieder klar an, als hätte ich zuvor unter einem Bann gestanden, der nun gebrochen war.

»Gute Nacht, Rin«, hauchte ich.

Er hob die Hand, dann wandte er sich ab.

Nur einen winzigen Moment schaute ich betreten, auch ein wenig enttäuscht, dass es mit dem Kuss nicht geklappt hatte, zu Boden, und als ich wieder aufsah, war er in der Dunkelheit verschwunden. Schwarze Vögel erhoben sich in die Luft und verschmolzen mit der Dunkelheit. Sie folgten ihm, da war ich mir sicher. Der Gedanke ließ mich frösteln.

Schattenreiter

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