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One Silver Dollar

Martha war ein schweigsamer Mensch, vielleicht weil sie Schauspielerin der Kategorie Statistin bei Metro-Goldwyn-Mayer gewesen war. Aber sie mochte Geräusche und saß viele Jahre gerne im Garten unter dem alten großen Baum, unter dem man Clark Gable vermisst. Das geschah immer spätnachmittags, Martha trug ein rosa Nachthemd mit Puderflecken oben an den Schulternähten und lauschte dem Geschrei eines Mockingbird, der Sägen und Polizeisirenen imitierte. Manchmal trank sie etwas kalten Kaffee und aß ein hartes Ei. Dann aber hörte sie auf, in den Garten zu kommen, nachdem sie auch aufgehört hatte, Statistin zu sein. Kurz darauf kam ihr Mann Arthur nicht mehr, doch seine Kreditkarte ließ er ihr da, und die zwei Töchter blieben ebenfalls, Adelaide und Katherine, die auch Statistinnen waren, nur bei 20th Century Fox, und Adelaides Sohn Robert, mein bester Freund.

Als Martha also aufhörte, Schauspielerin zu sein – warum, war nie ganz klar, manche sagten, sie hätte den Aufstieg von der Statistin zur Nebenrolle ohnehin nie geschafft, andere, sie sei dick geworden, wieder andere, ihre Nasolabialfalte sei zu tief –, wurde das flamingofarbene Haus draußen und drinnen noch stiller, als es ohnehin schon war. Das ist viele Jahre her und in dem Haus gleich neben dem heute gelblich angelaufenen von Martha sind der Onkel und die Tante tot, nur die alte Eva und ich leben noch hier, auf dem Beverly Drive, fast unten an der Ecke zum Santa Monica Boulevard, der früher sandiger war, mit mehr Bäumen, nicht nur Palmen. Manchmal, insbesondere im Sommer, hört man die Stimme der greisen Eva durch eines der zum Garten geöffneten Fenster. Eva emigrierte einst aus Berlin nach Tel Aviv, kurz bevor Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, und kam dann hierher nach Beverly Hills, weil ihr Sohn (mein Onkel) bei Hughes Aircraft Nachtsichtgeräte für Kampfflugzeuge entwickelte. Martha und Eva haben früher viel über die toten oder gegangenen Ehemänner und über Hollywood geredet. Nun ist Martha selber tot und Eva ist hundert Jahre alt geworden und spricht kein Englisch mehr, nur noch Deutsch, das keiner versteht, insbesondere nicht die mexikanischen Pflegerinnen.

»Ich möchte Würstchen.«

»No entiendo, Miss Eva, what do you want?«

»Meine Beine, ich kann sie nicht … Autsch!«

»But you have to turn to the other side so I can wipe you.«

Nachts weht ihre Stimme den Gartenweg entlang (»Ich komme nach Hause, bald schon, hörst du, bald komme ich nach Hause«), unentwegt, bis in den frühen Morgen hinein, und dann schläft sie, wie einst Martha, den ganzen Tag.

Nachdem Martha aufgehört hatte, Schauspielerin zu sein, war sie nur noch nachts wach und schlief tagsüber. Uns Nachbarskinder lud Robert nach der Schule zum Spielen ein und das stille und vernachlässigte Haus, in dem Frauen in Filmkleidern lebten und die alte dicke Martha im oberen Stockwerk herumschrappte, war uns Wunderort. Drinnen roch es auch im Winter nach Sonnenmilch, im Sommer kam durch die orangen Vorhänge Hitze ins Halbdunkel herein und das Schillern von dicken Blättern, Agaven, Mittagsblumen. Ansonsten war das Haus vollgestopft mit Plunder und an den Wänden hingen keine Bilder, stattdessen stapelten sich Zeitungen bis fast unter die Decke. Aus Angst, Martha aufzuwecken, spielten wir leise, aßen Ritz Cracker und tranken Limonade. Meist stellten wir in Bettlaken gewickelt und der Praktikabilität halber, denn wir brauchten dafür keine lauten Worte, Szenen aus Kunstwerken nach, die wir uns in einem alten Bildband aussuchten: da Vincis Das Abendmahl, im Garten unter dem alten Baum Lepages Jeanne d’Arc oder etwas Kühneres von Caravaggio.

Der wichtige Teil des Tages begann, wenn Adelaide und Katherine vom Set kamen, müde und mit Schminke im Gesicht, und Martha oben schwer aus dem Bett aufstand, sodass unten die Zeitungsmauern raschelten. Meist war es dann schon sechs Uhr und ab da verlief alles monochrom und anziehend wie ein antikes Bildwerk oder der Nachspann eines Films, den nur noch ein paar Auserwählte sehen. Oben hustete Martha ihre Kehle frei und murmelte etwas gut Durchdachtes, Feindseliges, unten saßen Adelaide und Katherine am Küchentisch und tranken Mandellikör und Robert und ich machten Hausaufgaben, denn nebenan, bei mir zu Hause, blieb der Onkel bis in die Nacht hinein auf Hughes Airport, die Tante trank im Beverly Hills Hotel und Eva lag schlaff im Stuhl und ließ sich von einer der fünf Pflegerinnen, die sie alle Marina nannte, mit Obst füttern. Wir anderen waren also schon vom Tag erschöpft, von Schule und Arbeit und Frühaufstehen, wenn Martha im rosa Nachthemd und umwolkt von einem Geruch nach Seife und Schweiß im Türrahmen verkündete: »So, nun machen wir was Schönes, wir gehen aus.« Und wenn sie das gesagt hatte und wir pflichtbewusst den Rücken streckten, drehte sie sich um und ging wieder nach oben, um sich »rasch fertig zu machen«, was mindestens eine Stunde dauerte. Dann kam sie herunter im schwarzen Wollkleid, das rote Haar zur Wasserwelle frisiert, und es ging los im alten Cadillac mit den Segeln hinten am Heck. Wir vier saßen plaudernd auf der Rückbank, Martha stumm auf der Vorderbank. Sie fuhr immer an denselben Ort, zum Bullock’s-Kaufhaus auf dem Wilshire Boulevard, und wir traten gleichzeitig mit der Ansage »The store will be closing in fifteen minutes« ein. Drinnen war es leer und Martha sagte: »Jetzt kaufe ich was Schönes, Kinder, sucht euch auch was aus.« Sie sah glücklich aus. Doch wir schafften es nie weiter als bis zu den Abteilungen für Kosmetik und Küchenzubehör. Keiner fand etwas Gescheites außer Martha, die hier und da in Auslagen wühlte und einen Toaster kaufte oder einen Mixer, immer dieselben Modelle. Wenn wir dann hoch in den ersten Stock zu den Kleidern und zum Spielzeug wollten, wurden wir gebeten zu gehen; wir waren die letzten Kunden, hinter uns schloss der Nachtwächter kopfschüttelnd die Türen. »So, und jetzt gehen wir essen«, sagte Martha und wir tapsten brav hinter ihr her in ihr Lieblingslokal, einen billigen Diner auf dem Sunset Strip mit großen roten Kunstledersofas, auf denen im Sommer die nackten Beine kleben blieben. Wir durften bestellen, was wir wollten, und das taten wir auch. Martha aß Reuben Sandwich mit Krautsalat und plauderte vom Film. Wenn wir nach Hause kamen, stellte sie den Toaster oder Mixer unausgepackt in das Garagenregal, das voller Toaster und Mixer war. Alle gingen erleichtert ins Bett, nur Martha blieb bis morgens um fünf wach, schrappte und schwankte im Haus herum, ordnete beiläufig aus ihren Stapeln herausgerutschte Zeitungen, murmelte und schimpfte (»I don’t give a flying fuck whether he …«). Manchmal kam sie zu Adelaide oder Katherine ins Zimmer und rüttelte sie am Arm, sodass sie aus dem Schlaf hochschreckten.

Martha bezahlte unsere Abende auswärts mit Arthurs Kreditkarte. Wir begriffen nicht, warum sie unausgepackte Dinge in der Garage stapelte und immer mehr davon kaufte. Irgendwann drängte ich Robert und er fragte Adelaide, die sagte, weil er, Arthur, Martha nie ein einziges Geschenk gemacht habe, nicht zum Geburtstag, zu keinem Hochzeitstag, zu keiner Chanukka.

Das war alles. Manchmal, vielleicht einmal im Monat, kam Arthur zum Abendessen. Er wohnte unweit, arbeitete beim Film, ich glaube, in der Rechtsabteilung von Goldwyn-Mayer, und hatte eine Sekretärin, die Maggie hieß, hübsch war und während der Besuche bei Martha auf der Straße vorne im Wagen saß und sich die Nägel machte. Arthur wartete auf dem Sofa, bis Martha wach war, meist hatte er Essen mitgebracht. Wir alle zogen uns zurück, sobald sie aufstand, warum, ist mir bis heute unklar. Einmal jedoch gingen Robert und ich nicht nach oben, wie Adelaide es uns aufgetragen hatte, sondern schlichen aus dem Haus und in den Garten, um durch das Fenster ins Wohnzimmer hineinzuspähen, wo Martha auf Arthur treffen würde. Wir standen auf Zehenspitzen ganz still unter dem Avocadobaum und dickes, scharfes Gras pikste unsere Fußsohlen.

Lange mussten wir nicht warten, dann kam sie herunter. »Hello, Arthur«, sagte sie.

»Hello, Martha«, antwortete er.

Und dann saßen sie sich an den beiden Enden des langen Esszimmertisches gegenüber und sagten nichts mehr. Arthur schaute Martha an, leicht vorgelehnt, gerade, die Hände im Schoß gefaltet. Und Martha schaute Arthur beinahe an. Es schien uns, als streife sie ihn leicht mit ihrem Blick, und vielleicht wollte sie ihn ja anschauen, sein feines Gesicht, in dem sich nie viel regte, den unregelmäßigen Mund. Doch er war weit weg von ihr, für immer, schaute über den Tisch, auf dem etwas Fischsalat stand und Brot und saure Gurken, wie aus einem Stahlturm zu ihr hinüber, erleichtert, fern und traurig. Heute stelle ich mir vor, dass er nachts aus immer demselben Traum aufwachte, in dem Martha, jünger, schön und von Scheinwerfern beschienen mit trockener Stimme aus Erdbeeratem »One Silver Dollar« sang.

Damenbart

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