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Calimesa

Sie klackte ärgerlich mit der Gabel gegen das Glas und ein Tropfen Wermut spritzte auf das weiße Tischtuch aus Leinen. Sie war eine moderne Frau. Es war das Jahr 2019 in Palm Springs und MeToo hatte die Frauen kategorisch zu Siegerinnen erklärt. Aber immer schön langsam. Sie, Maryweather, war einmal katholisch erzogen worden, also musste sie sich in Geduld üben. Demütig ihrer Erlösung harren. Sie fand, dass es ihr ganz gut gelang, dass sie wirklich extra geduldig war mit der Bedienung, einer jungen, schlanken Frau, die ein paar Mitesser auf der Nase, ansonsten aber ganz schöne Haut hatte. Sicher war sie neu in ihrem Job. Sie war tollpatschig und stieß im Vorbeigehen mit der Hüfte gegen die cremefarbenen Stuhllehnen, servierte nicht von rechts, wie es im Melvyn’s üblich war, sondern schräg über den Kopf hinweg.

Heute hatte Maryweather sich einen Tisch draußen ausgesucht und der heiße Wüstenwind wehte über die Terrasse. Etwas, das aussah wie ein Ascheflöckchen, landete auf ihrem hellen Ärmel. Sie saß seit gefühlten Stunden da und starrte auf die Seiten vor ihr, den Vortrag, es ging um Männer, genauer: um Männerhände, die neue Freiheit – das alles musste fertig werden und nun kam die gottverdammte Bedienung nicht mit dem Fisch. Schließlich trollte sie heran und pfefferte den Teller wortlos vor Maryweather. Am Tellerrand klebte ein Kuchenkrümel.

»Sie, entschuldigen Sie mal!« Die Kellnerin drehte sich langsam um. »Was ist das hier bitte?«

Die junge Frau schaute lange und hohl auf den Teller. »Na, der Fisch.«

»Und was ist das hier?« Maryweather zeigte auf den Krümel. Die Bedienung schwieg. »Das hier ist von einem anderen Gericht. Das hatte ich so nicht bestellt. Bitte umgehend auswechseln.«

Bei dem Wort »umgehend« wurde Maryweathers Mund klein und hart wie ein Knödel. Die junge Frau starrte an ihr vorbei, vielleicht erblickte sie die Konturen eines Planeten ohne Frauen wie Maryweather. Als sie sich abermals trollte, mit dem Teller in der Hand, langsam und tranig, hätte Maryweather ihr am liebsten die Serviette hinterhergeschmissen. War sie immer so gewesen, so reizbar? Der Fisch kam ohne Krümel zurück, immerhin. Maryweather aß langsam, fast meditativ. Sie dachte an ihren Playboy. Der rauchige Wüstenwind fuhr ihr ins Haar und sie dachte an … Nein, sie dachte weiter an die Langsamkeit der Kellnerin und daran, dass sie früher in der Klosterschule auch so langsam gewesen war, und zwar immer dann, wenn Schwester Anne sie in den Garten zum Äpfelpflücken geschickt hatte. Maryweather war gerne draußen zwischen den Bäumen, in den engen Schnürschuhen auf der festen, immerfeuchten Erde.

Sie sprach von ihrer »Zeit in der Klosterschule«, wenn sie von früher erzählte, aber in Wahrheit hatte man sie in ein Magdalenenheim gesteckt, das auf einer Anhöhe lag. Es gab keine Auffahrt, die zu dem großen, grauen Haus geführt hätte, nur einen ausgetrampelten Pfad und ein paar dünne Bäume, die sich schräg gegen den Wind lehnten. Sie hatte abgetrieben, sie, Maryweather, die damals noch Edda hieß, hatte mit sechzehn Jahren abgetrieben, und ihr Vater hatte ihr das Gesicht aufgeschlagen. Ihr Vater war Anwalt gewesen und fromm. Mitten in der Nacht hatte er sie aus ihrem Bett ins Auto gezerrt, während ihre Mutter weinend aus dem Küchenfenster zu ihr rausschaute. Maryweather hatte immer Nonne werden wollen, dann aber nicht mehr. Im Magdalenenheim waren nachts dumpfe Geräusche zu hören, wie von Tritten, und Mädchen weinten. Eine Neuangekommene hielt sich die schmerzende Brust, denn sie hatte gestillt, als man ihr das Baby wegnahm. Sie war eine der Letzten gewesen, danach waren kaum mehr neue Mädchen angekommen, und sie hatte mehr geweint als die anderen. Manchmal hörte Maryweather noch das Schaben der Waschbretter im Schlaf und roch das Blut in den dicken Waschlappen, die sie als Binden benutzen mussten. »Du musst erst Salz drauf tun und sie dann kalt abwaschen, nicht heiß. Die dummen Nonnenweiber verstehen das nicht«, flüsterte ihr in ihrer ersten Woche ein Mädchen namens Mary zu. Mary hatte einen Sohn, den sie nie sah und der bei ihrer Mutter lebte.

Ach was jetzt. Maryweather schlug sich auf den Oberschenkel. Ein Mann mit Krawatte zwei Tische weiter schaute von seinem Teller auf. Es war vorbei, das alles. Sie hieß nicht mehr Edda und sie lebte jetzt in Palm Springs, wo die Sonne viel zu grell war für die starke Schminke der Frauen. Und sie war auch so eine Frau. Sie war reich, weil ihr Mann reich war, Jock, der sie weggeholt hatte aus Irland. Maryweathers Lippenstift war rot, das Wasser in ihrem Pool schimmerte türkis, ihr Wohnzimmer war weiß, der Körper ihres Playboys ebenfalls. Und auch ihr Kleid war bis auf den kleinen Aschefleck am Ärmel weiß. Sie liebte Weiß, Perltöne, Creme. Schwanenweiß, Eierschalenfarben. Erdbeeren aß sie nur mit Sahne, von weißen Tellern. Der Fisch im Melvyn’s war weiß. In ihrem weißen Schlafzimmer stand immer eine rote Rose auf dem weißen Nachtisch.

Einmal hatte der Playboy ihr anonym fünfzig rote Rosen nach Hause schicken lassen, obwohl Jock da war.

»Bist du nicht eifersüchtig?«, hatte sie gefragt.

»Nein, Edda.« Nur er nannte sie so. »Wenn es aber eine einzige Rose gewesen wäre …«

Wir bemerken nie etwas. Wir sind nicht geschaffen für den Moment.

Maryweather war eine körperlich plumpe Frau, deren Kleider trotz aller farblichen Einfachheit oder vielleicht gerade deswegen etwas Protziges, Theatralisches hatten, wie einst helle Druidenkutten oder schimmernde Ritterrüstungen, die inmitten brokatbehangener Mengen aufleuchteten, dann wieder verschwanden, die ovalen und marmornen Gesichter eng von Tuch eingerahmt. Und der Playboy mochte sie so, eingefasst, eingeschnürt in Designerkleider, egal ob Fettrollen an ihrem Bauch hervortraten oder nicht. Auf die Kleider kam es an und darauf, dass sie sie trug. Natürlich mochte er sie. Sie hatte ihm ein Auto geschenkt, ein rotes, stromlinienförmiges ohne Verdeck. Außerdem eine Tom-Ford-Jacke und ein iPhone, auf dem er seither, auf ihren weißen Flokati liegend, immer herumschrappte. Es hatte etwas wollüstig Weibisches, wenn er sich dort räkelte, breitbeinig, auf dem Rücken, und dann auf die Seite rollte und die Hüfte vorschob. Neuerdings sah er Maryweather anders an als sonst. Zärtlich. Nachsichtig fast, und das machte sie misstrauisch.

Vor nicht allzu langer Zeit war sie neben dem Playboy auf dem dicken Wohnzimmerteppich eingeschlafen. Jung und Alt, Seehund und Sardine nebeneinander, er in der Dunkelheit auf dem iPhone herumwischend, sie, ein schwerer Körper aus Stein, ausgestreckt an seiner Seite. Mit weinseliger Stimme hatte Maryweather mit ihm gesprochen, ihm ihre Liebe gestanden und ihn dann aus Versehen Jock genannt. Sie hatte die Sache mit einem albernen und von einem Rülpser unterbrochenen Wortspiel zu retten versucht, »Jock the Cock, mein Cocker-Spaniel, du«, oder so ähnlich, aber er war wortlos aufgestanden und gegangen. In dieser Nacht hatte sie sich besonders fett gefühlt. Sie hatte sich in den Schlaf geweint und Jock, der sich weiß der Teufel wo herumgetrieben hatte, fand sie am Morgen. Den gestrandeten Walfisch.

Jock war hart. Der Playboy war weich. Seine Schultern waren schmal, die Hüften auch. Er war charmant, sah gut aus, mit einem Hauch Unbegreiflichkeit in seinen Zügen, heutig und zugleich aus der Zeit gefallen, wie ein Renaissancejüngling. Er lächelte sie an und sie zückte ihren Geldbeutel. Was machte ihn so unwiderstehlich, warum glaubte sie ihm fast alles, warum stellte sie ihm Schecks aus und schenkte ihm Pullover und Vintageplatten, Schuhe und das Auto, mit dem er eines Tages wegfahren würde, um sie mit leerem Bankkonto und leerem Herzen zurückzulassen? Sein Name hatte den leicht verwehenden Klang einer alten Dynastie. Wahrscheinlich war er erfunden. Es spielte keine Rolle, ob er log, er war umwerfend und er wollte sie. Maryweather hatte in ihrem Zuhause ein heimliches, entrücktes Peter-Pan-Reich der ewigen – auch ihrer ewigen – Jugend, der Opulenz, der unerhörten Träume für ihn geschaffen. Sie wickelte ihn in edle, teure Stoffe, schmückte sein schmales Handgelenk mit einer dicken Uhr und servierte ihm Langusten.

Maryweather lebte im Haus von morgen. Es war 1962 gebaut worden und das Wohnzimmer war weiß und rund wie eine Muschel mit schuppigen weißen Wänden; von der Decke hing an unsichtbaren Seilen ein schwebender Kamin. An den Wänden hatte Maryweather rundum Spiegel angebracht, die sich gegenseitig reflektierten und ihr Reich ins Unendliche erweiterten wie einen von Kusamas Infinity Rooms. Der Playboy musste nackt in der Mitte des Teppichs, des runden, lammfarbenen Teppichs, für sie posieren. »Mein Adonis du, mein Göttlicher«, sagte Maryweather und machte iPhone-Bilder von ihm. Sie liebte es, wenn er mit gespreizten Beinen nackt dalag. Sie setzte sich dann auf ihn, behielt ihre Kleider aber an. Sie nahm ihn mit in ihren Überfluss, ritt mit ihm davon, geschwind, rasend, brachte eine komfortable Distanz zwischen sie beide und den Rest der Welt. Warum mochte er sie, warum sie ihn? Es war egal. Nichts anderes zählte. Sie war allein, Jock fast immer weg; wenn sie sich über ihre Einsamkeit beklagte, spottete er nur. Sie durfte nie mit ihm kommen, wenn er für die Arbeit wegfuhr oder mit Geschäftsfreunden nach Aspen.

Dafür flog sie ohne ihn nach Manhattan. Dort kaufte sie ein und spazierte durch die Upper West Side. Sie sah sich das Haus an, in dem Philip Roth gelebt hatte, und dasjenige, in dem George Gershwin aufgewachsen war. Die kühlen Brisen, die vom Hudson kamen, atmete sie mit einem frohen »Hach« ein. Sie bewunderte die Damen der Upper East Side, die pastellfarbene Chiffonkleider und gerade Haarschnitte trugen, in den Mündern die weißen Zähne aufgereiht wie Perlen. Wenig Make-up. Sie ließen sich fedrige Blumen liefern, die von livrierten Portiers mit weißen Handschuhen entgegengenommen wurden. Manchmal wollte Maryweather ein wenig wie diese Frauen sein, so dünn und kühl und mit einem Dekolleté, das die Sonne nicht faltig gebrannt hatte. Aber sie war grell, groß, kräftig; ihr Lippenstift rot, ihre Kleider weiß, und zwar immer, nicht nur zwischen Memorial und Labor Day, wie es eine alte Regel wollte. Wenn sie wieder nach Palm Springs zurückkam, empfand sie eine gewisse Erleichterung. Vor allem, wenn sie mit Tüten und Päckchen beladen aus dem Taxi stieg, das sie vom Flughafen nach Hause brachte, und sich vorstellte, wie der Playboy einer Nymphe gleich dem weißen Teppich in ihrem Wohnzimmer entsteigen würde. Und zwar nackt.

Maryweather stand auf. Es wurde immer heißer und stiller auf der Terrasse des Melvyn’s. Einst hatten Dean Martin, Cary Grant, Frank Sinatra, Liz Taylor und Ava Gardner auf dieser Terrasse gesessen und der über die gestärkten Tischdecken hinwegwehenden Livemusik gelauscht. Heute war es die Terrasse von Männern wie Jock, Männern mit fettem Nacken und dicker Geldbörse, und es war die Terrasse von Frauen wie ihr. Modern und weitläufig. Als Maryweather an der Bar vorbeikam, stand dort die lethargische Kellnerin neben einem Mann, dessen gegeltes Haar wie der Schopf eines Playmobilmännchens auf seinem Kopf lag. Beide rührten sich nicht und starrten schweigsam und mürrisch ins Leere. Das flüchtige Lächeln, das die junge Frau Maryweather zuwarf, als diese an ihnen vorbeiging, war bemüht freundlich und ohne Hoffnung. Maryweather stieg in einen SUV, das einzig Schwarze an ihr. Über ihr der grellblaue Himmel, am Straßenrand dünne Palmen, Geröll in der Ferne. In der Luft wirbelte Asche herum.

Als sie ankam, lag der Playboy rollig auf dem Flokati. Er wandte den Blick vom iPhone ab und lächelte sie an. Das war der Auftakt. Die kommenden Stunden würde er ständig lächeln, herablassend und wohlwollend zugleich, vielleicht sogar mitleidig, mit hochgezogenen Augenbrauen. Das grausame Lächeln der Jugend. Sie strich mit der rechten Hand ihr Kleid glatt und zog den Bauch etwas ein. Was, wenn er sich wieder einen Kommentar über ihre Figur erlaubte? Würde sie ihn dann rauswerfen, wie schon einmal? Sein verdammtes Lächeln machte sie plötzlich hart. Sie wollte ihn nicht. Sie würde ihn fallen lassen. Aber vorher würde sie ihm noch ein paar Geschenke machen.

*

Calimesa stemmte sich gegen die Kissen, die rosa waren, und machte ihre Beine breit. Sie klappte sie einfach auf, ohne darüber nachzudenken. Auf dem weißen Laken wirkte ihre helle Haut braun gebrannt. Das Atmen fühlte sich heiß an in der Lunge, es roch nach Feuer. Im Wohnwagen, der sie wie eine Muschel umgab, stand die Luft. Draußen klirrten Grillen, drinnen herrschte Stille, nur ihr Herz pochte und der Mann über ihr keuchte leise.

Für Calimesa, die hieß wie der Ort, aus dem sie kam, hatten alle Zeiten eine Farbe. Warten war tiefrot. Der Mittag war im Herbst blauer als im Sommer, wenn er die Farbe von Heidelbeeren hatte. Sommernächte hingegen waren pink. In diesen pinken Nächten schlief sie in ihrem Auto mit ihm, das groß und klapprig war, fast größer als der Wohnwagen, scherzte er. Es war immer derselbe Scherz, immer derselbe Vorgang. Er klappte den Beifahrersitz zurück, bis die leeren Chipstüten und die Plastikbecher auf der Rückbank knarzten. Sie legte sich hin und drehte den Kopf zum Fenster, wenn er sich umständlich auf sie schob, und manchmal verfing ihr Ohrring sich in ihren Haaren. Bei jedem Auto, das vorbeifuhr, dachte sie: »Das ist nicht richtig.«

Wenn er fertig war, waren seine Tränensäcke immer ganz geschwollen. Jock. Nachdem er gegangen war, saß sie oft auf der Schaukel vor ihrem Wohnwagen. Das Metall der Schaukelketten machte ihre Finger kalt. Ihr pinker Nagellack biss sich mit der Nacht. Sie trug ihn fast jeden Morgen neu auf, abends blätterte er schon wieder ab.

In Calimesas Erinnerung waren die Nägel ihrer Mutter immer perfekt gewesen. Überhaupt war sie eine elegante Frau, charmant, trug gerne Schmuck und lachte viel. Erst, als Calimesa die Fotografie, die im Wohnwagen hing, einmal sehr genau betrachtet hatte, war ihr klar geworden, dass ihre Mutter vor allem verzweifelt gewesen war. Auf dem Bild schaute sie direkt in die Kamera, mit dem kalten Blick der Leere. Neben ihr stand Calimesas Bruder, noch fast ein Kleinkind, auch sein Blick leer, gelangweilt. Die Mutter hatte Bridge gespielt, die Bridgekarten mit ihren kleinen weißen Händen schneller gemischt als alle Mitspieler, die immer dieselben waren: der kleine Herr Fats mit den Hosenträgern und die alte Marcia aus Albuquerque, die Stadt, in der immer Winde wehten. Von ihrer Mutter war Calimesa nichts geblieben als das Bridgetischchen, das sie als Nachttisch neben ihr Bett gestellt hatte. Sie fragte sich oft, warum ihre Mutter den Papst hatte besuchen wollen. Sie hatte gesegnet werden und dabei einen schwarzen Schleier tragen wollen, der die obere Hälfte ihres Gesichtes bedeckte, das so traurig war. Wie die anderen Besucher hatte sie wohl den dicken goldenen Papstring geküsst. Sie war tief niedergekniet, ganz tief, sodass ihre Stirn auf die Knie gesunken war. Hatte der Papst die Gedanken ihrer Mutter gesehen, als sie vor ihm kniete? Es war seltsam, die eigene Mutter erst auf einer Fotografie zu erkennen. Sie war schön, ihre Augen verloschen. Von dem Besuch im Vatikan war sie nie zurückgekehrt.

Calimesa war nicht so tiefgründig wie ihre Mutter. Sie glaubte an die Oberfläche der Dinge. An glänzende Magazinseiten mit glatten Gesichtern drauf, an Lidstriche und Nagellack. Aber sie wusste, dass sie nicht das Aussehen dazu hatte, im Gegensatz zu dem schlanken, jungen Mann, der die ältere Frau in den weißen Kleidern manchmal im Melvyn’s abholte. Geisterhaft gut angezogen lehnte er an der Säule am Eingang und wartete. Oder er stieg gar nicht erst aus dem Cabriolet, sondern lehnte sich über den Beifahrersitz und öffnete der Alten von innen die Tür. Sie war ihm verfallen, weil er, so stellte Calimesa es sich vor, ein wenig wie Robin Hood war. Er riss ihr Geld an sich, verteilte es um. »Ich und Jock gehen schon lange keinen roten Teppich mehr gemeinsam runter«, hatte sie die Frau einmal mit dem jungen Mann scherzen gehört, aber es klang bitter. Richtig, Jock kam zu ihr.

Calimesa lebte mit ihrem Bruder zusammen. Steve hatte den vorderen Teil des Wohnwagens und schlief auf der Sitzbank, neben die er jede Nacht einen Liegestuhl stellte, damit sie breiter wurde. Neuerdings trank er den Tag über nur noch sechs Dosen Labatt Blue anstatt acht. Seltsam, dass er kanadisches Bier bevorzugte. »Es klingt kühler als das Wetter draußen«, sagte er. Steve roch nach Hash Browns. Der vordere Teil des Wohnwagens auch. Hinten war Calimesas Zimmer und es war ganz rosa. Das Bett, die Tagesdecke, die Wände, der schüttere Vorhang am Fenster. »Hier sieht’s aus wie in einer Möse«, sagte Steve manchmal nach dem vierten Bier. Nie nach dem fünften. Das trank er auf der kleinen Treppe, die in den Wohnwagen hineinführte, und dabei beobachtete er den alten Pablo mit dem ölig glänzenden Gesicht, der gegenüber wohnte und am Spätnachmittag die dünnen Blumen vor seinem Camper goss. Steve hasste Pablo, weil Pablo Calimesa zu lange hinterherschaute. Zwischen den beiden Männern standen dünne Kakteen voller Spinnweben.

Calimesa mochte das Bad, ihr Bad, nicht Steves, der sich in der Küche wusch. Sie besaß eine elektrische Zahnbürste und Seifen mit einem geschwungenen M auf dem vergilbten Seidenpapier, die sie von der Arbeit mitgenommen hatte. Auf dem Spülkasten stand ein Schälchen mit gelben Duftkügelchen. Die Kochecke war klein. Irgendjemand, wahrscheinlich der Vorbesitzer des Wohnwagens, hatte das Linoleum der Arbeitsfläche beim Schneiden zerkratzt. Weder Calimesa noch Steve kochten. Manchmal brachte Calimesa aus dem Melvyn’s Essen mit, das sie direkt aus den weichen Pappschachteln aßen.

Ab und zu begleitete Steve seine Schwester zur Arbeit und machte sich dafür »fein«; wenn er das Wort aussprach, bog sein schmaler Mund sich nach unten. Er stand dann vor dem halb blinden Folienspiegel, der an dem Schrank über der Spüle klebte, und stylte seine Haare mit Gel, damit sie aussahen wie bei Cary Grant oder Dean Martin. Anschließend rasierte er sich und Bartstoppeln rieselten auf dreckiges Besteck und Tassen mit Kaffeerand. Im Melvyn’s trank Steve kein Bier, sondern Bellinis. Die schlanken Gläser und der glänzende Tresen passten nicht zu seinen groben roten Händen.

Die Wohnwagensiedlung war langweilig, insbesondere im Sommer, wie gelähmt lag sie in der Sonne. Calimesa lag meist auf ihrem Bett, schaute HBO-Serien und versuchte das ständige Sirren der Mücken an ihrem Ohr zu ignorieren; manchmal grillten sie draußen zusammen, sie und Steve, kleine trockene Fleischmedaillons, über die sie süße Barbecue-Sauce gossen. Calimesa saß in Slip und T-Shirt auf der Hollywoodschaukel neben dem Wohnwagen und las Zeitschriften, während Steve den Grill einheizte. Sie liebte den Geruch von Rauch und halb rohem Fleisch und die in der Hitze gedämpften Stimmen der Nachbarn, die auch grillten oder dahockten und tranken.

Von Nahem und bei Tageslicht sah Jocks Haut aus wie rotes Leder, etwas faltiger noch. Er war so groß, dass er sich im Wohnwagen bückte, obwohl er nicht angestoßen wäre. Calimesa war vom Bett aufgestanden, hatte sich auf die Essbank gesetzt und sich die Hände unter die Oberschenkel geschoben. Sie beobachtete ihn. Seine bösen, fleischigen Hände steckten eine Kassette in Steves Kassettenrekorder. Dessen Tasten waren speckig und klebriger Staub hatte sich in den Rillen festgesetzt. Nur die Playtaste war blank gescheuert. »Eine Kassette …«, murmelte Jock versonnen. »Hatte ich lang nicht mehr in der Hand.« Er drehte sich abrupt um, ein bisschen wie eine Maschine, mit der was nicht stimmte, dachte Calimesa. »Magst du?« Er hielt ihr eine Zigarette hin.

»Nein.«

»Gut, umso mehr für mich.« Er zwinkerte ihr zu und ging wieder nach hinten, dorthin, wo sie schlief. Aus dem Kassettenrekorder dröhnte Nirvana.

Unruhig friemelte Jock jetzt am Fernseher am Fußende ihres Bettes herum. Dabei kippte er eine Coladose um, die jemand nicht ganz ausgetrunken hatte, und warme braune Flüssigkeit schwappte über den Bettvorleger, gesellte sich zu den anderen Spuren der Vernachlässigung. Schöne Sommer sind Aberglaube, dachte Calimesa. Jock grunzte ein »Fuck« und fischte sein klingelndes Telefon aus der Gesäßtasche. »Wie ich die Schnauze voll habe«, grollte er. »Gott, wenn sie wüsste, wo ich gerade …« Er kicherte dunkel, wischte sich über den Mund und legte auf. Das Kichern wurde zu einem feuchten Lachen und dann zu einem Hustenanfall. Jock hustete lange, führte dennoch die Hand mit der Zigarette zum Mund, ließ sie, ohne zu ziehen, wieder sinken. Als der Anfall vorüber war, sah er leer aus. Er schaute Calimesa an und in seinen Augen standen Milchfett und Schmerz. Schwer setzte er sich auf die Bettkante und blätterte in der Vanity Fair, bevor er das Magazin auf den Boden schmiss und der friedliche Moment verflogen war. Sein Enthusiasmus auch. Zu Jocks Füßen lag das knittrige Gesicht von Lindsay Lohan.

»Jock, ich brauche Geld.« Es kam schnell aus ihr heraus. So hatte sie es nicht geübt.

»Hm?« Er schaute nicht auf.

»Nicht viel. Tausend Dollar. Tausendfünfhundert. Ich muss hier weg. Ich will nach Los Angeles.«

»Ha, L.A., roter Teppich oder was? Du bist witzig, Calimesa.« Dann, leiser und auf hässliche Weise schelmisch. »Willst weg von mir.«

Jock dehnte seine harten Nackenmuskeln und tastete mit den Füßen nach den Schuhen am Boden. Er zwängte sich ins Bad, trat ans rosa Waschbecken und trank Wasser aus seinen zu einer Schale geformten Händen. »Ich kann dich heute nicht noch mal ficken. Vielleicht morgen, aber dann wieder im Auto.« Er sagte das beiläufig, wie gurgeln und ausspucken. Durch das Fenster sah Calimesa den hellen, jetzt belebten Platz. Es war Nachmittag, aus den winzigen Gärten der Trailer kamen leise Stimmen. Ein Kind weinte. Lachte. Weinte wieder. Aschepartikel tanzten durch die Luft. Jock trocknete sich unwillig das Gesicht und warf dann einen letzten Blick auf das ungemachte Bett, das ganze Rosa, Calimesa, inzwischen so vertraut. »Hier, für den Anfang.« Aus der goldenen Schnalle in seinem Portemonnaie zog er drei Hundertdollarscheine. Calimesa sah ihm von der Treppe des Wohnwagens nach, als er zu seinem weißen Wagen ging.

*

Maryweather lag auf dem Bett. Jock kam aus dem Badezimmer, hinter ihm ging die Toilettenspülung. Sie konnte seine Rasiercreme riechen. Unten stellte die Haushälterin Tassen auf den Küchentisch; jedes Mal machte es klong. War das Haus immer so hellhörig gewesen? Maryweather war angespannt. Jock war früher gekommen als sonst und sie hatte den Playboy zur Hintertür hinausscheuchen müssen. Jock sah gut aus, seine Haut wirkte weniger ledrig. Gedunsen und violett wie ein Schmetterling zwar, aber gut durchblutet.

Draußen hörte Maryweather jemanden sprechen. Sie setzte sich resolut im Bett auf, sodass ihr eigenes Gewicht das weiße Kleid glatt strich. Auf dem unteren Saum entdeckte sie einen Spermafleck. Durch das geöffnete Fenster konnte sie den Playboy auf der Straße vor dem Haus mit einem unerträglichen Hüftschwung auf und ab schlendern sehen, am Handy plaudernd; um seinen Zeigefinger ließ er den Autoschlüssel kreisen. »Es war ganz entzückend, Sie gestern kennenzulernen, Mr. Greenbean«, flötete er ins Telefon. Maryweather hastete nach unten und rauschte auf ihn zu, ihren Jungbrunnen, ihre Sonne. »Verdammt noch mal, beweg deinen kleinen Arsch hier weg.«

*

Palm Springs. Häuser wie flache, auf ruhigem Wasser treibende Boote. Dazwischen Palmensprenkel, am Horizont zackige Berge, die ganze Landschaft eine bräunliche, sich zurückschuppende Haut. Wie müde sie machte, wie sie in den Augen brannte, diese Landschaft, dachte Calimesa. Als die Feuer kamen, um alles zu zerstören, was sie besaß, trieb sie auf einer Luftmatratze in der Mitte des Sees und trank Whiskey aus einem Plastikbecher. Der See war künstlich angelegt, rund und tief. Selbst im Sommer war das Wasser schwarz. Ein böser Krater, ein schwarzes, abgründiges Herz, um das sich die Wohnwagen des Trailerparks scharten. Ihres Trailerparks. Mit ihrem Wohnwagen. Darin ihr Badezimmer. Ihr rosafarbenes Bett, unter dem Kopfkissen ihre drei Hundertdollarscheine. In Calimesa erstrahlte der aschfarbene Sternenhimmel. Sie war nie anderswo gewesen als in der Wüste.

Damenbart

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