Читать книгу Damenbart - Sarah Pines - Страница 7
ОглавлениеEisvogel
Eisvogelzeit. Halkyonische Tage nannte Nietzsche die seltsame winterblasse Zeit aus Leere und Stille, wenn der Himmel blau und windlos ist und die Sonne die Augen blendet. Frédérique reiste in die Hässlichkeit. Ihr Geliebter war keiner mehr, nur ein flaues, entschwindendes Lächeln an ihrer Seite. Manchmal schickte er ihr aus Wien Bilder von sich. Er sah gut aus darauf, doch sein Lächeln war verkrampft, weil er wusste, dass sie ihn kaum mehr anschaute.
Oft stellte sie sich vor, jemand würde ihr in den Kopf schießen. Ihr Kopf würde platzen, in einer rosaroten Wolke über ihren Schultern explodieren, und da oben wäre endlich Ruhe. Kein Denken mehr, keine Unrast, kein Schwindel. Unter der Dusche kratzte sie ihre Haut, bis sie von roten Striemen überzogen war. Sie war zurück ins Haus ihrer Mutter gezogen. Morgens stand Frédérique oben am Fenster, betrachtete die westfälische Stadt vor ihr, weit und weiß wie ein Laken. Unten in der Küche der vorwurfsvolle Blick ihrer alten Mutter.
»Kannst du dich denn nicht einmal entscheiden? Du verlierst ihn auch noch, nach all den anderen. Und wer soll dann alles bezahlen? Die Miete in Paris, das Auto?«
»Ich will nur das Beste.«
»Dann tu was!«
»Ich verstehe dich nicht, Mutter.« Frédérique drehte sich mit einem scharfen Lächeln um. »Wenn es dir angeblich immer schon wichtig war, dass wir reich heiraten, warum fängst du mit diesen Ratschlägen an, wenn es zu spät ist?«
Ihre Mutter sah sie mit schmutzigen Augen an. Sie war die Frau eines mageren protestantischen Pastors gewesen, der schon tot war. Er hatte drei Töchter gezeugt und wollte keine von ihnen selbst taufen. Die Familie bewohnte ein altes Pfarrhaus, zu dem ein großer Garten mit hängenden Weiden gehörte. Bis heute wusste Frédérique nicht, ob ihre Erinnerungen an den Philosophen, der als Untermieter im Obergeschoss gelebt hatte, korrekt waren. Sie erinnerte sich daran, dass die Augen ihrer Schwestern böse glitzerten, wenn der Philosoph von oben runter in den Garten kam. »Da seid ihr ja.« Ein großer brauner Hund legte den Geschwistern den Kopf in den Schoß, wenn sie auf der Schaukel saßen. Frédérique träumte als Kind davon, schwanger zu sein. Sie wurde zur Puppenmutter, fuhr ihre Puppen im Ort spazieren, bis sie Melanie, ihre liebste Puppe, verlor. Am nächsten Tag fand Frédériques Mutter sie auf den Gleisen. Zerbrochene Kristallaugen. Oft wurde Frédérique wütend auf ihre Puppen. »Gebt mir eure Augen, die gehören euch nicht!«, rief sie und die Eltern belauschten sie hinter der geschlossenen Tür. Sie warf die Puppen gegen die Wand und riss ihnen die Augen heraus. Es waren nicht ihre Augen, es waren die Augen von dem Kind, das Frédérique haben wollte, wenn sie einmal groß war. Aber sie würde kein Kind haben. Frédérique ging nach Paris und dann kam sie wieder, um bei ihrer Mutter zu leben. Das Geld war verbraucht.
Der strahlend blaue Winterhimmel war für manche wunderschön, für Frédérique war er unerträglich, Ort des Nicht-Ich, der Nicht-Sonne, der Nicht-Wärme. Darunter war die Erde kahl und verschlammt. Über die halkyonischen Tage hatte schon Ovid in den Metamorphosen geschrieben, sie hatte das Buch als Kind gelesen. Das Buch der ewigen Verwandlung. »Teufelszeug«, sagte ihr Vater dazu. Alkyone, die Tochter des Windgottes Aiolos, ist mit Keyx verheiratet, dem Sohn des Morgensterns. Sie sind ein glückliches, aber anmaßendes junges Paar, halten sich für gottgleich und nennen sich Hera und Zeus. Zur Strafe schickt Zeus einen Sturm über das Mittelmeer und lässt Keyx’ Schiff sinken. Alkyone ahnt es, irrt weinend umher, geht dann an den Strand. Als Keyx’ Leiche in den Sand gespült wird, stürzt sie sich von einer Klippe. Doch während ihres Falls geschieht Wundersames. Die Götter haben Mitleid. Bevor Alkyone auf dem Wasser aufschlägt, werden sie und Keyx in Eisvögel verwandelt und leben fortan auf der Insel. Der Windgott schenkt ihnen mehrere Wintertage im Jahr ohne Wind. Ihr Gesang ist klagend, immer etwas traurig. »Stimmen, ins Grün der Wasserfläche geritzt. Wenn der Eisvogel taucht, sirrt die Sekunde«, dichtete Paul Celan.
Frédériques Sekunden sirrten immer. Nie hatte sie Ruhe im Kopf. Sie wünschte, ihre Hirnschale bräche wie ein Teller entzwei. Risse im Knochen. Doch nichts geschah, sie dachte weiter, nur ohne zu Ergebnissen zu kommen. Sie hatte Geldsorgen. Eine richtige Arbeit hatte sie nicht, nie gehabt. Sie schrieb seit dem Literaturstudium ein bisschen. Männer wollten sie, weil sie schön war. Manche wollten sie, weil sie klug war. Sie gaben ihr Geld für das, was sie in ihren Augen darstellte, doch Frédérique fragte nie nach, was das eigentlich sein sollte.
»Ich liebe dein Gesicht am Morgen.« Nachlässig warf sie das Handy aufs Bett, wo die SMS ihres Finanzier-Liebhabers noch ein wenig weiterblinkte. Der blaue Himmel, darunter das noch brache Land. Deutschland lag im ruhelosen, düsteren Winter knöchrig und grimmig da und sie fragte sich, ob es richtig gewesen war zu kommen. Die ohnehin schon immer am Rande des Erträglichen entlangschrammende Sonntagsstimmung ließ Frédériques Gedanken noch sinnloser kreisen. Sie aß viel. Genauer: Sie fraß. Ging zu Edeka und kaufte an der Wursttheke ein: Blutwurst, Sülze, Leberwurst, Katenschinken. Als hätte es in Frankreich kein Fleisch gegeben.
Er wolle sie sehen, wenn schon nicht in Paris, dann eben in Deutschland, drängte der Mann aus Österreich mit den großen warmen Händen. »Spießerin«, sagte Frédériques Mutter. Sie stand dunkel wie ein gotischer Turm in der Küche und schaute durch die dünnen Vorhänge hinaus. Durch das Fenster wehte Pilzsaucengeruch herein und mischte sich mit der Maggi-Wolke der Nachbarin von gegenüber.
Ein Himmel wie abblätternde Farbe, darunter frühlingsblasse Bäume. Frédérique ging spazieren. Stapfte mit leerem Feiertagsgefühl im Magen auf unebenem Straßenpflaster eng beieinanderstehende Häuserreihen entlang. In Parks betrieben junge Männer Morgenturnen, hingen für Klimmzüge und sonstige Übungen an Schaukelstangen oder Klettergerüsten. Auf einem Spielplatz erschrak ein kleiner Junge, der beim Spielen zu oft in der Nase bohrte, als ein Mann im Jogginganzug neben ihm im Sand aufschlug. In Frédériques Tasche summte das Handy. Permanent summte es. »Wo bist du?«, »Wann kommst du?« Wie sie seine Anhänglichkeit hasste. Sie hasste auch sein Geld. Sie wollte sein Geld nicht. Aber sie brauchte es.
Aus den Fenstern eines bräunlichen Fachwerkhauses tönten die Stimmen öffentlich-rechtlicher Fernsehmoderatoren. An der Ecke gleich gegenüber vom Burgwall hatte die Pizzeria Capri schon zu, seit Frédérique ein Kind gewesen war. Die mit grünlichem Moos angelaufenen Läden waren geschlossen, die Klinkerfassade verlottert. Jemand nutzte den Pflanzenkübel am Eingang als Aschenbecher. Frédérique hatte Deutschland nie als lässig erlebt oder träge dahinfließend wie Wien. Ihre Schritte klangen auf dem Asphalt laut und aus alten Schenkentüren wehte miefiger Essensgeruch. Deutschland war melancholisch, selbst im Sommer winterlich im Geist, war Putzkittel und Küchendämpfe, Völkerball und zerfranste Schrebergärten. Poetisch verkannt lag es für Frédérique da wie ein vergilbter Wandteppich.
Von Zuneigung war zwischen ihr und ihrem Finanzier nur selten die Rede. In seinen E-Mails und Textnachrichten sprach er ihr die schönsten Eigenschaften zu, wenn er sie sah, konnte er sie kaum ertragen. »Du zerstörst immer alles mit deiner Gemeinheit«, sagte er und klang dabei selbst böse. Jetzt war sie ihm geografisch näher und er schöpfte zögerlich Hoffnung. Dabei stand er im Begriff, mit ihr das Wichtigste in seinem Leben zu verlieren, und der Himmel war immer noch blau, ungerührt. In der Ferne verschleierte Nebel die Unendlichkeit des irgendwann nahenden Sommers.
Frédérique nannte ihren Liebhaber-Finanzier Bartleby, um ihn zumindest innerlich zu schmähen und ihm, indem sie ihn zu dem Schreiberling aus einer ihrer Ansicht nach mittelmäßigen Erzählung degradierte, die Macht über sie und ihre finanziellen Verhältnisse zu nehmen. Bartleby, der eigentlich Manfred Huber hieß, war ein hochgewachsener und strenger Junggeselle, dessen Verdauung am besten funktionierte, wenn er säbelbeinig wie ein Rinderbaron durch die Straßen seines österreichischen Heimatdorfes streifte und Ausländer hassende Dorfbewohner ihm hinter den Butzenscheiben sehnsüchtig nachstierten, denn er war der Stadtrat Huber. Wobei er oft bedauerte, dass sein Nachname klang wie hundert Jahre Durchschnittlichkeit. Auf Dating-Webseiten nannte er sich verwegen Manni, das klang sämig und nach Holzfällerhemd oder zumindest aufrecht und grau wie die Bürokladde auf der moosgrünen Filzunterlage seines Stadtrat-Tisches. An diesem Tisch saß er gerne, und wenn er nichts Besseres zu tun hatte, bestellte er mit ein paar Mausklicks durch einschlägige Internetseiten Frauen in seine Zweitwohnung am Irrsee. Dort war alles etwas anonymer und keiner guckte komisch, wenn Manfred auf Bergspaziergängen großäugige Osteuropäerinnen in Wanderschuhen über Bäche und Geröll oder rund um den See hetzte und dabei zwanzig lüsterne Bilder von ihrer Rückansicht schoss, mit denen er später angeben konnte. Natürlich nur vor sich selbst, wenn ihm beim Zappen allein zu Hause langweilig wurde, denn er war der Stadtrat Huber. Ja, Frauen aus Osteuropa mochte er am liebsten. Mit Frédérique hingegen hatte er sich nur langsam abgefunden und erst jetzt, als es schon zu spät war, meinte er zu merken, dass er sie liebte. Da er keine Erektionen bekam, wenn eine Frau ihm zuschaute, hatte er Frédérique von Beginn der Affäre an Geld gegeben. Zeitweise auch seine Kreditkarte, die er ihr rasch wieder wegnahm, weil sie zu viele Kleider damit kaufte.
In Frédériques Städtchen waren die Straßen immer schon leer gewesen. Leer und blass wie das Gesicht ihrer Mutter, das ihr ungehalten durch das Küchenfenster nachschaute, wenn sie zu ihren stundenlangen Spaziergängen aufbrach. Sie hatte das immer auf glamouröse Weise machen wollen, das Spazierengehen, wie die Frauen in alten französischen Filmen, doch diese Gegend war nicht glamourös. Trotzdem trug sie fast bockig weiter ihre puderrosa Hosen und die Sneakers mit den Goldsternen drauf.
Um sie herum Wasserläufe, Wasserburgen, ausgestorbener Landadel. Schiefergebirge, Kohle, Stahl. Entlang beliebiger Wanderwege standen Obstbäume auf Wiesen. Überall gab es zu viel Moos, zu viel Borkenkäferbefall vom Vorjahr, zu viel vor angelaufenen Häusern aufgeschichtetes, modriges Brennholz. Aufsässig starrende Spaziergänger gingen langsam mit nach innen gedrehten Knien und der schlechten Körperhaltung bisheriger Stubenhocker an ihr vorüber. Sie gingen, Frédérique schlenderte.
Im Volksgarten in der Nähe des Flusses allerdings promenierten die Leute auf und ab. Ein alter Mann stand vor dem Metzger auf der Hauptstraße. Umständlich versuchte er sich von seinem Hörgerät zu befreien. »Dieses verdammte Dingens«, fluchte er und sein Hörgerät, genauer: der Hörknopf fiel aus seinem Ohr und kullerte über den Asphalt. »Mensch, dann sei halt nicht so ungebärdig«, sagte seine Frau und Frédérique dachte an ihre Eltern, die nie so beieinandergestanden hatten. In den Straßen gingen Leute im Anorak herum und gestikulierten wie Yogalehrer. In einer Sackgasse wühlte ein Junkie in Mülltonnen und schrie dabei in sein Handy, das er zwischen Schulter und Ohr geklemmt hielt. Zu vernehmen war der mehrfach wiederholte Satzfetzen: »Ich hab’ ihn nicht mehr, hab’ ihn nicht!« Vor einer Drogerie saß seit Frédériques Ankunft ein Mann mit seinem Akkordeon und spielte, so schien es ihr, immer dieselbe leise leiernde Melodie, die sie an die Pariser Cafés erinnerte. Er sei ein Flüchtling aus dem Nahen Osten, sagte er, als sie vor ihm stehen blieb und ihn fragte, woher er käme. Dort habe er Heavy Metal gespielt, was verboten sei, fuhr er fort, doch Frédérique hörte ihm kaum zu. Am ersten und am zweiten Tag gab sie ihm einen Euro. Am dritten Tag ging sie an ihm vorbei, ohne ihn anzusehen, begann aber, ihm nach der »Arbeit« zu folgen. Er packte das Akkordeon um siebzehn Uhr ein und ging. Auf dem Heimweg machte er in einem Dönerladen halt. Er bestellte immer dasselbe: ein Falafelsandwich mit scharfer Sauce. Das aß er enervierend langsam, Bissen für Bissen, während er kauend durch die Fensterfront auf die Straße hinausschaute, allerdings ohne Frédérique zu sehen, denn sie stand im schattig überdachten Eingang der Post gegenüber. Danach ging sie ihm bis zu seiner Wohnung nach und rauchte dabei.
Am fünften Tag nahm sie ihn mit nach Hause. Ihre Mutter war ausgegangen. Auf dem Küchentisch stand ein Mürbeteigkuchen, belegt mit Pfirsichen aus der Dose. »Ich bin gleich wieder da«, hatte die Mutter auf ein Post-it geschrieben. Frédérique zündete sich eine Zigarette an und setzte sich an den Küchentisch. »Setz dich doch.« Der Mann blickte sie unsicher an und nahm die Kappe vom Kopf, die er mit den Händen knetete. »Fick mich. Weißt du, was ficken heißt? Ich will, dass du mich fickst.«
Er sprach kaum Deutsch. Als sie begann, ihre Bluse aufzuknöpfen, wich er vor ihr zurück in den Hausflur. Dort hing eine rostrote Tapete. Bluttapete. Sie wollte, dass er sie bluten machte. Doch er ging. Am nächsten Tag klingelte es um siebzehn Uhr fünfzehn an ihrer Haustür. Bitte mach, dass er es ist, dachte sie. Als sie die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, überlegte sie, vielleicht doch nicht zu öffnen. Was, wenn er es nicht war? Sie ging zurück in die Küche und setzte sich an den Küchentisch. Darauf standen zwei Frühstücksbrettchen und ein angeschnittenes Graubrot. Frédérique war bereits nackt. Ihr Bauch war in den letzten paar Jahren in Paris schwer geworden vor Fett, der Rest war schlank, wie früher. Ihr Schamhaar war dick und borstig. Schließlich entschied sie, doch die Tür aufzumachen.
Sie fragte ihn nicht nach seinem Namen, sondern starrte ihn abwartend an. Diesmal ging er nicht, kam langsam näher. Was las sie in seinen Augen? Sie wusste es nicht, aber sie vermutete Wut. Warum auch nicht. Umso besser. Als er auf ihr lag, drückte sie seine Faust in ihre Scheide. »Tu mir weh«, flüsterte sie. »Mach mich bluten.« Er umkrampfte sie mechanisch und das leerte ihren Kopf. Auf seiner Oberlippe stand Schweiß. Er legte seine Hand auf ihre Wange und drückte ihr Gesicht seitlich in die Laken hinein.
Er hatte keinen Orgasmus, aber das war ihr egal. Sie kam dafür dreimal und schubste ihn dann weg, runter von sich. Als sie aufstand, schämte sie sich für ihre wulstige Nacktheit. Vor Bartleby hatte sie sich nie für ihren Körper geschämt, nur für ihre materielle Bedürftigkeit. Frédérique gab dem Straßenmusiker zwanzig Euro und sagte ihm, er solle verschwinden. Er trollte sich ohne ein Wort und hinterließ auf ihrer Haut einen wässrigen Film aus Schweiß.
An diesem Abend geriet sie in Panik. Draußen hörte sie Amseln und der Geruch von verbranntem Fleisch wehte zu ihr herein. Im Nachbarsgarten schoss ein alter Mann mit Plastikpfeil und Bogen auf eine Schießscheibe. Neben ihm saß seine Ehefrau in einem großen, breiten Sessel. »Deine Hand knickt immer ab, Jürgen. Mit dieser Körperhaltung triffst du nie.« Die Frau hielt einen Block in der Hand und verzeichnete die Punkte. Über ihre Knie war eine dicke Wolldecke gebreitet. Frédérique beschloss abzureisen. Nach Paris. Es war etwas Unwiderrufliches. Sie lag auf dem Bett in ihrem alten Kinderzimmer und sah schöner aus als früher. Nur ihre Augen waren zerbrochen.