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Kapitel 1

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Einige Wochen später …

Daegon

Stadt der Legenden

Wie Nebel entstieg der Rauch der schwelenden Kräuter dem Räuchergefäß, das in den Händen der Hohepriesterin zum Altar getragen wurde. Das Kupferrot ihrer krausen Lockenfrisur leuchtete als letzter Orientierungspunkt durch die Dämpfe, während die Tempelhallen in wabernden Wolken versanken und mit ihren Säulenschatten die Silhouetten der Beipriesterinnen verschluckten. Nur selten linste eine weiße Leinengewandung durch die Luftverwirbelungen. Größtenteils hatte sich eine dichte Wand der Stille in den heiligen Räumen niedergeschlagen.

Ich blinzelte die Tränenflüssigkeit aus meinen Augenwinkeln, als könne ich auf diese Weise die Entstehung einer verquollenen Maske verhindern und dem Spott durch die anderen Soldaten entgehen. Dennoch erfüllte die Räucherzeremonie wie eh ihren Zweck und trieb Salzperlen über die Gesichter der Betenden, die sich der Reaktion ihrer Körper ja doch nicht zu erwehren vermochten. Obgleich ich im Stillen nicht beten wollte oder Götter auf Altären und Tempelkonstruktionen zu finden glaubte, so zeigte mein eigener Körper die Geste der Demut.

Meine Wangen schwollen an. Meine Brust füllte sich mit brennender Luft. Und die Tränen … sie rannen unaufhaltsam über meine geröteten Züge.

Ich unterdrückte den aufkeimenden Hustenreiz in meinem Rachen, verlagerte den Schwerpunkt auf das andere Bein und bemühte mich um einen ruhigeren Atemrhythmus. Neben mir, vor mir, um mich herum kämpften gut tausend weitere Seelen mit ein und denselben Symptomen, schienen jedoch weniger unfreiwillig auf ihren Plätzen zu stehen und starrten gebannt in die Nebelwände hinein. Wie Besessene hielten sie die Stille ihrer Gebete, schunkelten sanft im Takt eines nicht vorhandenen Liedes und öffneten ihre Herzen für die Zeremonie. Die Handflächen zeigten zur Tempeldecke, als erwarteten die Betenden den einen, den ersehnten Regenschauer, der ihnen von gütigen Gottheiten geschenkt werden sollte.

Ich hatte in meinem noch jungen Leben schon vielen Regenbitten beigewohnt. Jede Zeremonie machte mich mehr und mehr glauben, ich würde in einer Menge aus Schlafwandlern stehen.

Ihre Gesichter, die Gesichter belebter Menschen, verwandelten sich in versteinerte Ausdrücke mit toten Augen, wie man sie sonst auf den Häuptern von Kunstskulpturen auf unseren Stadtplätzen erwarten würde. Womöglich hätte ich wohl als Ungläubiger auf den Besuch derartiger Zeremonien verzichten sollen, doch handelte es sich um die einzige Fluchtmöglichkeit vor den Verpflichtungen eines ungeliebten Alltags …

… und die einzige Möglichkeit, ein paar Worte mit meiner Mutter zu wechseln; sie einfach zu sehen – wenngleich so manches Mal aus der Ferne.

Die flammenfarbene Hochsteckfrisur der Hohepriesterin tauchte als erstes, sichtbares Element aus dem Dunst und verriet das Ende der Räucherwanderungen, welche die unguten Gedanken aus den Tempelanlagen treiben sollten. Schon löste sich die Form einer enganliegenden Leinenkutte aus Nebeln, enthüllte die sanduhrförmige Gestalt jener Frau und ließ erstmalig ihre Standposition erkennbar werden. Auf der höchsten Stufe der flachen Tempeltreppen thronte die Hohepriesterin über dem Volk und hielt die Räucherschale über ihrem Haupt erhoben, sodass dünnere Schwaden im Luftzug der Hallen über den Goldrand zu schwappen begannen.

Sie nahm einen tiefen Atemzug in den Rauch.

Noch waren ihre Augen geschlossen ... Doch als sich schließlich die Lider hoben und ihre stahlblauen Augen enthüllten, da war mir, als sähe sie jeden Vorgang im Tempel. Als könnte ihr Blick selbst die Säulen durchdringen und jeden der Anwesenden für unzüchtiges Gedankengut strafen, als hätte sie selbst mit geschlossenen Augen jede Bewegung in der Masse verfolgt. Ihre schmale Gestalt ruhte statuengleich auf der heiligen Höhe, schien selbst zu einer Säule des Tempels zu werden und mit dem Reich der Göttlichkeit zu verwachsen. Während sie ihr Kinn auf die gewohnte Position zu senken begann, da senkten sich auch die Rauchschwaden in Richtung des Bodens und verwirbelten um die Säulenkapitelle.

Die Füße der Betenden standen noch eine Weile im Nebel. Letztlich lösten sich auch diese Wolkenfetzen und verwehten im Nichts.

Gebannt richteten sich nun sämtliche Blicke auf drei Götterfiguren, die mit ihren gewaltigen Marmorkörpern hinter der Hohepriesterin aus den Wolken tauchten und die Frau in ein unwichtiges Teil eines viel größeren Ganzen verwandelten. Wie Urgiganten stemmten sich die Schöpfer aus den steinernen Böden, trotzten der Schwerkraft mit ihren anmutigen Gesten und hielten ihre schützenden Hände über die winzige Frau mit der Schale. Eine männliche Figur in der Mitte. Zwei Frauen mit gigantischen Steinschalen zu seinen Seiten.

Ihre Blicke waren auf höhere Sphären gerichtet und schenkten der Priesterin keine Beachtung, sodass lediglich ihre Handgesten ein gewisses Interesse an der Menschheit bekundeten. Ja, neben den Bildnissen ihrer Götter schrumpfte die scheinbare Relevanz der Zeremonienführerin und ließ das Gewicht, die Kraft ihrer Schöpfer, mit einem Male umso größer erscheinen.

Ich blinzelte.

In ebendiesem Augenblick der Menschlichkeit erkannte ich noch einmal die Vertrautheit in ihren Zügen und sah mich meiner Mutter gegenüber – nicht der Hohepriesterin, zu der sie dereinst gewählt worden war.

Sie hat schon immer einen Hang zur Theatralik besessen, dachte ich noch … und rügte mich gleich darauf für einen solch respektlosen Gedanken.

Mochte ich so manche Entscheidung der Frau nicht gutheißen können, so war sie doch der Mensch, der mich geboren und aufgezogen hatte, der mich – ganz im Gegensatz zu den Behandlungen meines Vaters – aus tiefstem Herzen geliebt und immerzu mit inniger Liebe bedacht hatte. Meine Mutter wusste als Hohepriesterin, das Volk mit gut geplanten Effekten und weise gewählten Worten zu begeistern, doch tat sie es, weil sie bei ihrem Leben an die Existenz dieser drei Gottheiten glaubte und die Liebe zu ihnen im Herzen des Volkes entflammen wollte.

Ganz gleich, ob ich ihren Glauben teilte, ihn nicht teilte, respektierte oder im Geheimen verfluchte … Sie war stets dem Pfad des Lebens nach bestem Wissen und Gewissen gefolgt, weshalb ich mir ein Urteil über derlei Entscheidungen oder Spott über den Ablauf einer Zeremonie schlichtweg nicht gestattete.

Nein, ich selbst glaubte nicht an Götter.

Ich glaubte nicht, dass es weit über unseren Köpfen oder an einem verborgenen Ort im Herzen der Welt eine Macht geben sollte, die über unser aller Leben verfügte oder gar Schicksalsgarne aus Schafswolle knüpfte. Denn dann hätte ich wider mein eigenes Wissen in deren Augen ein Sünder und Schänder sein müssen, dann hätte ich ein Vergehen an den Göttern begangen, dann wäre ich ein schlechter Mensch gewesen, wenn ich den Verlauf meines bisherigen Lebens bedachte.

Ich hatte nicht eine Regel in meinem Leben verletzt. Noch nicht einmal getötet hatte ich im Auftrag der Stadt.

Dennoch strafte mich das vermeintliche Schicksal mit einem gewalttätigen Vater, der mich gegen jedes meiner Moralgefühle zu einer Soldatenausbildung zwang und mir seinen eigenen Titel als Senator zum Vorwand hielt. Denn der Sohn eines Senators hatte ein strammer Mann zu werden, sich nicht ausschließlich den Geisteswissenschaften zu verpflichten … und er hatte im Namen der Stadt zu kämpfen, so es seine Ehre verlangte! Der Sohn eines Senators hatte sein Leben dem Soldatendasein zu verpflichten, der Bevölkerung mit seiner Stärke zu imponieren und dem Namen seines Vaters alle Ehre zu machen.

Ich verabscheute Gewalt.

Und doch hatte mich das Leben bereits mit meinem ersten Atemzug in eine Welt der Gewalt gesandt. In eine Welt voller Grausamkeiten und Unrecht, in eine Welt, in der ein Senator seine ungehorsame Frau schlagen durfte, in der ein Senator seine Sklaven wie Dreck behandeln und seinen kleinen Sohn noch öfter mit Schlägen bedenken durfte … noch öfter als die Frau, die der Junge zu verteidigen versuchte.

Ich glaubte nicht mehr an Götter.

Mir blieb bloß die Dankbarkeit über das Glück, welches meiner Mutter mit der Aufgabe als Hohepriesterin zuteilgeworden war. Hätte man sie vor drei Jahren nicht mit jener Stellung betraut, so wäre sie vermutlich auf ewig an meiner Seite geblieben und hätte sich selbst den Händen ihres eigenen Ehegatten ausgeliefert. Nein, ich schätzte mich zum glücklichsten Menschen, sie mit einem Lächeln auf den Lippen Zeremonien leiten zu sehen und von ihr durch die Tempelanlagen geführt zu werden, die ihr ein neues Heim ohne Gewalttaten boten. Dort konnte ich ihr guten Gewissens versichern, dass ihre Entscheidung die goldrichtige Wahl gewesen war.

Ihre Sicherheit blieb meine Priorität. Ihr neues Heim ein besonderes Privileg.

Nun muss ich lediglich mein eigen Leib und Leben schützen.

Nun kann ich allein mich schützen, ohne mich in Sorge um ihre Sicherheit zu verlieren.

Mit einer kopfschüttelnden Geste schob ich die Gedanken aus meinem Geist, während die Zeremonie ihren Höhepunkt erreichte, als nun die Beipriesterinnen aus den Schatten der schmalen Tempelsäulen traten und mit anmutigen Schritten einen Weg auf das Hohepriesterplateau suchten. Ihre Gewandungen schwebten über die blankpolierten Böden, schienen kaum mehr als Nebelschleier zu sein und verhüllten doch jegliche Details ihrer Körper. In den Händen trugen sie Krüge aus verzierten Tonscherben unterschiedlichster Farben, in deren Bäuchen sich unser kostbarstes Gut befand: Wasser.

Wasser, das den Göttern geopfert werden sollte.

Wasser in zerbrochenen Tonkrügen, die dereinst wieder zusammengefügt worden waren – so wie auch die Götter eine zerbrochene Welt fügen würden.

Aus den höheren Lagen der Tempelanlage erhob sich ein düsterer Chor aus männlichen Stimmen, deren Urheber in den versteckten Emporen verborgen standen und die Atmosphäre in demutfordernde Vibrationen versetzten. Die tiefen Klänge schienen die Luft zu durchdringen, wellengleich auf die Körper der Gläubigen zu sinken und als Schwingungen in ihren Muskelfasern widerzuhallen. So schunkelten die Schlafwandler mit einem Male im gleichen Rhythmus und gaben sich der Liedbeschwörung des Chores hin.

Auch meine Nervenbahnen reagierten mit Spannung. Mir war, als durchzuckten mich winzige Blitze, als würde ich von einem aufkommenden Gewitter durchflutet werden und müsste indessen sämtliche Muskeln zu steinernen Klumpen ohne Funktion anspannen. Lediglich die Beipriesterinnen schienen sich dem Zauber der Zeremonie erwehren zu können und setzten ihren Weg zur Mitte des Priesterplateaus fort, während sich ihre weiblichen Stimmen über die männlichen Gesänge legten.

Mit belegter Brust verfolgte ich die feenhafte Anmut der Frauen. Sie drehten sich um die eigene Achse, schwebten über die Marmorböden und ließen ihre Gewänder in den Bewegungen fliegen, bis der Raum gänzlich von den weißen Schleiern erfüllt schien, bis sämtliche Luftpartikel um die Kleider tanzten und den Stoff wie gefallene Blätter im Winde trugen. Dann knieten sich die Frauen zu den Füßen der Hohen und reckten die Krüge über das Haupt, sodass die Gefäße auf Höhe ihrer Hüfte schwebten.

Welch eine Kraft es wohl erfordern mochte, diese Position über den Zeitraum der Zeremonie zu halten? Wie viele Jahre der Übung es wohl erfordern mochte, die Wasserkrüge leicht wie eine Feder vor den Augen der Bevölkerung wirken zu lassen?

Schon immer hatte ich die Leichtigkeit jener gefrorenen Momente bewundert. Ein scheinbares Standbild – und doch ein Kraftakt, der nicht wie ein Kraftakt anmuten wollte.

Der Augenblick, der den wahren Zenit jener Gebete markierte.

»Ich rufe die Dreigottheiten bei ihren Namen«, erhob die Hohepriesterin erstmalig das Wort … und ihre Stimme echote in die tiefsten Winkel der Halle, sodass sich ein Mantel der Wärme über den Tempel legte. »Ich rufe Zeit – Göttin unserer Gegenwart, Schöpferin der Vergangenheit und Hüterin unserer Zukunft, die Göttin der Geschehnisse, die Göttin, die den Lauf der Zeiten schenkt, die ihn schenkt, ohne ihn jemals zu lenken. Ich rufe Geist – Gott unseres Glaubens, Erschaffer des Wissens und Weber der Handlung, den Gott der Taten, den Gott der Götter, der unser Schwert lenkt wie unseren eigenen Geist. Ich rufe Zufall – Göttin unserer Leben, Pfadbereiterin der Lebenswege und Element der Unberechenbarkeit, die Göttin des Chaos, der Würfel und Waagenspiele, die Göttin, die über jede Vorherbestimmtheit und Schicksalsgabe erhaben ist. Ich rufe die Dreigottheiten bei ihren Namen, um sie in unsere Mitte treten zu lassen! Zeit, Geist, Zufall – weilt unter uns Menschen, seid unsere Gäste und nehmt unser Opfer.«

Als ihre Worte zwischen den Säulen und Steinen verhallten, neigten die Beipriesterinnen ihre Krüge ein wenig nach vorn und entließen ein stetig fließendes Rinnsal auf die Marmormuster des Tempelbodens. Während sich die Gefäße langsam leerten und immer weiter, immer mehr dem Wasser nach neigten, sammelte sich das goldgleiche Gut des Lebens in einer Lache vor den Knien der Frauen und rann über die Treppenstufen zu den Menschen hinab. Dort schien es zwischen den Spalten der Steinplatten zu versickern, als würde es tatsächlich von höheren Mächten genommen.

»Wir bitten euch, schenkt uns Regen«, intonierte das Volk.

»Wir bitten euch, schenkt uns Zukunft«, intonierte auch ich.

»Wir bitten euch, gewährt uns Gnade«, intonierten wir alle.

Da mochte ich den Göttern noch so wenig das auf dem Tempelboden versiegende Wasser vergönnen, meinen Respekt vor den Menschen in diesen Räumen … den hatte ich mir seit jeher bewahrt. Also stimmte ich in die sinnlosen Floskeln mit ein und folgte dem Rhythmus der betenden Priester, die allesamt in einem Land fremder Sphären der Realität entglitten schienen.

Unaufhörlich plätscherte Wasser über die Stufen, formte wasserfallgleiche Vorhänge vor den Marmorsteinen und musste letztlich seinen lebensspendenden Zweck an die Opferschlitze zu unseren Füßen verlieren.

»Gütige Götter«, rief die Hohepriesterin über die Gebetswellen der Zeremonienteilnehmer hinweg, »nehmt unser Opfer und schenkt uns den Regen, denn unsere Vorräte in den Katakomben gehen zur Neige. Segnet auch die kommenden Säuberungen, die unsere Soldaten euch zu Ehren führen werden. Wir tilgen die namenlosen Götter vom Lande, die eure Namen in den Schmutz ziehen wollen, die euren Glanz mit dem Staub der Wüste zu verhüllen und eure Schöpferkraft infrage zu stellen gedenken. Schenkt unseren Soldaten die nötige Stärke, diesen Einsatz zu euren Gunsten zu zeigen und die Welt in einen reineren Ort zu verwandeln!«

»Wir bitten euch, schenkt uns Regen«, intonierte das Volk.

»Wir bitten euch, schenkt uns Zukunft«, intonierten sie weiter.

»Wir bitten euch, gewährt uns Gnade …«

Doch mir war bei den Worten meiner eigenen Mutter mit einem Male der Respekt vor den Inkantationen vergangen. Die Gebetswellen verwandelten sich in ein unklares Rauschen, das in der unklaren Artikulation an Bedeutung verlor und schließlich in meinen Ohren verlosch; verlosch wie das Feuer des Glaubens zuvor. Lediglich die letzten Worte der Hohepriesterin brannten sich mit aller Macht in meine Gedanken, ließen mich vor Schreck fast zusammenfahren und jagten meinen Puls in ungeahnte Höhen. Die Tempelanlagen schienen sich vor meinem Sichtfeld zu drehen, als ich die Worte im Geist erneut wiederholte und deren Bedeutung zu erfassen versuchte.

Ob ich die Bitten an die Götter wohl recht verstanden hatte? Ob sie tatsächlich …?

Mein Gefühl ertaubte und die Welt rückte fern.

Säuberungen?

Sie planen Säuberungen?!

***

Die bunten Blütenköpfe des Priestergartens nickten sanft im Keim eines Luftzuges, der sich säuselnd seinen Weg durch die Säulengänge suchte und die fleischigen Blätter der Feigengewächse umspielte. Wie eine Fata Morgana flimmerten die Eindrücke des kleinen Paradieses durch die Sommerluft und trugen allerlei Düfte von Zitrusfrüchten oder Kräutern an mich heran, sodass ich einen tiefen Atemzug in meine Lungen strömen ließ und meine Gedanken für eine Weile zur Ruhe zwang.

Nach den Zeremonienbitten war die Furcht einem rastlosen Folterknecht gleichgekommen.

Säuberungen.

Ein einziges Wort, das mir eiskalte Schauer über den Rücken zu jagen vermochte – selbst, da die Hitze unser Land mit Dürre und Wüstensand überzog. Ein einziges Wort, das so viele Assoziationen in mir erweckte und mich vor der zukünftigen Aufgabe furchtschlotternd in die Flucht zu schlagen vermochte.

Ich wusste sehr wohl, welch Unglück die Formulierung verkünden wollte. Welch eine gewichtige Bedeutung dem Wort innewohnte.

So hatte ich das Spektakel der Gläubigen ohne weitere Worte verlassen, war in die Gartenanlage des Priesterpalastes geflüchtet, bloß, um dort auf einer der Marmorbänke zu sitzen und meinen finstersten Ängsten zu erliegen.

Säuberungen.

Entgegen all meiner Mühen ballten sich meine Hände zu Fäusten und bearbeiteten mit nervösen Bewegungen die Leinentunika, die unter dem Brustpanzer meiner Soldatenrüstung lugte. Ich bohrte die Fingernägel in die Gewebestrukturen, presste den roten Stoff so fest als möglich zusammen und hielt mich daran fest, als könnte ich tatsächlich Halt an einem bedeutungslosen Kleidungsstück finden. Als wäre die Gewandung mein letzter Anker vor dem Wahn, ja, als könnte sie mich vor den Bildern des Schreckens bewahren, die im Rahmen der Säuberungen auf mich einprasseln würden. Als würde es etwas verändern.

Die Wahrheit: Nichts und niemand würde mich vor diesen Bildern bewahren.

Nicht einmal ich selbst. Ich war Soldat.

Ich würde meine Hände im Blut der Namenlosen tränken, da die Zeit der Gräueltaten gekommen war und mich zur Pflicht meiner Berufsgruppe rief. Meine eigenen Hände würden das Leben der Stammesangehörigen aus deren Körpern reißen und ein Schwert durch ihre vermeintlichen Ketzerherzen stoßen, während sie den Dienst an ihren Göttern verrichteten. Allein, weil deren Götter nicht die unseren waren.

Man hatte mir viele Geschichten über die Säuberungen erzählt. Als die Zeit der vergangenen Maßnahmen näher rückte und man von Säuberungszügen berichtete, da war es mir noch immer möglich gewesen, mich hinter dem Argument der Volljährigkeit zu verstecken und nicht mit den Soldaten durch die Tore der Stadt auf das Land der Namenlosen zu gehen. Doch nun lag der fünfundzwanzigste Lebenssommer bereits über ein Jahr hinter mir, ließ mir keinerlei Argumente, die mir gestatteten, mein größtes Geheimnis noch länger zu hüten.

Die Säuberungen sollten es offenbaren: Es war mir nicht möglich, einen Menschen zu töten.

Ich konnte nicht. Ich war schlichtweg nicht dazu in der Lage.

Nicht, dass ich keinen Versuch gewagt hätte, mich mit dem Gedankengut meines eigenen Volkes anzufreunden oder die Heiligkeit hinter ihren Handlungen zu erfassen. Nicht, dass ich mich nicht unter ehrlichen Mühen zum Verständnis meiner Welt gezwungen hätte – nein, ganz im Gegenteil!

Des Nachts erdachte ich mir zu Übungszwecken die verschiedensten Tötungsszenarien, erprobte mich an der unüberwindbaren Hürde meines Geistes und scheiterte selbst in meiner Vorstellungskraft an dem einen Moment, da mein Gegner das Leben aushauchen sollte. Ich konnte und wollte das dehnbare Moralgefüge meiner Welt nicht mehr verstehen, konnte und wollte niemanden aufgrund seiner Gesinnung töten oder ihm auf andere Weise Schaden zufügen.

In einer Welt aus Privilegien, Privilegienwahrung und Mordlust … da schien mein Gedankengut einem gefährlichen Tanz auf Messers Schneide gleichzukommen.

Säuberungen blieben die religiöse Tradition der Soldaten. Eine Tradition, die unsere Männer zu den Toren der Stadt hinausführte und in ihrer Vernarrtheit des Glaubens zwang, einen ganzen Reiterstamm zu Gefallen der neuen Götter zu meucheln.

Ich wollte nicht an den Säuberungen teilnehmen … und doch wusste ich: Eine Wahl war mir nicht mehr vergönnt.

Mit hämmerndem Schädel ließ ich meinen Blick über den Priestergarten schweifen, konzentrierte mich auf die wippenden Blütenköpfe und versuchte, die Sorge im friedlichen Anblick der künstlichen Oase zu ertränken. Wie ein Traumgebilde legte sich die Natur zwischen Marmormauern und täuschte über die Realität der Wüste außerhalb der Bereiche hinweg, als verleugnete sie vehement die Existenz von Sand, Tod und Staub. Da waren ganze Meere von Jasminbüschen mit weißen Sternen, deren Kelche aus der Entfernung bloß kleine Punkte auf den dunklen Hintergrund zauberten; zahlreiche Sukkulenten, die sich an die Füße steinerner Statuetten schmiegten und an den Bewuchs vor den Stadttoren erinnerten. In Leinen gehüllte Marmorfrauen, die sich mit Schalen über einen Zierbrunnen beugten. Unverhüllte Marmorfrauen, die in ebenjenem Brunnen zu baden schienen.

Es erinnerte an ein menschengemachtes Paradies auf Erden.

So ganz ohne Sorgen. So ganz ohne Not.

Doch in diesen Minuten verwandelten sich die Eindrücke in ein schales Abbild des sonst so bunten Gemäldes, das sich zwischen den Säulenwüsten der Stadt erhob und mit süßen Versprechungen eines besseren Lebens lockte. Selbst die Düfte, die für gewöhnlich meine Sinne glückselig stimmten, verwehten zu einem traurigen wie farblosen Abdruck des Kleinods.

So sehr ich mich zwang … vergessen konnte ich nicht.

Mit gerunzelter Stirn beobachtete ich eine der Priesterinnen beim Wässern der Feigen; beobachtete ihren Weg von den Säulengängen bis hin zum Zierbrunnen im Zentrum des Gartens und vermochte nicht, ihr honigsüßliches Lächeln auf den Lippen nachzuvollziehen. In kindlicher Sorglosigkeit setzte sie ihre nackten Füße auf das Gras, tanzte förmlich durch den Hof und führte den mit Wasser gefüllten Scherbenkrug an jeden Feigenstamm. Das kühle Nass glitzerte in der Mittagssonne, wie es da an den Pflanzen hinunter zu rinnen begann. Wie von Tau beperlt schienen plötzlich die Blätter.

Tau …

Wohl ein fast vergessener Mythos.

Die Priesterin selbst störte sich nicht an meinen Blicken, blinzelte ganz verzückt auf ihr Werk und wandte sich dann um die eigene Achse, um den Krug am Zierbrunnen erneut aufzufüllen. Ihre Hand tauchte in die schillernde Oberfläche und trieb eine Weile in der Schwerelosigkeit des Elements vor sich hin. Sie genoss den Moment, während ich die Welt im Stillen verfluchte.

Ob ich mich wohl ähnlicher Unbeschwertheit hätte hingeben können, hätte ich nur meinen Glauben an die neuen Götter gefunden? Ob aus mir ein anderer Mensch geworden wäre, würde sich die Frage nach dem Sinn hinter den Dingen … ja, würde sich diese Frage nicht unablässig in meinen Geist bohren, mich quälen, mich foltern?

Ein kurzer Augenblick, ein Wimpernschlag, ein Blinzeln des Kosmos, da ich Neid auf diese Person verspürte. Auf die Priesterin, deren Namen ich nicht einmal kannte. Auf all diejenigen, die nicht sahen, was längst meine Realität geworden war.

»Daegon!«

Sämtliche Muskeln meines Körpers zogen sich in einer Schockreaktion zusammen, als mich die Stimme der Hohepriesterin aus den Gedanken riss. In einer raschen Bewegung wandte ich mich zur Seite, linste in die Dunkelheit des Säulenganges hinein und entdeckte die Silhouette meiner Mutter, die sich allmählich dem Kunstgarten näherte. Ihre Schritte folgten einem energischen Takt, während sie die letzten Meter zu mir überbrückte. Dann traten ihre Füße aus dem Schatten des Vordachs und enthüllten ihre Gestalt dem Licht der Sonne, sodass ihre blauen Augen förmlich zu leuchten begannen.

Leider nicht im Guten. Vielmehr in Sorge.

Mutter raffte ihr Hohepriestergewand in die Höhe, suchte sich einen ebenen Weg über die Grünfläche und stellte sich neben der Marmorbank auf. Einige Augenblicke blieb sie wie versteinert und hielt den Zeigefinger im Ansatz einer Geste, als wollte sie mich abermals an eine der Steinstatuetten erinnern; letztlich überwog die Emotion den Keim der Zurechtweisung. Mutter ließ ihren Finger sinken und schlug die Zeremoniengewandung zur Seite, um sich neben mir niederlassen zu können.

Ich selbst fühlte mich mit einem Male bewegungsunfähig. Die Erinnerung an mein Verschwinden während eines Götteropfers blieb bildhaft bestehen, sodass ich den ersten Impuls der Priesterin sehr wohl für mich zu deuten wusste. Ebenfalls erahnte ich die zurechtgelegten Rügenreden und die geplante Zurechtweisung des eigenen Kindes, das gegen die Norm der Gesellschaft verstoßen hatte.

Nichts dergleichen geschah.

Stattdessen war ein helles Seufzen der Sorge aus ihrem Mund zu vernehmen, als sie die Hand an meine Wange legte und mit verwässerten Blicken in mir zu lesen gedachte.

»Weshalb hast du die Zeremonie vorzeitig verlassen, Daegon?«

Mutters Pupillen zucken unkontrolliert über mein Gesicht, als versuchte sie, sämtliche Ausdrücke in Sekundenbruchteilen zu erfassen. Dann legte sich ihre Stirn in Falten, zog die Augenbrauen gleich mit in die Höhe und verriet mir sämtliche Szenarien, die sie im Geist bereits durchgespielt hatte. Sie kannte mein Geheimnis. Ihr Schmerz überwältigte mich.

»Hätte jemand dein Verschwinden bemerkt und deinem Vater Bericht erstattet – gute Götter, nicht einmal auszudenken!«

Ich entzog mich der unangenehmen Berührung und nahm ihre Hand in die meine, sodass es meiner Mutter unmöglich war, die sichere Distanz, die errichtete Mauer, ohne weitere Mühen zu überbrücken. Obwohl ich in ihr meine letzte Vertraute im Chaos der Welt sah und den Schmerz jener Frau als eigenes Leiden empfand, so war uns diese Mauer immer geblieben. Diese eine Grenze, die wir uns nicht zu übertreten gestatten wollten.

»Du weißt, weshalb ich gegangen bin«, murmelte ich in die Stille. »Du hast im Verlauf der Zeremonie neue Säuberungen angekündigt und nicht ein Sterbenswort im Voraus verraten, mich nicht zuvor darüber in Kenntnis gesetzt oder zumindest eine Andeutung fallengelassen. Ich war unvorbereitet. Dementsprechend war es ein Schock. Ich bin nicht bereit, auch nur einen der Stammeskrieger im Namen der Götter zu ermorden oder einen der Wilden als Sklaven zu halten. Ich bin nicht bereit, im Namen einer vermeintlich höheren Macht zu töten, an deren Existenz ich nicht einmal glaube. Ich kann das nicht.«

»Daegon …«

Mutters Hand schloss sich fest um meine Fingerspitzen und versprach mir den Halt, den ich bei mir selbst nicht gefunden hatte … den ich noch immer vergeblich zu finden versuchte. Dennoch blieb der anklingende Vorwurf unüberhörbar, wie sie mich da auf eine unmissverständliche Weise bei meinem Namen nannte. Sämtliche Fragen schienen in die Artikulation eines einzigen Wortes gepresst zu werden, sodass ich die Anklage tausendfach in meinem Geist flüstern hörte und mich einer Antwort nicht mehr entziehen konnte. Eine Antwort auf die Frage, ob ich denn nicht einmal über meinen Schatten springen und meine Furcht vor dem Töten hinter mir würde zurücklassen können. Eine Antwort darauf, ob ich denn tatsächlich mein eigenes Leben riskieren wollte, indem ich mich meinen vermeintlich falschen Moralprinzipien ergab.

Denn nichts anderes würde geschehen, sollte ich die Säuberung ausschlagen.

Man würde mich zweifelsohne hinrichten lassen – als Fahnenflüchtigen, als Sympathisanten, als denjenigen, der nicht nach den Regeln spielte.

Allein die Liebe meiner Mutter hatte mich bisher vor solch einem Schicksal bewahrt, mich durch die dunkelsten Täler getragen und vor den kritischen Blicken der anderen Soldaten verborgen. Nun sollte ich dieses eine Mal die Schrecken der Säuberung überwinden und als rechte Hand der Ungerechten agieren, als hätte ich niemals Zweifel an deren Taten gehegt? Für sie – so lauteten sie doch, die Gedanken!

»Du weißt, was es bedeutet«, flüsterte Mutter erkennend und senkte ihren Blick auf unsere Hände.

Ihr Daumen fuhr in kreisenden Bewegungen über meine Handrückenfläche, jagte prickelnde Impulse durch mein Nervensystem und machte mich glauben, ich hätte soeben das schlimmste Verbrechen an ihr begangen.

Ach, verflucht seist du, mein Herz!

Ich richtete meinen Blick in die Ferne des Priestergartens und suchte den einen Punkt in meinen Gedanken, an dem sich das Chaosgebilde des eigenen Herzens lösen sollte, an dem all meine Sorgen auf einen allumfassenden Sinn streben würden … Doch dieser Punkt existierte nicht.

»Ich liebe dich, Mutter«, konstatierte ich leise. »Ich würde für dich die Feuer deiner Götter durchqueren und die finstersten Schächte unserer Katakomben durchdringen, würde selbst meinen übermächtigsten Dämonen entgegentreten und meine eigene Seele im Zuge der Säuberungen verpachten, doch bitte ich dich inständig: Verlange es nicht von mir. Ich habe zu deinem Schutz viele Dinge getan und bereue bis heute nicht, dass ich die Ausbildung für dich abgeschlossen habe. Ich bin ein guter Kämpfer geworden, damit Vater seinen Ruf als Senator nicht zu Grabe tragen muss und dir die Schuld hierfür anlasten kann. Aber ich bin kein Mörder. Missbrauche nicht meine Gefühle.«

Als meine Worte in der Weite des Gartens verklangen, spürte ich die unmissverständlichen Zuckungen der Frau neben mir. Ihr Körper krümmte sich in gramgebeugter Haltung nach vorn, während sie die Hand aus der Umklammerung löste und ihre Miene dahinter zu verbergen versuchte. Ihr Brustkorb blähte sich in den unterdrückten Schluchzern, zitterte wie von ihren eigenen Dämonen durchdrungen und entließ schließlich einen Klagelaut in die Stille.

»Und ich kann dich nicht verlieren«, wimmerte sie. »Ich kann dich nicht gehenlassen, Daegon.«

»Mutter!«

Mit einem erschreckenden Male verwandelte sich das Antlitz der sonst stolzen Hohepriesterin in die Miene eines jungen Mädchens, das von all ihren Lieben verlassen auf einer Marmorbank im Priestergarten harrte. So schmolzen die Jahre der Macht binnen Sekunden dahin, vergingen wie Butter in der Hitze auf dem Land der Namenlosen und verflossen in den Tränen der trauernden Frau, die einen Todgeweihten vor seinem Tode beweinte.

»Mutter …«

Als ich mich von meinem Platz erhob und mit schmerzverzogenen Brauen die Gestalt musterte, die sich ohne inneren Kampf den Eindrücken ihrer Trauer ergab … da schien der Moment meiner Entscheidung gekommen.

Mutter hatte den Kampf vor seinem Beginn aufgegeben.

Obgleich ich mich vor den eigenen Wunden fürchtete und selbst dem Spiel dieser Welt ein Schnippchen schlagen wollte, war mir die Wahl des Kampfes durch die Tatsachenlage genommen worden.

Sie ist nicht stark genug.

Sollte ich mich weigern, wird auch sie meinen Tod nicht überleben.

Erneut ballten sich meine Hände zu Fäusten und verwandelten sich in erdrückendes Steingewicht, wie ich mich da so vor den Scherben zweier zerstörter Existenzen wiederfand. In den Trümmern toter Hoffnung lagen zwei Seelen, deren Leben sie abermals zu Boden ringen wollte … deren Leben sie vor einen Scheideweg stellte und auf unbarmherzige Weise zwang, sich zu stellen; sich zu stellen … oder den Tod zu erleiden. Ein Mann hatte uns in den Staub getreten … und so blieb es an uns.

»Ich komme wieder«, flüsterte ich. »Mutter, ich komme wieder.«

Mit diesen Worten kehrte ich der weinenden Frau den Rücken und rang den aufsteigenden Zorn in mir nieder. Ich sollte aus Liebe meine Seele verkaufen, meine Furcht vor den eigenen Taten überwinden, meine Prinzipien von den Klippen ihrer Hoffnungslosigkeit stoßen … und ja, obgleich mich all diese Dinge schreckten …

»Ich muss zur Wasserwache … aber ich komme wieder.«

Die Rose im Staub

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