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Kapitel 2

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Nakhara

Land der Namenlosen

Eine erdrückende Hitze hatte sich um meinen Körper geschlagen und schien meine Extremitäten mit Blei zu befüllen, als ich unter flatternden Lidern gegen das erste Tageslicht blinzelte. Zwischen den einzelnen Sichtsequenzen sah ich eine runde Zeltöffnung über mir schweben, sah wolkenloses Blau hinter den Leinenplanen und nahm auch den erbarmungslosen Hauptstern wahr, der mit aller Macht seine Wärme auf das Land der Namenlosen entsandte. Noch schwebte ich zwischen Traumwelt und Realität. Der Morgen lastete in meinen Gliedern.

Doch fühlte ich bereits die nassdurchtränkten Stoffe unter meinen Händen, fühlte mich selbst, als würde ich in einem Ozean meines eigenen Albtraumschweißes davontreiben müssen. Die Leinen verwandelten sich in windgetragenes Wüstengras … und schon fand ich mich in einem altbekannten Lähmungsgefühl, das mich seit einigen Wochen nach dem Erwachen zu quälen pflegte.

In diesen Momenten siegte noch einmal die Furcht der Nacht über mich.

Die Erinnerung an das furchtbare Unglück, das sich vor den Toren der Legendenstadt Gwerdhyll ereignet hatte.

Mit geschlossenen Augen verwandelten sich die Erinnerungen in realitätsnahe Bilder, die vor einer schwarzen Leinwand tanzten und all die zerrütteten Gefühle an die Oberfläche meines Bewusstseins schwemmten. Da waren Wellen von Städtern auf galoppierenden Pferden, die über die Körper meiner Familie fegten, die Krusadh mit einer Lanze durchbohrten und mich über Steppenfelder hetzten. Unzählige Hufe von aufgewiegelten Tieren, die in ihrer Panik über das Land trampelten, die über die Leichen der getöteten Männer stolperten und ihr Blut im Sand der Wüste verteilten.

Noch einmal. Mein Sturz. Der Moment, als meine Rüstung ins Körperinnere gedrückt worden war.

Noch einmal. Krusadh. Der junge Reiterkrieger, der von einer Lanze durchschlagen wurde.

Der Schmerz. Unerträgliche Folterqualen des geschundenen Leibes, auf den nur mehr der Tod lauerte.

Jharrns entstelltes Gesicht über dem meinen.

Der Geruch von Blut …

… und …

… Ohnmacht.

Eine solche Machtlosigkeit!

Eine ähnliche Ohnmacht verspürte ich gegenüber jenen Erinnerungsfetzen, die sich ohne mein Zutun in meine Nachtträume schlichen und den Schlaf in eine Zeit der Qualen verwandelten, die sich des Morgens noch immer an meine Bettkante hockten und mir leise ans Ohr flüsterten; die mir flüsterten, wie machtlos ich doch im Grunde blieb. Tausende Stimmen mit albtraumfarbenen Klängen umkreisten meinen letzten Ankerpunkt in der Welt, als wollten sie sich im nächsten Moment darauf stürzen und den kläglichen Rest meiner Menschlichkeit wie Wildhunde in der Weite zerreißen. So schwebte ich minutenlang zwischen Albtraum, Folter und Realität, ehe sich die traumatische Starre aus meinen Gliedern löste und meinen Körper endlich den geregelten Gedankengängen unterwarf.

»Verflucht«, murmelte ich schließlich bei mir selbst.

Ja, mein Körper galt als geheilt. Meine Seele, die bedurfte einer längeren Heilung.

»Ich muss einfach nur aufstehen«, intonierte ich weiter mein Mantra und hoffte auf tatsächliche Linderung darin. »Dann kann der Schlaf mich nicht holen. Dann verschwinden die Bilder.«

Mit zitternden Atemzügen kehrte ich der Zeltöffnung über mir den Rücken, als könnte ich auf diese Weise auch den Erinnerungen an den Vorfall vor Gwerdhylls Toren den Rücken kehren. Ich zog mich an einem Stoffballen zur Seite, drehte meinen Körper in penibelster Vorsicht auf dem Lager und versuchte, einen ungünstigen Kontakt mit meinem Brustkorb zu vermeiden. So stützte ich meinen Ellenbogen unter die unfallversehrte Stelle, raffte mich möglichst schnell in eine Sitzposition und verharrte noch eine Weile auf den äußeren Begrenzungen des Deckenlagers.

Obwohl der Rippenbruch von der Stammesältesten versorgt worden war, bildete ich mir so manches Mal ein, in der Berührung wieder Schmerzen zu spüren. Als würden erneut die verhärteten Lederränder zwischen den einzelnen Knochen hindurchgeschoben, als drückte erneut ein Felsbrocken die Knochenkanten auseinander und zertrümmerte daraufhin die rechte Körperseite. Zu bildhaft blieb der Gedanke an die Wochen der Heilung, die ich auf einem Lager im Zelt hatte verbringen müssen.

Bettlägerig. Schwach. Verletzlich. Gescheitert.

Höchstwahrscheinlich die schlimmsten Wochen meines jungen Lebens, zumal ich mit den stechenden Gefühlen der Schuld mehr als nur einmal konfrontiert werden sollte. Jharrn und ich waren schwerverletzt zum Lagerplatz des Stammes zurückgekehrt, hatten auf ein Lebenszeichen der Reiterkrieger geharrt und doch nur zwischen Delirium und Todeskampf dem fernen Singen der Dünen gelauscht. Letztlich war uns eine medizinische Behandlung durch die Stammesälteste zuteil geworden, während die Stimmen der anderen im Wüstenwind verhallten und auf ewig als Erinnerung im Sand verblassten.

Man fühlte sich schuldig, am Leben zu sein. Am Leben, während andere niemals zum Stamm zurückkehren konnten. Als hätte man die Familie im Stich gelassen … obwohl man wusste, dass ihre Leben längst zu Stimmen der Vergangenheit geworden waren.

»Ach, verflucht, vergiss es endlich, Nakhara!«, presste ich noch einmal hervor und donnerte mit der flachen Hand auf das Kissen zu meiner Rechten.

Umgehend wurde eine lose Feder in die Luft katapultiert, schlug einige Kapriolen in der Schwüle und schwebte dann in seichten Bewegungen zu Boden, um letztlich als bewegungsloses Objekt auf dem Teppich des Zelts zu enden. Die feinen Ausläufer zitterten im säuselnden Zugwind, der sich wie ein heimlicher Besucher unter den Zeltleinen hindurchstahl und den graugefleckten Flaum mit seinem Atem umspielte. Ich blickte eine ganze Weile auf die reglose Feder, als hätte ich darin meinen Fokus verloren.

Doch im Grunde …

Seit dem Unglück hatte ich kaum einen Fokus besessen.

Es schien meinem einzigen Glück gleichkommen zu wollen, dass man mich erneut zum Wasserdiebstahl zugelassen hatte und am heutigen Tage mit den anderen Dieben gen Gwerdhyll zu senden gedachte. Die Stammesälteste war noch am Vorabend in mein Zelt getreten. Man betraute mich mit einem neuen Versuch unter den erfahrenen Männern, so hatte sie in wissenden Worten zu mir gesprochen und mir mit ihrer Ansprache endlich Hoffnung in die Hände gelegt. Denn auf diese Weise war mir eine Aufgabe zuteil geworden, die mich für einen Tag aus den Sümpfen meiner Grübeleien entführte, die mir die kostbare Möglichkeit verlieh, mich meinen Angstbildern Auge in Auge zu stellen.

Heute geht es los. Und danach … danach ist alles besser.

Seit dem Vorabend wiederholten sich die beruhigenden Floskeln wieder und wieder in meinem Schädel, sagten mir, dass mit einer neuen Gelegenheit alles besser werden würde und ich mich lediglich meinen Ängsten stellen müsste, dass ich an den Ort der Schrecken zurückkehren und mit einem Erfolg im Rücken heimkommen sollte, dass die Erinnerungen unter den Bildern des Erfolges verblassten und mit den toten Körpern unter dem Wüstensand begraben sein würden. Ob ich mich in diesen Floskeln schlichtweg in trügerischer Sicherheit wog oder tatsächlich an die Wahrheit meiner eigenen Worte glaubte?

So manches Mal war ich mir bei mir selbst gar nicht sicher. Ich hegte nur eine Gewissheit: Ich wollte wieder nach Gwerdhyll.

Denn andernfalls wäre ich längst Kind des Wahns.

Mit entschlossenen Bewegungen stemmte ich mich in die Höhe, suchte mit der Hand Halt an der Hauptstange meines Zeltes und genoss das Gefühl der schwindenden Müdigkeit. Mochte der Schlaf auch Macht über meine Gedanken ausüben können, so blieben die Tage noch immer mein Eigen, blieben meine Zeit – ungeachtet der Schrecken. War einmal der Schritt in die Realität getan und verblassten die furchtbaren Bilder der Nacht, verwandelte sich auch meine Umgebung in eine farbenfrohere Welt und führte mich mit Düften der Vertrautheit zurück ins Leben.

Es ist alles wie immer. Es ist alles in Ordnung.

Ich schloss meine Finger fest um die Rundung der Zeltstange, blickte mich in den Räumlichkeiten um und versuchte, wieder bei mir selbst anzukommen. Seit mein Stamm das Nomadenleben aufgegeben und sich in der Nähe von Gwerdhyll niedergelassen hatte, waren in meinem Zelt kaum Änderungen vorgenommen worden. Hellbraune Leinenverkleidungen flatterten in ihren Verankerungen, als stemmten sie sich der Macht des Wüstenwindes entgegen und trotzten der Natur mit steinernem Willen. Da waren weitere Stangenkonstruktionen, die meinen Lederschutz wenige Zentimeter über dem Teppichboden schweben und die zusammengeschusterte Tracht der Wasserdiebe vor einem Zeltschnitt an der Wüstenluft trocknen ließen. Dunkelbraune Stiefel an einem Haken, der die Schnürsenkel wie einen skurrilen Schnurrbart zu tragen schien. Der schale Geruch von Schweiß in der Luft. Die verblassende Note von Salben unter Verbänden.

Meine Hose baumelte über einer Spannleine in der Mitte des Zelts und schlackerte gegen meine Tongefäße an selbstgedrehten Schnurkonstruktionen, die in den Erschütterungen der Außenwelt leise klapperten. Trockene Kräuter raschelten in ihren Krügen, verhedderten sich mit ihren dornenförmigen Blättern ineinander und ließen ein verheißungsvolles Knistern erklingen. An diesem Tage schien der Wind außergewöhnlich laut mit den Stämmen des Ostens zu sprechen, ja, schien eine wichtige Botschaft verkünden zu wollen, die ja doch kein menschliches Ohr zu verstehen vermochte.

Und obwohl ebendieser Tag auf seine ganz eigene Weise besonders erscheinen wollte, so strahlte mein Heim doch eine befriedende Vertrautheit aus, ein wohliges Gefühl für zu Hause, das mir kein Städter und kein Blut jemals zu entreißen vermochte.

»Nakhara?«

Ich unterdrückte einen erschrockenen Ausruf, als eine tiefe Stimme unmittelbar hinter der verschlossenen Zeltfront erklang. Trotz der dünnen Leinen verlor sich die Lautstärke in den Stoffen und drang lediglich dumpf an mein Ohr, sodass ich den Urheber nicht sofort zu identifizieren vermochte. Die raue Sprachmelodie erinnerte an windgetriebenen Sand auf Gestein.

Mein Herz stolperte unglücklich über den eigenen Rhythmus.

»Jharrn?«, mutmaßte ich vorsichtig in die Stille hinein, während ich die Silhouette des Mannes an der Zeltwand betrachtete und umgehend mit der Erinnerung an ein wundenzerfressenes Antlitz zu kämpfen hatte.

An ein zerstörtes Gesicht, das sich über mich beugte.

»Geht es … geht es los?«

Der Wassermeister ließ seinerseits ein gedämpftes Brummeln erklingen, als hätte er die Unsicherheit in meiner Frage bei sich interpretiert und meine Gedankengänge auch ohne weitere Artikulationen erraten. Der verwaschene Schatten entfernte sich einige Schritte von den Leinen und sank wie eine verdurstende Pflanze in sich zusammen, während Jharrn mit der Erkenntnis zu hadern schien. Die Erkenntnis, zu einem Abbild des Schreckens für sämtliche Stammesmitglieder und indessen zu einer wandelnden Erinnerung an den Vorfall geworden zu sein.

Jharrns Gestalt, seine Stimme … All diese Eindrücke jagten meinen Puls in einen gehetzten Galopp. Er selbst sollte nicht minder unter den Verletzungen leiden. Denn obgleich seine Wunden verheilten und die Schmerzen aus seinem Körper getilgt werden konnten, so blieb ihm doch nur mehr eine Hälfte des einst so begehrten Gesichts … und nur ein Auge, um die Schönheit seiner geliebten Steppe zu sehen.

»Nein, noch bleibt etwas Zeit bis zum Aufbruch. Ich könnte … mich umdrehen, während wir miteinander sprechen«, schlug die Stimme hinter den Leinen in gebrochenem Tonfall vor. »Vielleicht ist es noch zu früh, um …«

Seine Worte versiegten.

Mit einem Male fühlte ich einen Stich in meiner eigenen Brust, wie ich da die Qualen in der Aussprache des Wassermeisters vernahm. Obwohl Jharrn mich seit meiner Ernennung zur Wasserdiebin stets mit einer gewissen Respektlosigkeit bedacht und mich wie seine Gefolgsreiter als die Frau unter den Männern mit bösen Zungen gestraft hatte, so konnte ich mich dem Mitleidsgefühl nicht mehr erwehren. Sein Abbild vor den Stammesmitgliedern wandelte sich mit jeder Minute zu dem einer neuen Person, die zwar mutig den Städtern als Held gegenüberzutreten wagte … jedoch menschlich eher gemieden wurde. Die Frauen – allesamt, wie sie zu den Füßen des Meisters gelegen hatten – suchten sich andere Wege durch das Lager des Stammes, so Jharrn nur in der Nähe ihrer üblichen Pfade gesichtet wurde.

Sein Leben veränderte sich. Als müsste der Wassermeister nun am eigenen Leibe erfahren, wie ich unter den Männern des Stammes empfunden hatte ... Als ließen die Götter ihn dasselbe Schicksal erleiden. Als wäre er ein Aussätziger.

Aus ebendiesem Grunde konnte ich seinen Schmerz durchaus bei mir nachempfinden, wusste um die zahlreichen seelischen Wunden und wusste auch um die Demütigungen, die gern hinter dem Rücken des Betroffenen geflüstert wurden. Zudem wäre mein Körper ohne Jharrns Einsatz wohl längst unter dem Wüstenstaub vertrocknet.

Ich muss …

Ich kann nicht so sein …

Mit einem tiefen Atemzug löste ich meinen Klammergriff um die Zentralstange und eilte in Richtung des Zelteingangs, hinter dem Jharrns Silhouette noch immer verharrte.

»Eine Sekunde«, bat ich den Meister, während ich die zahlreichen Knoten der Zeltkordeln löste und die Knochenknöpfe aus deren Halterungen führte.

Dann legte ich die Eingangsplane beiseite. Mit routinierten Bewegungen fixierte ich den Sichtschutz an einer der Seitenstangen, legte die losen Kordeln darüber und schob meinen Oberkörper aus der Dunkelheit des Zelts. Gerade weit genug, um Wassermeister Jharrn respektvoll entgegentreten zu können und ihm mit meinem Erscheinen zu zeigen, dass ich mich nicht um derlei Äußerlichkeiten scherte – jedoch nicht weit genug, um vor sämtlichen Stammesmitgliedern zu offenbaren, dass mein Leib noch immer in meiner Schlafkleidung steckte und die Beine unter dem Leinenhemd vollkommen entblößt im Wüstensand standen.

Lediglich Jharrn selbst entdeckte die nackten Füße. Er zog in offensichtlicher Überraschung seine unversehrte Augenbraue in die Höhe, wich noch einen Schritt nach hinten und entschwand somit dem Schatten des Zelts. Nun enthüllte die Sonne den wahren Schrecken seiner Züge.

Ich konnte das Stocken meiner eigenen Atemluft kaum mehr verhindern, hatte ich doch die Ausmaße seiner Verletzung niemals zuvor aktiv begutachten müssen … und seine Person nach dem Gemetzel bei Gwerdhyll so gut als eben nur möglich gemieden. Wider besseren Wissens entglitt der Pfad meiner Blicke jeglicher Kontrolle, sodass meine Pupillen über die rosavernarbte Gesichtsseite mit ihren verkrusteten Nähten wanderten, alle Details der übereinandergeschobenen Hautlappen erfassten … und sich letztlich an einem dunkel verfärbten Aderdelta fingen, das unter einer ledernen Augenklappe hervorlugte.

Jharrn und ich starrten uns an. Beide perplex. Zunächst ohne Worte.

»Ich habe nicht damit gerechnet, dass du noch ruhst, Nakhara«, räusperte sich mein Gegenüber und fand somit lange vor mir zur artikulierten Sprache zurück.

»Hmpf«, machte ich, um Jharrn die Deutung jenes Wortlauts ganz unverfänglich zu überlassen.

Wie sonst sollte man auch seinen Schrecken vor einem Mann verbergen, der vor seiner Verwundung immerzu in den Gesichtern seines Gefolges ganze Geschichten hatte lesen können? Wie sonst sollte man auch Worte finden, die seiner verletzten Seele nicht letztlich den Todesstoß versetzten?

Der Anblick des Wassermeisters war grauenvoll. Gar keine Frage.

Mit jedem seiner Worte verformte sich das verletzte Muskelgewebe und verwandelte seine einst ansehnliche Miene in eine furchterregende Fratze, die von Wellen aus Pergament überzogen schien.

»Soll ich später wiederkommen?«, grummelte die Fratze mit verschobenem Kiefer.

Ich öffnete den Mund zu einer Antwort – schloss ihn jedoch ohne ein weiteres Wort und deutete mit einer Hand ins Innere des Zelts, um Jharrn so wenig als eben nur möglich in seiner Ehre zu kränken. Der Wassermeister neigte seinerseits respektvoll den Kopf, schob sich entschlossenen Schrittes an meinem Körper vorbei und positionierte sich mit dem Rücken zu mir. Seine Hände stemmten sich in die Hüften und ließen den sehnigen Brustkorb unter den Lederlagen noch imposanter erscheinen – doch innerlich schien der schwarzhaarige Hüne auf die Größe einer Wüstenrennmaus geschrumpft, wie er da mit seinen Fingerkuppen nervös auf dem Griffstück seines Krummschwertes herumtippelte.

»Ich weiß nicht, wie viel die Älteste dir über das kommende Wasserritual erzählt hat …«, begann Jharrn seine Ansprache, als wollte er mit den Zeltleinen sprechen.

Dann folgte eine ganze Weile wieder Stille … und so blieb es nun doch an mir, meine Sprache wiederzufinden.

»Im Grunde hat sie mir nur gesagt, dass ich ab heute wieder bei den Wasserdiebstählen mitwirken darf. Also …«

Ich löste die Eingangsplane aus der Halterung und ließ sie über die offene Zeltfront sinken, um dem Gespräch eine offenere Note verleihen zu können. Zwar war mir bei dem Gedanken nicht wohl, allein mit Jharrn – zudem nur halb bekleidet – in einem Zelt tiefgründige Gespräche zu führen, doch blieben mir aufgrund seiner Machtposition ohnehin kaum Wahlmöglichkeiten oder Entscheidungen über die Gesprächssituation offen. Der düstere Tonfall jagte einen zusätzlichen Schauer über meinen Rücken. Ein ungutes Gefühl, schon bald einem größeren Unheil gegenübertreten zu müssen.

»Weshalb bist du hier? Ich meine … Ist etwas vorgefallen? Etwas, das unsere Wasserrituale betrifft?«

Jharrns Kopf wandte sich kaum merklich zur Seite und offenbarte einen Teil der unversehrten Gesichtshälfte, als spielte er mit dem Gedanken, einen Blick in meine Züge zu wagen.

»Als Vorfall würde ich es nicht direkt betiteln, doch handelt es sich um unleugbare Tatsachen«, konstatierte er leise. »Höchstwahrscheinlich wird man dich nach dem Wasserdiebstahl darüber aufklären und dir die Einzelheiten berichten – was ich in Anbetracht der emotionalen Anspannung durchaus nachvollziehen kann. Der heutige Diebstahl wird uns mit den vergangenen Erlebnissen konfrontieren und mit großer Wahrscheinlichkeit die ureigenen Ängste in uns erwecken, denen es sich zunächst mit Mut im Herzen zu stellen gilt. Dennoch hatte ich gehofft, du wärst bereits im Bilde.«

»Im Bilde worüber

Grundgütige Epona! Welch ein verschwiegener Bastard!

Der schwach flackernde Funke der Panik in meiner Brust verwandelte sich blitzartig in einen ausgewachsenen Flächenbrand, den ich nicht einmal unter Mühen aus meinen Gedanken zu tilgen vermochte, der sich immer weiter auszubreiten und mich innerlich zu zerfressen drohte. Die Stammesälteste hatte am Vorabend nicht ein Sterbenswort über etwaige Katastrophen angedeutet, sondern über den Mut der Wasserdiebe gesprochen, über die Stärke einer Löwin und die Hingabe zur Berufung, die sie seit jeher in meinem Herzen zu sehen glaubte. Die Frau war weder der Unruhe verfallen, noch waren sonst düstere Zukunftsprognosen in die Luft gepinselt worden. Und nun?

Jharrns Worte ließen mich mehr und mehr an eine Fassade glauben.

»Was ist geschehen?«

Meine Stimme schraubte sich in ungeahnte Tonhöhen, als die eigene Panik mir Steuer wie Ruder aus den Händen entreißen wollte. Doch blieb der Wassermeister höchstselbst in eigenartiger Ruhe verhaftet und wandte sich schließlich in meine Richtung, um unter schwebenden Schritten an mich heranzutreten und derweil seinen stechenden Meisterblick durch meinen Körper zu jagen. Sein Ausdruck nagelte mich in der Bewegung fest, ja, ließ mich wie versteinert vor ihm stehen, obwohl ich meinen eigenen Blick nur allzu gern von seinen Zügen abgewandt hätte.

Dann war Jharrns vernarbtes Gesicht dem meinen sehr nahe.

Derart nah, dass sich unsere Nasen wohl berührt hätten, wenn sich der Wassermeister nur weiter zu mir herabgebeugt hätte.

»Jharrn …«

Ich schluckte.

Der unverkennbare Geruch von Eiter umwaberte den Körper des Mannes, der sich breitbeinig vor mir positionierte und nun seine Hände um meine Arme zu schließen begann. Wie ein Schraubstock legten sich seine Finger um meine zitternden Glieder, sodass ich die Nähe des Hünen nur mehr als bedrohlich zu empfinden vermochte. Mein Atem beschleunigte sich auf einen hektischen Rhythmus und rasselte hörbar aus den pumpenden Lungen, während ich den Schweiß förmlich über meinen Rücken rinnen fühlte und in den Händen des Meisters zu einer Miniaturversion meines Selbst zusammenschmolz.

»Es ist noch nicht geschehen«, flüsterte er und bedachte mich weiterhin mit eindringlichen Blicken. »Aber es wird definitiv geschehen, Nakhara. Aus diesem Grunde musste ich das Gespräch mit dir suchen, mich mit all meinen körperlichen Lasten vor dir zeigen und dich fragen, ob du mich überhaupt ansehen kannst.«

»Ich … ich kann, aaaa-aber …«

Meine Zunge stolperte mehrfach.

Doch Jharrn verstärkte den Druck auf meine Arme, schloss in scheinbaren Qualen das verbliebene Auge und sog mit tiefen Atemzügen Luft in seinen bebenden Brustkorb. Im Wimpernschlag eines Augenblicks schien der Mann meinen Duft in sich aufzunehmen, als hätte er eine seltene Wüstenrose gefunden und müsste sie nun in allen Facetten genießen. In seinem augenscheinlichen Rauschzustand blähte der Wassermeister seine Nasenflügel zu Pferdenüstern, rückte mit dem Oberkörper noch ein Stück näher und presste sich förmlich an meine Schlafgewandung.

Schockschwerenot!

In ebendiesen Momenten pulsierte eine mir bisher vollkommen unbekannte Art der Furcht durch meinen Körper, die mich hilflos in den Händen des Wassermeisters lehnen, die mich sogar vollkommen in meinen Bewegungen lähmte und mein Sichtfeld schwarz vor den Augen flackern ließ.

Oft schon war ich mit Jharrns Autorität konfrontiert worden. Zumeist ohne Furcht – lediglich mit Respekt.

Ein derartiges Verhalten wusste ich jedoch so gar nicht bei mir zu deuten und erlag erstmalig einem Gefühl der vollkommenen Panik.

»Ich will, dass du eines weißt, Nakhara«, raunte Jharrn mit düsterer Stimme. »Mögen wir uns so manches Mal wie Feuer und Wasser behandelt haben, einen Schaden würde ich dir niemals zufügen und dir keinerlei körperliche Schmerzen bereiten. Ich mag deine bissige Art nicht gut leiden, ertrage weder deine aufmüpfigen Kommentare noch Widerworte auf meinen Befehl – aber ein Leid würde ich dir nicht wünschen, Frau. Ich habe dein Leben bewahrt. Mein Gesicht war der Preis. Also hege ich noch eine gewisse Hoffnung bei mir, dass du dieses Opfer zu schätzen weißt und es uns beiden erträglich gestaltest.«

»Dass ich was erträglich gestalte?!«

Endlich setzte mein Verstand seine Dienste fort und sandte einen Impuls an meine Arme, die Jharrn in einer ruckartigen Bewegung von mir stießen. Der Wassermeister taumelte trotz der enormen Krafteinwirkung kaum ein paar Schritte nach hinten, wankte aufgrund einer Teppichfalte am Boden in einen Ausgleichschritt und fing sich Sekundenbruchteile später an der Zentralstange des Nomadenzelts. Auf seinen zerstörten Zügen erschien eine Form der Empörung, so man die Muskelbewegung noch in irgendeiner Weise zu interpretieren wusste. Er sammelte sich in einer aufrechten Haltung und musterte mich wie ein Stück Vieh zum Verkauf.

Ich kam nicht umhin, meine Hände zu Fäusten zu ballen.

Zu gern hätte ich ihm die Zentralstange über den Schädel gezogen.

Niemals zuvor hatte ich mich von einem der Männer derart in körperliche und psychische Bedrängnis bringen lassen, mich stets den Situationen vor dem Entstehen entzogen und deutlich gemacht, in welcher Position ich mich vor den Herrschaften sah. Fürwahr, und obwohl die Männer sich vor bösen Zungen nicht scheuten, so hatten sie doch nie meine Grenze zu übertreten gewagt, niemals zuvor einen Finger gegen mich erhoben … oder mich gar berührt, mich bedrängt und bedroht – wie Jharrn es soeben zu versuchen riskierte. In meinen Zügen schien sich der gesamte Bluthaushalt meines Körpers zu sammeln, um selbst den dunklen Teint meiner Haut in ein erhitztes Rot zu tauchen.

Solch eine Wut! Auf Jharrn. Auf mich selbst.

So viele Fragen, die allesamt innerhalb weniger Herzschläge auf meinen Geist einzuprasseln schienen.

Weshalb ich ohne eine Regung vor ihm gestanden hatte? Weshalb es mich solche Mühen, ja, solch eine lange Zeitspanne gekostet hatte, mich aus Jharrns Bedrängnis zu befreien? Welche Umstände ich in Zukunft erträglich gestalten sollte, sodass der Wassermeister mich privat in meinen Schlafräumen aufsuchen musste?

»Du wirst es wohl noch früh genug erfahren«, grunzte Jharrn auf seine ganz eigene beunruhigende Weise, als hätte ich meine Gedanken in Worte gefasst. »Ich denke, vorerst ist alles gesagt.«

Ohne eine Erklärung seines Verhaltens zu liefern, wandte sich der Wassermeister um die eigene Achse, schloss die Hand um den Griff seines Krummschwerts und stürmte durch den Zelteingang in die Wüstenweite hinaus.

***

Als ich mich für den anstehenden Wasserdiebstahl vorbereitet und vollständig in meine Schutzkleidung gehüllt hatte, da haftete der schale Geschmack der unangenehmen Begegnung noch immer auf meiner Zungenspitze. Wie eine lästige Klette machten sich seine Worte wieder und wieder in meinem Schädel bemerkbar, quälten mich mit unzähligen Wiederholungen des Szenarios und erinnerten mich, dass ich früher oder später mit der Auflösung jener Drohung konfrontiert werden würde.

Eine leise Stimme flüsterte mir: Ebendiese Auflösung würde mir wohl noch weniger gefallen als die Begegnung zuvor. Womöglich würde sie bahnbrechende Veränderungen verheißen.

Und so fand ich mich mit einem äußerst flauen Gefühl im Magen, als ich die letzten Vorbereitungen vor meinem Aufbruch traf und die Schnürsenkel meiner Stiefel fest um die Fußfesseln schloss. Mit zitternden Händen formte ich eine Sicherungsschlaufe, scheiterte mehrfach an meinen eigenen Emotionen und konnte die Nervosität nur unter Mühen bezwingen.

»Vielleicht war es auch einfach ein schlechter Scherz«, murmelte ich meinen rasenden Gedanken entgegen. »Das wird es sein. Die Männer wollen mich demütigen.«

Jedoch wollte sich das Unwohlsein meines Körpers nicht legen.

Die Dämonen hatten sich längst in meinen Schädel gefressen und würden mich bis zur Auflösung der prophetischen Ankündigung begleiten, sodass mir nur mehr eine Möglichkeit blieb: weiterzumachen, weiterzugehen und meinen Pflichten zu folgen, bis der Moment der Erkenntnis endlich gekommen war.

Wie in Trance erhob ich mich aus meiner Hockposition und schleppte mich in Richtung der Aufbewahrungsstangen, um mein Kletterseil von einem der Haken zu lösen und als Knotenkonstruktion über meine rechte Schulter zu legen. Die einstudierten Bewegungen beim Anlegen des Sicherungsgurts schienen einem mechanischen Rhythmus zu folgen und bedurften keiner echten Gedankenkontrolle, keiner aktiven oder bewussten Denkprozesse, die mir wohl ohnehin nicht mehr möglich gewesen wären. Mein Blick blieb auf die Gedankenbilder gerichtet, während ich meine Dolche in die dafür vorgesehenen Scheiden führte, ja, selbst während ich in Richtung des Zeltausgangs tigerte und die Plane hinter mir wieder mit den Schließen fixierte.

So sollte mich die Lautstärke des Lagertreibens beinahe erschlagen.

Als ich meinem Zelt den Rücken kehrte und mich zu den anderen Zelten wandte, da war mir, als prallte ich regelrecht gegen eine steinerne Mauer. Nur, dass jene Mauer aus dem Leben höchstselbst bestand und mich mit ihren Eindrücken aus dem Gedankentempel riss, den ich mir da über die letzten Minuten meiner Grübeleien und Grauensvorstellungen errichtet hatte. Nun machte sie sich mit einem Male wieder bemerkbar – diese Realität – und ließ mich in der Bewegung erstarren, als hätte man mir sämtliches Leben aus dem Körper gesogen.

Ich blinzelte ein paarmal.

Das Zeltlager des Stammes verquoll regelrecht in Belebtheit.

Einige Jägerinnen schienen einen recht ansehnlichen Bullen mit ihren Pfeiltechniken aus den Gattern der Städter getrennt und als seltene Ausbeute durch die halbe Wüste zum Lager zurückgeschleift zu haben, sah man sie doch bereits vor den Trockenfleischleinen knien. Nun trennten die Frauen das sandgeschundene Fell vom Körper, gaben kleinere Fellfetzen an die Kinder weiter und ermunterten sie, die Hautstreifen immer weiter zu dünnen Kordeln zu verdrehen. Das vergnügte Lachen der Jüngsten wurde vom Wind durch die Gassen zwischen den Zelten getragen und vermischte sich mit den Lauten klirrender Schüsseln, der Übungskämpfe abseits des Lagers und den Unterhaltungen der ältesten Stammesmitglieder. Da waren die alltäglichen Konversationen der Handwerker untereinander und das metallene Klappern von Werkzeugen in Kisten; die unverkennbaren Geräusche von Raspeln auf Pferdehufen und die Gerüche von schwelendem Hornmaterial, loses Horn, welches die Hunde nicht schnell genug für sich hatten beanspruchen können.

Alsbald formte sich eine vertraute Melodie des Lagerlebens in meinen Ohren. Mit der Stimme des Windes erklang das Lied unseres Volkes. Die Legende der Wüste, die allerlei Geschichten zu einer einzigen Erzählung vereinte.

Unwillkürlich formte sich ein Lächeln auf meinen Lippen und befriedete mich für einen Moment mit der Situation. Ich ließ meinen Blick über die weiten Flächen des Horizonts schweifen, bedachte die Dünen mit einem seligen Schmunzeln und verfolgte, wie sich die Sandkörner in spielerischen Wirbeln über das Himmelsband jagten. Unter dem Blau lag das Lager mit all seinen Zelten auf dem verhärteten Steppenboden und trotzte den Mächten der Wüste, die gelben Staub durch jene Gassen zu treiben pflegten. Am anderen Ende der Nomadensiedlung standen die Pferde in großzügigen Gattern, ließen ihre Köpfe knapp über dem Boden schweben, trotzten den Temperaturen und knabberten an den spärlichen Rispen, die ihnen dank des letzten Wasserrituals geblieben waren.

War es nicht genau dieses Heimatgefühl, dem nun all meine Aufmerksamkeit gelten sollte?

War es nicht genau dieser Ort, dieses wertvolle Fleckchen, das es vor allen anderen Dingen zu schützen galt?

Ich schloss für einen kurzen Moment die Lider.

Ja, der Wasserdiebstahl … nichts wichtiger als dieses hehre Ziel vor Augen.

Als ich meine Lider wieder hob und entschlossen gegen das warme Tageslicht blinzelte, da existierte plötzlich nur mehr die heilige Pflicht und der Hass auf die Stadt, welche mein schützendes Heim zerstörte.

»Auf nach Gwerdhyll«, flüsterte ich.

Die Rose im Staub

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