Читать книгу Die schönen Seiten des Winters - Sarah Smit - Страница 4

2. Dezember

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Mein Wecker riss mich aus meinem Schlaf. Wirklich unsanft, denn als der Wecker losschrillte, erschrak ich mich so sehr, dass ich aus meinem Bett fiel und auf meinem kalten, harten Laminatboden landete. Ich brauchte unbedingt einen Teppich für mein Zimmer. Eigentlich wäre ich am liebsten sofort wieder ins Bett gegangen uns hätte die Schule geschwänzt, doch ich war irgendwie viel zu aufgeregt. Das könnte daran liegen, dass Jannik hier bald auftauchen würde. Was hatte sich seit gestern nur so plötzlich geändert? Ich freute mich immer riesig, meinen besten Freund zu sehen, hatte aber nie Probleme mit einem schnelleren Herzschlag, weiche Knie und feuchte Hände, sobald ich ihn sah. Genau jetzt bekam ich diese Anzeichen nicht nur, wenn ich ihn sah, sondern auch schon wenn ich nur ganz kurz an ihn dachte. Mein Blick fiel auf meinen Wecker. Wenn er könnte, würde mir dieser sicher jeden Morgen eine Punktzahl geben, für Flug und Landung. Leider fiel ich nämlich jeden Morgen aus dem Bett. Es war schon halb sieben. In einer halben Stunde würde Jannik vor der Haustür stehen: mit zwei Bechern Kaffee, einer Tüte voll mit Muffins und Donuts und einem breitem Grinsen im Gesicht. Und wieder fing mein Körper an verrückt zu spielen. Ich musste unbedingt versuchen so zu reagieren wie immer. Er durfte mir nicht anmerken, dass etwas mit mir nicht stimmte.

Während ich aufstand, überlegte ich, was ich anziehen sollte und wie ich mir meine Haare frisieren könnte. Ein bisschen Makeup könnte heute auch nicht schaden. Ich besaß nicht viel Schminke, da ich nicht so viel davon hielt und es sich für mich immer so unecht anfühlte, wenn ich es auf der Haut hatte. Wie eine Maske eben. Eigentlich hatte ich es nur für besondere Anlässe wie Familienfeiern oder wenn mein Gesicht aussah, als wäre ich gerade mitten in der Pubertät und sich Pickel auf meinem Gesicht ausbreiteten. Dann würde ich mich ohne Makeup nämlich nicht aus dem Haus trauen. Heute jedoch war ein Anlass für etwas Makeup. Ich hatte nämlich so das Gefühl, dass ich heute nicht ohne aus dem Haus gehen sollte. Ich ging auf meinen Kleiderschrank zu und kramte darin herum, bis ich etwas Passendes gefunden hatte: einen grünen langen Pullover (den ich oft auch als Kleid trug), dazu eine schwarze Strumpfhose und dazu grüne Ohrringe. Ich ging ins Bad, bevor Luca oder Rafael dazu die Möglichkeit hatten. Luca war gerade in der Pubertät und brauchte oft länger im Bad als ich. Und Rafael versuchte mich nur damit zu ärgern, indem er sich eine Ewigkeit im Badezimmer einschloss. Ich hatte es noch vor Luca geschafft, der sich darüber ärgerte und trotzig die Treppe herunter stiefelte. Ich zog mich also um, machte mir einen Zopf und schminkte mich dezent. Jetzt nur noch schnell meine Schulsachen in meinen Rucksack packen und ab in die Küche. Doch bis in die Küche schaffte ich es nicht, denn es klingelte plötzlich an der Haustür. Das konnte eigentlich nur Jannik sein und sofort breitete sich ein breites Grinsen auf meinem Gesicht aus.

„Ich geh schon“, brüllte ich in den Raum herein, egal ob es jemand hörte oder es irgendwen auch nur im Geringsten interessierte. Kurz bevor ich die Tür öffnete ging ich noch mal in mich und zwang mich nicht zu grinsen. Es fiel mir echt schwer, denn ich freute mich riesig darauf, Jannik jeden Moment vor mir zu haben. Ich holte noch einmal tief Luft und öffnete daraufhin die Tür. Da stand er: mit zwei Kaffeebechern in der einen Hand, eine Tüte voll mit Muffins und Donuts in der anderen Hand und mit einem unglaublich süßen Grinsen auf seinem Gesicht. Sofort bekam ich weiche Knie und mein Herz fing wie wild an zu schlagen. Jannik trug eine braune Jeanshose, die etwas enger anlag, womit er seine durchtrainierten Beine am besten zum Vorschein bringen konnte. Da es draußen eiskalt war, hatte er eine dunkelblaue dicke Winterjacke an. Seine blonden Haare hatte er unter eine graue Mütze gepackt. Einige Strähnen hatten sich doch daraus befreit und hingen ihm in die Stirn. Das sah verdammt niedlich aus und ich konnte es nicht vermeiden zu lächeln, während ich ihn musterte. So sehr ich auch dagegen ankämpfte, es gelang mir einfach nicht.

„Komm erst einmal ins Haus“, schlug ich vor, nachdem sich mein Gehirn wieder eingeschaltet hatte und fügte noch hinzu: „Dir muss doch bestimmt verdammt kalt sein.“

„Das ist mir wirklich“, antwortete er.

Ich nahm ihm den Kaffee und die Tüte ab und stellte alles auf den Garderobenschrank.

„Ich bin auch gleich fertig. Ich muss mich eben noch kurz Wetterfest anziehen: Winterjacke, Winterschuhe, Schal, Handschuhe und Mütze, Dann können wir uns auch direkt auf den Weg machen.“

Während wir auf dem Weg zur Schule waren, wusste ich erst nicht, was ich sagen sollte. Immer wieder flatterte das Bild in meinem Kopf herum, wie Jannik mich angrinste. Eigentlich hatte er das auch vorher schon immer getan. Immerhin war ich schon seit dem Kindergarten mit ihm befreundet. Ich trank unterwegs meinen Kaffee, um mich aufzuwärmen. Es war über Nacht noch kälter geworden und ich zitterte am ganzen Leib. Es würde sicher bald anfangen zu schneien, worauf ich mich wiederum freute, denn ich liebte Schnee.

„Ich glaube, es wird bald anfangen zu schneien“, sagte ich, bevor wir das Schulgebäude erreichten.

„Oh nein! Sag das bitte nicht zu laut, Mina. Nachher hört dich der Wettergott und es schneit wirklich.“

„Und was wäre daran bitte so schlimm?“, fragte ich nach und merkte, dass ich irgendwie sauer auf ihn wurde.

„Was mich daran nervt? Du fragst mich ernsthaft, was mich am Schnee nervt?“, wollte Jannik wissen.

„Wie es scheint, tu ich das“, antwortete ich energisch und meine Stimme wurde immer lauter.

„Mich nervt es, das der Schnee matschig und grau wird, dass die Bahnen ausfallen und ich den ganzen Weg in der Kälte zu Fuß laufen muss. Dass es immer so glatt ist, ich gefühlte zwanzig Mal ausrutsche und auf den kalten nassen Boden falle und ich hasse es, das es, wenn es schneit, so verdammt kalt ist. Reicht dir das als Antwort?“

„Du siehst immer nur das Negative. Das nervt mich tierisch. Aber ich werde es dir ja noch beweisen. Dann wirst du mich verstehen und die Vorweihnachtszeit und Weihnachten selbst auch so mögen“, sagte ich und stürmte ins Schulgebäude. Ich war sauer und verletzt und es schmeckte mir nicht, dass er in dieser Zeit immer so mies drauf war. Dadurch bekam auch ich schlechte Laune. Ich ging ins Klassenzimmer, zog mir meine Jacke, Handschuhe, Schal und Mütze aus und setzte mich auf meinen Platz. Nur wenige Minuten später kam Jannik auch schon ins Klassenzimmer und setzte sich neben mich. Warum mussten wir auch nebeneinander sitzen? Ich versuchte ihn zu ignorieren, was mir jedoch nicht gelang, weil er mich die ganze Zeit ansah und dabei grinste. Da konnte ich ihm nun wirklich nicht lange böse sein, auch wenn ich ihm wenige Sekunden zuvor gerne seine Augen ausgekratzt hätte.

„Wir haben heute Abend übrigens etwas vor! Ich will, dass du dir etwas Schickes anziehst und um 19:00 Uhr bei uns vor der Tür stehst“, sagte ich mit ernstem Ton und richtete meinen Blick auf ihn.

„Was haben wir denn vor?“, fragte Jannik verwundert.

„Das verrate ich nicht“, gab ich mit einem Grinsen wieder und fügte hinzu: „Es wird eine kleine Überraschung.“

„Wenn du Überraschung sagst, heißt es aber oft nichts Gutes für mich“, antwortete Jannik und wieder hatte er dieses breite Grinsen im Gesicht, was ich auf der einen Seite tierisch hasste, aber gleichzeitig auch an ihm liebte. Es war wie ein Teufelskreis aus dem ich wahrscheinlich nicht mehr so schnell wieder heraus kam. Zumindest in den nächsten 22 Tagen nicht.

„Zieh dir einfach etwas Schickes an und sei heute Abend pünktlich“, erklärte ich ein weiteres Mal genervt und sagte daraufhin kein Wort mehr. Er machte mich manchmal völlig wahnsinnig und trieb mich wirklich zur Weißglut, aber trotzdem konnte ich nicht aufhören, ihn zu mögen oder an ihn zu denken. Wie sich wohl seine Lippen anfühlen und schmecken würden? Ich spürte, wie mir bei dem Gedanken heiß wurde und war mir sicher, dass meine Wangen so rot waren wie eine Tomate. Leider war es vor Jannik nicht verborgen geblieben und er wollte jetzt sicher wissen, was mit mir los war. Ich musste mir also schnell eine plausible Ausrede einfallen lassen, die er mir glauben könnte. Ich konnte ihm ja wohl schlecht sagen, dass ich mir vorstellte, wie er mich küsst und dass mir dieser Gedanke sehr gefiel.

„Warum bist du denn plötzlich so rot im Gesicht?“, fragte mich Jannik, während wir gemeinsam durch den Schulflur ins nächste Klassenzimmer schlenderten.

„Ich… ähm… hier drinnen ist es einfach nur so unglaublich warm. Ist dir etwa nicht warm?“, hakte ich nach und tat so, als wäre das der tatsächliche Grund.

„Mir ist ehrlich gesagt eiskalt“, gab Jannik zurück, zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Anschlag hoch und fing an mit seinen Zähnen zu klappern. Ich musste lachen, weil ich ihm nicht abkaufte, dass ihm wirklich kalt war.

„Kommst du nach der Schule noch mit zu mir? Ich muss dir noch etwas geben.“

„Nur wenn du mir einen Kaffee kochst. Ich brauche dringend etwas Koffein“, erwiderte Jannik.

„Ich koche ihn dir sogar mit ganz viel Liebe. Weil bald Weihnachten ist“, antwortete ich.

Mit ganz viel Liebe Kaffee kochen war bei mir nicht möglich. Ich musste nur auf den On-Knopf drücken, warten bis das Wasser heiß war, einen Pad in die Maschine legen, auf einen weiteren Knopf drücken und die schwarze Flüssigkeit würde dann von selbst in die Tasse fließen. Wenn ich irgendwann alleine lebe, würde ich auf jeden Fall genauso eine Kaffeemaschine gebrauchen. Auch wenn ich meinen Kaffee viel lieber in meinem Lieblingscafé trinken würde. Im Krümel gibt es verschiedene Geschmacksrichtungen, wie Vanille, Karamell, Haselnuss oder Zimt. Ich liebte Zimt und nahm selbst im Sommer diese Geschmacksrichtung. Zimt war eines der Dinge, die für mich zu Weihnachten gehörten und sobald ich das Gewürz roch oder schmeckte, war ich in Gedanken schon wieder bei meiner Lieblingsjahreszeit. Ich liebte die Weihnachtszeit und alles, was sie so mit sich brachte.

Nach sechs Stunden Unterricht konnten wir endlich das Schulgelände verlassen und endlich das machen, was wir wollten. Jannik und ich liefen zur Stadtbahn. Ausnahmsweise war die Bahn mal nicht so überfüllt wie sonst immer, sodass Jannik und ich die Möglichkeit hatten uns nebeneinander zu setzen.

„Ich hasse es Stadtbahn zu fahren“, meckerte Jannik nach einem kurzen Moment Stille.

„Du bist die einzige Person, die ich kenne, die so pessimistisch ist“, antwortete ich und verdrehte die Augen.

„Ja und? Mich nervt es halt“, entgegnete Jannik.

„Was nervt dich denn genau daran?“, wollte ich wissen.

„Meistens sind sie überfüllt und oft riecht es nach Schweiß, Erbrochenem oder Urin“, antwortete Jannik angewidert. Da musste ich ihm ausnahmsweise einmal Recht geben.

„Aber die Stadtbahnen bringen uns in dieser Stadt überall hin. Selbst bis nach Bonn fährt sie“, erwiderte ich.

„Das stimmt ja auch. Aber trotzdem!“, sagte er nur und winkte ab. Damit war das Thema scheinbar erledigt. Für mich allerdings noch nicht. Ich sagte dennoch nichts mehr dazu, drehte mich von ihm weg und ließ meinen Blick aus dem Fenster schweifen. Irgendwie war meine Laune gerade ganz weit unten.

Irgendwann jedoch hörte ich Jannik sagen: „Tut mir leid, dass ich meine miese Laune ständig an dir auslasse und du mich so ertragen musst.“ Ich sah ihn verwundert an. Hatte Jannik sich gerade wirklich bei mir entschuldigt? Das kannte ich so gar nicht von ihm.

„Ist schon okay“, antwortete ich und lächelte. Jetzt stieg auch meine Laune wieder etwas an.

„Wirklich?“, hakte Jannik nach.

Ich nickte und antwortete: „Schon wieder komplett vergessen.“

Nachdem wir bei mir angekommen waren, ging ich mit meiner dicken Winterjacke in die Küche und machte Jannik und mir einen Kaffee. Er kam vom Flur aus in die Küche und setzte sich auf einen der Küchenstühle. Ich reichte ihm seinen Kaffee und machte mir selbst auch einen, bevor ich mich zu ihm setzte. Doch bevor ich das tat, zog ich mir noch schnell meine Winterjacke aus.

„Ich bin ja schon neugierig darauf, was mich heute Abend erwarten wird“, sagte Jannik und trank einen Schluck von seinem Kaffee.

Ich lächelte, sagte aber nichts dazu. Es wäre ja voll blöd, wenn ich ihm jetzt irgendetwas von dieser Überraschung verraten würde.

„Kannst du nicht eine klitzekleine Andeutung machen?“, fragte Jannik neugierig nach und grinste.

„Keine Chance mein Lieber! Es wird einem ja auch nicht vorher gesagt, was man zu Weihnachten bekommt oder welche Bilder sich im Schokoladenkalender befinden. Stell dir einfach vor, dass das hier dein eigener, einzigartiger Adventskalender ist und du jeden Tag ein Türchen öffnen kannst.“

„Hast du dann nicht vielleicht doch noch einen mit Schokolade?“, neckte er mich.

„Du bist manchmal ein riesengroßer Vollidiot“, antwortete ich wütend, da ich mir wirklich sehr große Mühe gab und er dies nicht einmal ein bisschen würdigte. Ich stand von meinem Stuhl auf und drehte mich von Jannik weg. Das war wirklich gemein von ihm gewesen und so schnell würde ich ihm das nicht verzeihen. Davon war ich diesmal wirklich selbst überzeugt.

Ich hörte wie sich der Stuhl bewegte, auf dem Jannik saß. Plötzlich stand er hinter mir, legte seine Hände ganz sanft auf meine Hüften, zog mich näher an sich heran und flüsterte mir ins Ohr: „Tut mir wirklich leid, Mina-Mäuschen. Ich wollte dir nicht wehtun, mit dem was ich gesagt habe.“ Ich spürte seinen warmen Atem in meinem Nacken und fühlte mich ihm ganz nahe.

Ich drehte mich zu ihm um und wandte mich aus seinen Händen, die noch immer auf meinen Hüften lagen. Er durfte mir nicht so nahe kommen, denn das könnte unsere Freundschaft kaputt machen. Ich musste wieder mehr auf Abstand gehen, denn ich wollte mir auch nicht irgendwelche unnötigen Hoffnungen machen.

„Alles bestens, Jannik. Wenn du das so siehst ist das in Ordnung. Du wirst schon noch verstehen, was so toll an der Vorweihnachtszeit ist. Aber alles zu seiner Zeit. Und jetzt bin ich mit Niklas verabredet. Wir haben Tanztraining. Wir sehen uns dann ja heute Abend“, sagte ich, noch immer ein wenig enttäuscht über Janniks Aussage.

Ich beobachtete, dass Jannik sein Gesicht verzogen hatte, als ich Niklas Namen genannt hatte. Ich wusste ja, dass er ihn nicht leiden konnte, hatte aber nie verstanden warum. Jannik überspielte seine Reaktion jedoch und zuckte mit den Schultern. „Dann bis heute Abend und viel Spaß beim Tanzen“, antwortete mein bester Freund und legte eine kurze Pause ein, fügte dann aber noch hinzu: „Und Mina? Ich freue mich auf heute Abend! Wirklich!“ Als er das sagte, lächelte er mich an.

Jetzt musste auch ich lächeln. Dieser Typ schaffte es doch tatsächlich immer wieder, dass ich ihm nicht lange böse sein konnte.

Doch bevor er ging, hielt ich ihn am Arm fest. „Ich wollte dir ja noch etwas geben“, sagte ich, verließ daraufhin kurz die Küche und kam wenige Sekunden später zurück. Ich drückte ihm einen Schokoladenadventskalender in die Hände und grinste.

Jannik warf einen Blick darauf und lachte. „Danke“, bedankte er sich daraufhin. Dann verließ er die Küche und nur wenige Minuten später hörte ich die Tür ins Schloss fallen. Sofort fing ich an, diesen unglaublich tollen Jungen zu vermissen. Das Gute jedoch war, dass ich wusste, dass ich ihn in nur wenigen Stunden schon wiedersehen werde. So lange würde ich ihn also nicht vermissen müssen. Das konnte ich sicher gut aushalten.

Ich musste mich etwas beeilen und hatte somit kaum die Möglichkeit an Jannik zu denken. Auch beim Tanze, würde ich auch nur in den kurzen Pausen für einen Augenblick an ihn denken können. Ansonsten musste ich mich voll auf die Tanzschritte und meinen Tanzpartner konzentrieren. Leider befand sich die Tanzschule in der Innenstadt. Somit musste ich mit der Stadtbahn vom Klettenbergpark bis zum Neumarkt fahren und hatte in der Bahn viel zu viel Zeit, um an meinen besten Freund zu denken. Zuhause würde ich jedoch noch viel mehr meine Gedanken an ihn verschwenden. Ablenkung war also genau das Richtige für mich, daher freute ich mich umso mehr auf das Tanztraining. Wie ich vorhergesehen hatte, musste ich die ganze Fahrt über an Jannik denken. Ständig hatte ich sein verschmitztes Lächeln vor Augen und seine Stimme im Ohr. Ich fuhr bis zum Neumarkt und stieg dort aus. Ich musste noch ein Stück laufen, bis ich an der Tanzschule ankam. Es war wirklich viel los, was ich so gar nicht gewohnt war. Bestimmt lag es daran, dass die Tanzschule nach dieser Stunde bis zum neuen Jahr geschlossen hatte. Ich quetschte mich durch die Menge und suchte meinen Tanzpartner Niklas, mit dem ich Ausdruckstanz tanzte. Um ehrlich zu sein, hatte ich damals nur wegen ihm damit angefangen, weil ich unglaublich in ihn verschossen war. Diese Verliebtheit fand jedoch ein schnelles Ende, als er mit meiner Erzfeindin Nadine zusammen kam. Ich mochte Nadine zwar nicht und sie hasste es, dass gerade ich seine Tanzpartnerin war, doch ich liebte es mit Niklas zu tanzen und wir waren trotz ihrer Anfeindungen gegen mich weiterhin sehr gut befreundet. Das würde ich mir auch von ihr nicht nehmen lassen. Leider hatte Niklas – dank Nicole – privat nicht mehr so viel Zeit, was dazu führte, dass ich mehr denn je mit Jannik unternahm, in den ich mich jetzt wahrscheinlich hoffnungslos verliebt hatte. Als ich Niklas endlich entdeckt hatte und er mich sah, winkte er mir zu. Kurz nachdem ich ihn erreicht und ihn begrüßt hatte, wurden wir auch schon in den Tanzsaal gebeten. Unsere Tanzlehrerin zeigte uns ein paar Schritte, die wir in unsere schon vorhandene Choreografie einbauen konnten.

Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass ich während des Tanzens nicht an Jannik denken musste, doch damit lag ich verdammt falsch. Ich stellte mir zum Beispiel gerade vor, dass Jannik mit mir tanzte und nicht Niklas. Doch dafür fühlte Jannik sich einfach viel zu cool. Das würde er nie im Leben machen. Nicht einmal für mich und ganz bestimmt nicht mit mir.

Nach einer Stunde war das Tanztraining schon wieder vorbei. Wir verließen den Tanzsaal, wo Niklas Freundin Nadine schon auf ihn wartete. Als sie uns sah, kam sie auf ihn zu und küsste ihn provokativ. Ich zuckte nur mit den Schultern, denn mir war das relativ egal. Ich war ja auch immerhin nicht mehr in Niklas verliebt.

„Bis zum nächsten Mal“, verabschiedete ich mich von Niklas, als das Paar beim Küssen eine Pause einlegte. Er nickte mir nur kurz zu, widmete sich dann aber wieder seiner Freundin.

Ich verließ die Tanzschule und lief zur Stadtbahn. Während ich in der Bahn saß, musste ich wieder die ganze Zeit an Jannik denken. Wie schön wäre es gewesen, wenn er mich auch vom Tanztraining abgeholt hätte und mich küssen würde, so wie Niklas und Nadine sich geküsst hatten. Ich sollte wirklich nicht an sowas denken! Immerhin war Jannik einfach nur mein bester Freund. Mehr nicht! Nur mein bester Freund.

Um meine Muskeln, die ich beim Tanzen sehr beansprucht hatte zu entspannen, ging ich als erstes unter die Dusche. Nach der Dusche wickelte ich mir meinen Bademantel um und stellte mich vor den Spiegel. Ich föhnte mir die Haare und kämmte sie durch. Sie waren extrem widerspenstig und es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich sie ohne Probleme durchkämmen konnte. Vom Badezimmer aus ging ich in mein Zimmer und zog mir etwas Schickes an. Ein blaues Kleid mit einer Strumpfhose. Da mein Kleid ärmellos war, zog ich mir noch ein Bolerojäckchen über.

„Wir können gleich los!“, rief meine Mutter aus dem Flur.

„Wir müssen aber noch eben auf Jannik warten. Ich habe ihn darum gebeten mitzukommen“, entgegnete ich.

„Wir haben es ja nicht ganz so eilig“, antwortete mein Vater.

Ich wollte gerade etwas erwidern, da klingelte es auch schon an der Tür. Ich öffnete sie und Jannik stand vor mir.

Als er sah, dass sich meine ganze Familie schick angezogen hatte und sich gerade die Winterjacken oder Mäntel anzog, fragte er, um sich abzusichern: „Ich hoffe, es ist okay, dass ich mitkomme?“

„Natürlich ist das in Ordnung“, sagte meine Mutter und nickte ihm freundlich zu. „Du gehörst doch schon zur Familie.“ Meine Mutter fand, dass Jannik der perfekte Schwiegersohn sein würde, doch das konnte sie ja noch gar nicht wissen, denn er war gerade mal siebzehn Jahre alt und hatte es wirklich faustdick hinter den Ohren.

„Wenn jetzt alle da sind, sollten wir auch wohl mal los“, schlug mein Vater vor, der einen Blick auf seine Armbanduhr geworfen hatte. Wir nickten ihm alle zustimmend zu.

„Aber vorher hätte ich noch gerne ein Foto von Jannik und mir.“ Ich drückte meinem Vater mein Handy in die Hand und beobachtete aus dem Augenwinkel, dass Jannik die Augen verdrehte, was mich wiederum sofort zum Lachen brachte. Ich stellte mich neben Jannik und lächelte in die Kamera und mein Vater drückte einige Male auf den Auslöser. Als er fertig war, gab er mir mein Handy wieder zurück.

„Ich will die Fotos sehen“, bat Jannik, doch das durfte er noch nicht, daher musste ich mir schnell etwas einfallen lassen.

„Wir müssen jetzt aber wirklich los. Sonst kommen wir noch zu spät“, wiederholte mein Vater und lenkte Jannik so von den Fotos ab. Ich war meinem Vater gerade wirklich unglaublich dankbar dafür, dass er so drängelte. Väter, die gerne immer pünktlich sein wollten, konnten in manchen Situationen ein echter Segen sein.

Wir wollten mit der Stadtbahn fahren. Meine Eltern liefen voraus, meine Brüder hinter ihnen und dann kamen Jannik und ich. Ich versuchte die ganze Zeit Jannik nicht anzusehen, sondern konzentrierte mich auf meinen kleinen Bruder, der noch einmal seinen Text durchging.

„Ich habe diese seltsame Vermutung, dass wir uns ein Theaterstück angucken werden, in dem dein Bruder mitspielt. Liege ich damit vielleicht richtig?“, fragte er und zwinkerte mir zu.

Ich zuckte nur mit den Schultern und tat so, als wüsste ich von nichts. Ich würde ihm diese Überraschung bestimmt nicht nehmen.

„Lass dich doch einfach mal überraschen“, antwortete ich und zog einen imaginären Reißverschluss vor meinem Mund zu. Ich würde ihm definitiv nichts verraten. Jannik lächelte und ging nicht weiter darauf ein. Mit der Stadtbahn fuhren wir eine gefühlte Ewigkeit und das nervte, da sie ziemlich überfüllt war.

An der Schule angekommen, war mein Bruder sofort verschwunden. Meine Eltern, mein großer Bruder, Jannik und ich betraten das Schulgebäude und nahmen in der Aula fast eine komplette Reihe ein. Der große Raum füllte sich immer mehr und schon bald ging das Licht aus und alles um uns herum wurde still – bis sich der Vorhang öffnete und Musik ertönte. Sofort bekam ich eine Gänsehaut am ganzen Körper. Sobald der erste Ton ertönte, war ich schon voll in der Aufführung mit drin. Die Schule meines Bruders spielte „Die Weihnachtsgeschichte“ von Charles Dickens nach. Ich war stolz , als ich bemerkte, dass mein kleiner Bruder die Hautrolle Ebenezer Scrooge ergattert hatte, einen Geizkragen, der nur an sich dachte, bis ihm über Weihnachten drei Geister aufsuchten, um ihm sein Weihnachten in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft zu zeigen. Dies machte ihm deutlich, dass er sich verändern musste, da er in der Zukunft sonst ganz alleine sein würde. Dadurch wurde er dann zu einem großzügigen Mensch.

Ich war so begeistert und vor allem stolz, wie mein kleiner Bruder diese Rolle spielte und konnte mir einige Tränen nicht unterdrücken. Ich zitterte sogar ein bisschen. Zumindest so lange, bis Jannik nach meiner Hand griff und sie fest in seiner hielt. Ich warf einen kurzen Blick zu ihm herüber, doch er ließ sich nichts anmerken und starrte stur geradeaus auf die Bühne, auf der mein Bruder als Ebenezer Scrooge gerade mit der Familie mit dem kranken Kind feierte. Ich war doch ein wenig irritiert, aber freute mich auch riesig über die Geste von Jannik. Das seltsame war aber, dass die Stelle meiner Haut, die er berührte, anfing zu kribbeln. Und ich konnte es einfach nicht abstellen. Ich war plötzlich so von meinen Gedanken und Gefühlen abgelenkt gewesen, dass ich nicht einmal gemerkt hatte, dass das Stück vorbei war. Erst als alle um mich herum vor Begeisterung klatschten, jubelten und dabei aufstanden, bemerkte ich es. Jannik ließ meine Hand los und das warme, kribbelnde Gefühl auf meiner Haut löste sich in Luft auf. Ich stand auch auf und klatschte wie benommen den Schauspielern zu, unter denen sich auch mein kleiner Bruder befand.

Nach dem Auftritt verließ mein Bruder die Bühne. Wahrscheinlich zog er sich gerade um. Wir standen schon alle versammelt am Ausgang der Aula und unterhielten uns über die Aufführung, als Luca bei uns ankam.

„Dein Auftritt war so super!“, sagte meine Mutter ganz stolz zu meinem kleinen Bruder und nahm ihn in ihre Arme. Dann drückte sie ihm noch einen Kuss auf die Wange.

„Mama! Doch nicht hier in der Schule! Wenn das jemand sieht! Das ist mir peinlich!“, entgegnete er, löste sich aus ihrer Umarmung, wischte sich den Kuss von der Wange und drehte sich nach links und rechts um, in der Hoffnung, dass keiner seiner Klassenkameraden oder Freunde es gesehen hatte.

Mein Vater klopfte ihm mit voller Bewunderung in den Augen leicht auf die Schulter. „Das hast du wirklich toll gemacht, mein Junge.“

Mein großer Bruder zuckte nur mit den Schultern. Etwas zu sagen kam ihm wohl gerade nicht in den Sinn.

„Ich hasse zwar Theater und Weihnachten auch, aber du hast dich echt sehr gut geschlagen“, lobte Jannik ihn.

„Ich würde dich ja jetzt gerne in den Arm nehmen, aber ich weiß ja, dass das ultramäßig uncool wäre, also hole ich das nach, sobald wir zuhause sind. Du hast deine Rolle wirklich verdammt gut und überzeugend gespielt“, gab ich meinen Beitrag dazu ab und lächelte breit.

„Seid ihr jetzt fertig? Ich will endlich nach Hause“, sagte Luca, verdrehte die Augen, lächelte aber stolz. Er schien sich darüber zu freuen, dass er so viele Komplimente bekommen hatte.

„Ich hole eben unsere Jacken, dann können wir uns auf den Heimweg machen“, sagte mein Vater und verließ die Aula. Als mein Vater mit unseren Jacken wieder auf uns zukam, zogen wir diese an und verließen das Schulgebäude. Auf dem Weg zur Stadtbahnhaltestelle, bot mir Jannik seinen Arm an, damit ich mich bei ihm einhacken konnte. Das hatte er eigentlich schon immer getan. Schon seit wir uns kannten. Für Außenstehende musste es sicher aussehen, als seien wir ein Paar, doch im wahren Leben waren wir es nicht mal ansatzweise. Er war mein bester Freund und ich seine beste Freundin… da darf man sich ja auch mal bei dem anderen einhaken.

„Du hast dich heute wirklich sehr gut geschlagen“, sagte ich zufrieden, während ich mich auf einen freien Zweiersitz setzte und Jannik auf den freien Platz neben mir zog.

„Das finde ich auch. Der Scrooge hat mir am Anfang am besten gefallen“, antwortete er mit einem breiten Grinsen.

„Nur weil du ihm verdammt ähnlich bist“, stellte ich fest.

„Ja und?“

„Vielleicht sollte man die auch einfach mal drei Geister vorbei schicken, damit du Weihnachten endlich zu schätzen weißt.“

„Ich habe schon einen Geist, der mich jeden Tag mit irgendetwas überzeugen will. Ich finde, das reicht mir schon an Geistern“, neckte er mich. Ich piekte ihm in die Seite, weil ich mir das mit dem Geist nicht gefallen lassen wollte, doch seine Jacke wehrte es leider ziemlich ab. Eigentlich hätte er schon längst gezuckt und sich gerächt, doch die Winterjacken waren einfach zu dick, um überhaupt etwas zu spüren.

„Ich habe dich doch auch lieb“, sagte Jannik, lächelte und gab mir einen kleinen Kuss auf die Stirn. Daraufhin stieg er an seiner Haltestelle aus der Stadtbahn aus, winkte uns noch zu und die Bahn fuhr weiter. Zuhause angekommen ging ich direkt in mein Zimmer, machte mir ein Hörbuch an, legte mich ins Bett und dachte an den Abend. Wahrscheinlich würden sich meine Gedanken bis zum Einschlafen um Jannik und seine Berührung und das warme Kribbeln auf meiner Haut drehen.

Die schönen Seiten des Winters

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