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Der Traum

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Ilena stand auf einer grünen Wiese, mitten im seidenweichen Gras, Unmengen von Blumen wie von Zauberhand hineingestreut. Kaum fuhr sie mit dem nackten Fuß über die zarten Grashalme, verspürte sie den Drang, sich auf die Wiese zu legen, um sich von ihrem frischen Duft einhüllen zu lassen. Ilena ließ ihren Blick umhergleiten. Nicht weit entfernt säumten Sträucher das Gebiet. Dort begann ein üppig wuchernder Wald. Die junge Frau spitze ihre Ohren und lauschte dem Gesang unbekannter Vögel. Alles war so friedlich. So perfekt. Kein Laut der Zivilisation störte diese Idylle.

Sie drehte sich einmal um sich selbst und betrachtete ihre Umgebung. Kein Haus, keine Straße, nichts außer der freien, unbändigen Natur. In ihrem Augenwinkel bewegte sich etwas. Ein Rehkitz stand unentschlossen am Waldrand und schaute Ilena aus seinen haselnussfarbenen Augen an. Die Sonne ließ das goldbraune Fell des kleinen Kitzes glänzen. Ilena war von der Schönheit der Natur und dem Frieden, den sie geradezu in der Luft schmecken konnte, wie in Trance.

Plötzlich zerriss ein Zischen die Stille, das Kitz zuckte heftig am ganzen Körper, wankte und fiel zitternd zu Boden. Ilena presste sich eine Hand vor den Mund, um einen spitzen Aufschrei zu unterdrücken. Ein silbernes Jagdmesser ragte aus der Kehle des Tiers. Das Blut schoss pulsierend aus dem zuckenden Körper. In ihrer Bewegung erstarrt schnappte sie erschrocken nach Luft. Langsam, einen Fuß vor den anderen setzend, kam sie dem Kitz näher, bis sie nur noch wenige Zentimeter voneinander trennten. Sie kniete sich neben das am ganzen Leib bebende Tier und strich ihm mit zittriger Hand über den schweißnassen Kopf. Wie konnte jemand so herzlos sein und dieses unschuldige Wesen jagen? Sofort fiel ihr auf, dass sie nicht wusste, woher die tödliche Waffe gekommen war. Hektisch, ohne ihre Hand von dem Kitz zu nehmen, ließ Ilena ihren Blick über den Waldrand wandern und suchte jeden Winkel nach dem Jäger ab. Irritiert stellte sie fest, dass sie niemanden sah. Nicht einmal ein leises Knacken oder Rascheln verriet sein Versteck.

Unter ihrer Hand regte sich etwas. Sofort löste sie ihren suchenden Blick vom Waldesrand und wandte sich wieder dem sterbenden Tier zu. Verblüfft stellte sie fest, dass sich das Kitz unter ihren Händen in ein kleines Mädchen verwandelt hatte. Sie sah in die verängstigten, braunen Augen des Kindes, beruhigende Worte flüsternd. Das Mädchen war um die sechs Jahre alt, hatte langes, braunes Haar und eine blasse, samtene Haut. Ihre kalten, zitternden Hände umklammerten Ilenas Arm, und vergeblich versuchte sie zu sprechen. Doch nur anhand ihrer Lippenbewegungen konnte Ilena erahnen, was sie zu sagen versuchte: »Lauf!« Entschlossen schüttelte Ilena ihren Kopf und nahm den des Kindes in die Hände: »Nein, niemals würde ich dich hier so zurücklassen!« Das Mädchen zwang sich, etwas zu erwidern, was ihr jedoch nur unter einem heiseren Krächzen gelang: »Bitte. Lauf!« Ihre Stimme brach, doch sie nahm all ihre Kraft zusammen und flüsterte. »Sonst musst du auch sterben!« Kaum hatte die Kleine ihren Satz beendet, verschwamm alles um Ilena herum. Eine tiefe Schwärze umhüllte sie.

Ilenas Lider flatterten und flogen auf. Alles nur ein Traum! Alles nur ein Traum!, redete sie sich ein. Sie setzte sich auf und wischte mit der Hand über ihr tränennasses Gesicht. Erschöpft schlug sie ihre Decke zurück und ging auf nackten Sohlen ins Bad, um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen. Ilena wagte es kaum, in den Spiegel zu schauen, denn sie wusste, wie sie jetzt aussah: rot unterlaufende Augen, vom Weinen ein fleckiges Gesicht und ihre lockigen, langen Haare zu einem Nest zerzaust. Ein flüchtiger Blick in den Spiegel bestätigte ihre Befürchtungen, doch die Sorge um ihr Aussehen verschob sie auf den nächsten Tag und machte sich wieder auf den Weg zurück in ihr Zimmer. Seufzend ließ sie sich auf ihr Bett plumpsen.

Das war nicht das erste Mal, dass dieser Traum sie heimgesucht hatte, erst gestern Nacht war sie ebenfalls davon aufgeschreckt. Sie war doch kein Kind mehr, dass sie mit ihren 20 Jahren immer noch Angst vor Alpträumen hatte und sich abends oft davor fürchtete einzuschlafen. Im Moment war es ihr aber wirklich zu viel. Von Tag zu Tag wurde sie immer unausgeschlafener und unkonzentrierter. Nun plagte sie dieser Albtraum schon seit längerer Zeit, und immer, wie auch heute, starb das Rehkitz, das sich am Schluss als kleines Mädchen entpuppte. Jedes Mal von einem Messer durchbohrt. Der Traum häufte sich; am Anfang träumte sie ihn nur wöchentlich, doch nun kam er jede Nacht angekrochen, um ihr Unterbewusstsein heimzusuchen. Irgendetwas stimmte hier nicht, doch sie war bereit, es herauszufinden. Ein Schauer schüttelte Ilena und plötzlich fror sie, als ob der Winter in ihrem Zimmer wütete, weshalb sie die Decke zurückschlug und eilig darunterschlüpfte. Jetzt ist aber Schluss, ermahnte sie sich selbst, eingekuschelt bis zum Hals. Mit klammen Händen fischte sie ihr Lieblingsbuch aus einem kleinen Regal neben ihrem Bett und begann darin zu lesen, eine Angewohnheit, die Ilena sich, seitdem sie nachts oft nicht mehr schlafen konnte, zugelegt hatte.

Ein immer lauter werdender, schriller Ton durchbrach die Stille, ließ sie aufhorchen und den Kopf heben. Genervt schwang sie ihre Beine aus dem Bett und blickte sich suchend nach der Quelle dieses Übels um. Sicher war nur wieder bei einem ihrer Geräte der Akku leer. Verdutzt kräuselte Ilena die Nase, einem ungewohnten Duft folgend. Bildete sie es sich nur ein, oder roch es nach Heu, Blumen, frischem Gras und Sommer? Davon angezogen lugte sie neugierig um ihren Kleiderschrank in den hinteren Teil ihres Zimmers, und plötzlich sah sie es: Ein Wirbel aus Sonnenstrahlen, vergleichbar mit den aufkommenden Sonnenwinden an den Polen, strahlte von ihrer Zimmerdecke herab. War es eine optische Täuschung oder konnte Ilena direkt in den Himmel sehen? Geblendet durch die hellen Strahlen musste sie ihre Augen abwenden. Als sie sich dem Leuchten weiter näherte, wandelte sich der schrill anhaltende Ton auf einmal in fröhliches Gezwitscher, und der Wirbel bewegte sich langsam kreisend auf sie zu, als würde er nach ihr suchen. Berauscht von dieser magischen Schönheit stand sie nun direkt unter dem zum Trichter geformten Sonnenwirbel und blickte nach oben. Die glitzernden Strahlen zauberten Ilena ein angenehmes Prickeln auf die Haut und ließen sie, umgeben von Wärme, erschaudern.

Das Licht wurde heller und heller, beinahe gleißend weiß. Sie verengte ihre Augen zu Schlitzen, doch die Strahlen blendeten sie, sodass sie beide Augen schließen musste. Plötzlich spürte sie, wie ihr der Boden unter den Füßen entglitt, doch sie hatte keine Angst, ganz im Gegenteil, sie war fasziniert und neugierig, was sie erwarten würde. Ein flaues Gefühl machte sich in ihrem Magen breit, ruckartig wurde sie heftig hin und her gewirbelt; dennoch ließ sie es mit sich geschehen und versuchte nicht, dagegen anzukämpfen. Abrupt landete sie unsanft auf ihren Knien und fiel vornüber. Der Boden war samtweich, tausend Vögel gaben ein Konzert, doch die hellen Strahlen hatten sie derart geblendet, dass sie ihre Augen noch geschlossen hielt.

Belorah

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