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Verborgene Kräfte

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Schweigend liefen sie nebeneinander her. Ilena kaute auf der Innenseite ihrer Wange, während sie versuchte, ihren Kopf freizubekommen, durch den Tausende von Fragen schossen. »Welche Prophezeiung?«, begann sie mit der quälendsten. Samael sah sie forschend an: »In der großen Prophezeiung heißt es, dass eine Kriegerin uns finden wird. So schlau wie der Fuchs, so weise wie die Eule und so flink wie der Hase.« An dieser Stelle stoppte er kurz und gab Ilena Zeit zum Nachdenken. Also das kann ich schon mal nicht sein! In Mathe war ich noch nie eine Leuchte, und weise zu handeln ist ebenfalls nicht meine Stärke, dazu bin ich zu impulsiv. Flink bin ich erst recht nicht, das habe ich ja vorhin bei meinem Fluchtversuch bewiesen...

»Weiter heißt es, dass sie unser Volk leiten und ihm wieder Mut geben würde. Nur durch ihre Hilfe würde es uns gelingen, den Thron zurückzuerobern und Frieden in unser Land zu bringen!« Er blickte in die Ferne und vermied es, sie anzusehen, sodass sie den Eindruck hatte, er verschwiege ihr etwas. »Ich spüre, dass du an dir zweifelst. Das habe ich, ehrlich gesagt, auch, als ich dich das erste Mal sah. Aber jetzt ist mir klar, dass die Kriegerin tief in dir ist, versteckt vielleicht und nur darauf wartet, geweckt zu werden. Du strahlst Entschlossenheit aus, auch wenn du es selbst nicht immer spürst.«

»Also bitte! Du denkst doch nicht wirklich, dass ich diese Kriegerin aus der Prophezeiung bin, oder? Das ist doch lächerlich! Ich komme noch nicht einmal richtig mit meinem eigenen Leben klar, wie kann ich dann das eure retten?« Entrüstet starrte Ilena ihn an.

Samael holte gerade tief Luft, um etwas zu sagen, aber Ilena ließ ihm keine Zeit dazu. »Ich habe keine Ahnung, weshalb ich hier bin! Aber ich will wieder nach Hause zurück, denn helfen werde ich hier sowieso nicht können. Sucht euch lieber jemanden, der dafür geeigneter ist!« Sie machte Anstalten, davonzulaufen, aber eine starke Hand um ihren Oberarm hinderte sie daran. Samael zog sie zurück. »Lass mich los! Ich kann euch nicht helfen, ich will nach Hause!« Anstatt sie loszulassen, hielt er sie noch fester und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. »Jahrzehnte haben sie auf dich gewartet, haben gelitten, aber hatten immer noch diesen einen Hoffnungsschimmer! Willst du uns diesen kleinen Trost rauben? Du kannst uns jetzt nicht im Stich lassen Ilena, wir brauchen dich!« Er sah ihr flehend in die Augen, aber lockerte seinen Griff und lies sie schließlich los. »Bitte bleib!«, bekräftigte er, drehte sich um und verschwand in der Dämmerung.

Einsam, verlassen und mit schlechtem Gewissen stand sie dort mitten in dieser anderen Welt und überlegte verzweifelt, was nun geschehen sollte. Einerseits hätte sie am liebsten alles hinter sich gelassen und wäre davongelaufen, andererseits hatte Samael etwas Seltsames in ihr ausgelöst, was es war, konnte sie noch nicht sagen.

Man hatte ihr ein kleines, schmuckloses Zimmer als erste Übernachtungsmöglichkeit angeboten. Ilena lag hellwach und starrte auf die Holzbalken der Decke, als könnte sie diesen eine Antwort entlocken. Was vermochte ein schwaches Mädchen wie sie schon auszurichten? Dieser Gedanke plagte sie Stunden, bis sie schließlich in einen unruhigen Schlaf fiel. Hektisch wälzte Ilena sich von einer Seite zur anderen und versuchte so, den Traum abzuschütteln. Jedoch ohne Erfolg. Als gerade jemand mit einer Axt nach ihr warf, schrak sie auf und saß kerzengerade und nach Luft schnappend in ihrem neuen Bett. Ihr Atem ging schwer, und ihre Haare klebten schweißnass an ihrem Kopf. Nein, hier kann ich nicht länger bleiben! Entschlossen stand Ilena auf und trat vor die Tür. Kalte Nachtluft umwaberte ihren Körper und trug sie durch das Dorf. Nirgendwo brannte Licht, keine Menschenseele befand sich um diese Zeit draußen in der finsteren Nacht. Ilena schlich auf nackten Füßen über die mit groben Steinen gepflasterte Straße. Gleich hatte sie ihr Ziel erreicht, das Portal, mit dem sie in die Stadt hineingelangt war. Mitten auf der Straße blieb sie stehen und sah sich prüfend um. Hier muss es gewesen sein, dachte sie und hielt Ausschau nach etwas, was irgendwie auf ein verstecktes Portal hinweisen könnte, doch vergebens.

Aus einer schmalen Seitenstraße neben ihr hörte sie plötzlich wie messerscharfe Krallen über die unebenen Pflastersteine kratzten. Ilena wirbelte herum. In der Dunkelheit konnte sie nur schattenhafte Umrisse eines riesigen Wesens ausmachen, das mit gesenktem Kopf auf sie zu schlich. Bedrohlich klapperte das Ungeheuer mit seinem gekrümmten Schnabel und blies grollend heißen Atem aus seinen geblähten Nüstern. Reflexartig wich Ilena einen Schritt zurück und wäre beinahe über einen Stein gestolpert, der sich im sandigen Boden gelockert hatte. Nackte Angst stieg in ihr auf. Wenn sie sich jetzt nicht rührte war sie dem Tode geweiht. Panisch drehte sie sich um und rannte in dieselbe Richtung zurück, aus der sie gekommen war. Mit großen, stampfenden Sprüngen folgte ihr das vogelartige Untier. Den heißen Atem schon im Nacken, nahm Ilena all ihre Kräfte zusammen und spurtete los. Sie hatte gerade die nächste Biege erreicht, als sich ihr Fuß in einer herausragenden Wurzel verhing und sie kopfüber auf den Boden zwischen zwei Büschen stürzte. Auf allen Vieren drehte sie sich blitzschnell um und sah den riesigen Schnabel des Tieres über ihr aufblitzen.

Das Vieh bäumte sich auf und schnellte herab. Es war vorbei! Wäre ich doch nur in meinem Zimmer geblieben! Oder besser: Wäre ich doch lieber gar nicht erst hierhergekommen. Vor Todesangst zitternd rollte sie sich auf die Seite. In diesem Moment vernahm sie ein Reißen und befürchtete, das Monster hätte sie schon zerfetzt, jedoch verspürte sie keinerlei Schmerz. Angespannt fühlte sie in sich hinein. Nicht einmal ein Haar hatte es ihr gekrümmt. Aber woher kam dann das Geräusch? Ihre Nüstern blähten sich auf und sie roch Unentschlossenheit. Ihre scharfsinnigen Ohren vernahmen das Schnauben genau über ihr. Ihre Nackenhaare sträubten sich, und sie spürte jede kleinste Bewegung um sich herum. Ihr Kopf schnellte hoch und sie blickte in das verzerrte Antlitz ihres Verfolgers.

Sie rannte. Jedoch nicht auf zwei Beinen wie gerade eben noch, sondern auf allen Vieren. Es war ihr, als würde sie die Straßen entlangfliegen. Das Monster hinterher. Neuer Lebensmut hatte sie gepackt und trieb sie voran. Ein langer Schwanz peitschte hinter ihr her und half ihr, das Gleichgewicht zu bewahren. Direkt vor ihr befand sich ein kleines Haus mit einem Balkon im oberen Stockwerk. Es war naiv von ihr, sich Hoffnungen auf eine Rettung zu machen, aber es gab im Moment keinen besseren Fluchtweg. Mit großen Sätzen jagte sie auf das rettende Haus zu. Sie machte einen letzten Sprung und stemmte sich vom Boden ab.

Während sie flog, setzte das Wesen ebenfalls zum Sprung an. Mit aller Kraft versuchte Ilena, sich an dem dünnen Geländer emporzuziehen. Der glatte Marmor gab ihren scharfen Krallen jedoch keinen Halt. Erst als sie drohte, in das weit aufgerissene Maul des Ungeheuers zu stürzen, griffen zwei Hände nach ihr und zogen sie in die Höhe. Jemand schob sie beschützend hinter sich und versuchte, das wilde Tier mit fremdartigen Worten zu beruhigen. Das Wesen knurrte widerwillig, gab dann jedoch zu ihrem Erstaunen die Verfolgung auf, missmutig dreinblickend und immer noch wutschnaubend. Ihr Retter war niemand anderes als Samael, schon wieder! Und jetzt hatte er sie auch noch beim Weglaufen ertappt. Er trat an das Geländer vor und streichelte dem Untier beschwichtigend den Kopf. Zum letzten Mal schlug es wild mit den massigen Flügeln, dann drehte es sich um und trabte davon.

Jetzt wandte Samael sich wieder ihr zu. Er ging in die Hocke. Seine braunen Augen lächelten sie an, während seine Hand sich ihrem Kopf näherte. Reflexartig sprang sie zurück, fletschte die Zähne und knurrte aus tiefer Kehle. Samael zog sofort seine Hand zurück und sprang auf. Erschrocken ging er ein paar Schritte rückwärts. Bestürzt über ihr Verhalten, hockte sie sich in die am weitesten entfernte Ecke des Balkons und winselte. Samael betrachtete sie skeptisch. »Wenn du willst, kannst du gerne mit hereinkommen, ich hab zwar keine Ahnung, wer du bist, aber bei mir bist du willkommen!« Daraufhin öffnete er die Balkontür und ging ins Zimmer. Was ist jetzt wieder passiert? Fremdartige Instinkte beherrschten ihr Denken. Nach dem gerade Erlebten verspürte sie keine besonders große Lust, die Nacht im Freien zu verbringen, also tappte Ilena vorsichtig durch die gläserne Tür in ein gemütlich eingerichtetes Zimmer. Samael hatte ihr eine Wasserschale auf den Boden gestellt und legte sich wieder auf sein Bett, um in einem ledergebundenen Buch weiterzulesen. Für wen ist denn die Wasserschale bestimmt? Naja, andere Welt, andere Sitten! Üblicherweise esse oder trinke ich ja nicht vom Boden.

Langsam ließ Ilena ihren Blick schweifen. Dieser blieb an einem goldgerahmten Gemälde einer zauberhaft schönen Frau hängen. Sie stand auf einer Wiese, ähnlich der aus Ilenas Träumen. Nein, es war genau dieselbe, verbesserte sie sich. Die Frau wirkte entspannt und fröhlich. Weder Unglück noch Angst waren in ihrem Gesicht zu finden. Ilena riss ihren Blick los und steuerte auf das ihr bereitgestellte Wasser zu. Als sie sich über die Schale beugte, stockte ihr Atem und sie fuhr erschaudernd zurück. Das bin nicht ich! Überall Fell, schwarze Augen, Schnurrhaare! Sie war eine Katze! Vorsichtig beugte sie sich erneut über die Schale. Sie war keine gewöhnliche Hauskatze, das erkannte sie an ihrer Größe. Sie war ein Leopard! So etwas gibt es nicht! Als sie gegen die Schüssel stieß verschwamm ihr Spiegelbild, doch sobald das Wasser sich beruhigt hatte, blickte sie wieder in die dunklen Augen des Leopards, ihre eigenen Augen.

Sie erschrak, als Samael plötzlich neben ihr kniete und langsam eine Hand ausstreckte, um sie zu streicheln. Seine warme Hand fuhr über ihr Fell. Wäre sie jetzt kein Tier, wäre sie knallrot angelaufen, aber diese Eigenschaft besaß sie im Moment zum Glück nicht. »Du bist wirklich wunderschön! Ich wüsste zu gerne, wer du bist...«, überlegte er laut. Dann stand er auf, um ein Stück rohes Fleisch zu holen, welches er auf einen Teller vor sie hinlegte. »Hier, friss das! Du siehst hungrig aus! Das ist das beste Stück, was ich habe.« Mit dem Satz setzte er sich wieder auf sein Bett und beobachtete das scheue Tier neugierig.

Angewidert betrachtete Ilena das rohe Stück Fleisch und taumelte ein paar Schritte rückwärts. Dann drehte sie schnell den Kopf weg, um es nicht länger ansehen zu müssen und versteckte sich hinter einem Sessel. Samael blickte verdutzt auf und folgte Ilena, die mit eingezogenem Schwanz zusammengekauert in der Ecke saß. Er lachte hell auf und hockte sich neben sie. »Du magst kein Hühnerfleisch? Mal schauen, was ich noch dahabe, irgendetwas wird dir ja schmecken. Schließlich bist du eine Raubkatze!« Innerlich schien Samael sich zu amüsieren. Eine Raubkatze, die kein frisches Fleisch mag... Er schüttelte den Kopf, das war so absurd.

Ilena war schon als kleines Kind von Fleisch nicht besonders angetan und nun sollte sie das ändern? Niemals! Flink huschte sie an Samael vorbei unter sein Bett und kroch in die hinterste Ecke. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihren Atem, um sich zu beruhigen. Schließlich schlief sie vor Erschöpfung ein.

Ein Knacken riss sie aus dem Schlaf, in ihre Nase drang ein fremdartiger Geruch. Sie räkelte sich und wollte aufstehen. Mit einem dumpfen Geräusch stieß ihr Kopf gegen den Lattenrost. Schlagartig wurde sie sich ihrer Umgebung wieder bewusst. Sie musste hier weg, bevor Samael aufwachte. Sein Atem schien immer noch ruhig. Sie kroch aus ihrem Versteck, sprang hinaus auf die Terrasse und weiter auf eine Bank und über das Geländer. Sie landete auf ihren weichen Tatzen, aufrecht und ohne Verletzungen. Rasch lief sie zu einem dichten Gebüsch, um sich vor fremden Blicken zu verstecken. Ohne es mit ihrem Willen zu beeinflussen, verwandelte sie sich dort in ihre eigene Gestalt zurück. Ilena blickte an sich herunter und erschrak, denn sie war splitternackt. Mit vor Scham vorgehaltenen Händen huschte sie von Versteck zu Versteck, bis sie hinter einem Haus ankam, das sie als den Gasthof ausmachte. Ohne Hemmungen stieg sie etwas ungelenk durch ein offenes Fenster hinein. Es war wohlig warm. Ilena begutachtete das Zimmer näher und stellte fest, dass sie in einem Nebenraum der Küche gelandet war. Sie huschte hinter einen breiten Vorratsschrank.

»Wo hast du denn schon wieder die Eier gelassen? Pass doch auf, wo du hinläufst! Nein, das sind sie falschen!« Dort ging es drunter und drüber. Eine ältere Frau warf einem kleinen Mädchen Befehle entgegen und kommandierte es herum. Schnell ging Ilena auf die Knie, um sich hinter einem Regal zu verstecken. In Eile verließ die ältere Frau das Zimmer und so waren die beiden alleine. Unentschlossen trat Ilena hinter dem Regal hervor und räusperte sich, darauf bedacht, sich mit ihren Händen vor Blicken zu schützen. Das Mädchen zuckte zusammen und rechnete wieder mit einem strengem Befehl der gebieterischen Frau, jedoch stand ihr diesmal Ilena gegenüber. Mit weit aufgerissenen Augen musterte die Kleine sie. »Wer bist du denn? Was willst du hier?«, fragte sie neugierig. »Tja, das ist eine lange Geschichte. Bitte hilf mir und bring mir etwas zum Anziehen. Und ich heiße Ilena.«

»Wieso bist du denn nackt? Hast du dich gerade zurückverwandelt?« »Woher weißt du das? Sind alle, die sich zurückverwandeln, nackt?«, fragte Ilena neugierig. »Anfangs schon, allerdings kannst du das mit etwas Übung beheben.« »Kannst du mir dabei helfen?« »Nein, das muss jeder für sich selbst herausfinden«, entschuldigte sich das Mädchen. »Kannst du mir bitte jetzt irgendetwas zum Anziehen geben?« »Versteck dich! Ich schaue, was ich finden kann.« Mit diesen Worten verschwand sie fröhlich ins Nachbarzimmer.

Gute zehn Minuten später stand Ilena in einem dunkelblauen Umhang, etwas altmodisch für ihren Geschmack, wieder auf der Straße. Sie hatte dem Mädchen versprechen müssen, später noch einmal vorbeizuschauen und das Kleidungsstück zurückzubringen. Den Umhang eng um sich geschlungen, lief sie mit gesenktem Kopf den Sandweg entlang, zurück zu ihrer Unterkunft. Ab und zu schaute sie nach rechts und links, um sich zu vergewissern, dass dieses Ding vom vorigen Abend nicht irgendwo auf sie lauerte. War sie denn total verrückt geworden, sich umzuschauen, ob ein Fabelwesen sie verfolgte, während sie anscheinend selbst eines war? Zu Hause hatte sie Angst, dass betrunkene Männer ihr folgten. Im Vergleich hierzu schien ihr dieser Gedanke deutlich weniger furchteinflößend.

Zu Hause... Normalerweise würde jetzt mein kleiner Bruder in mein Zimmer platzen und laut fragen, ob ich schon wach bin. Wie jeden Morgen würde ich ihn anmeckern: »Jetzt schon, danke!« Das nervt normalerweise schrecklich. Doch heute sehnte sie sich nach ihm, seinem frechen, doch lieben Wesen und seinem aufgeweckten Lachen. Beim Gedanken an ihren nächtlichen Fluchtversuch musste sie ihre Tränen zurückhalten. Kann ich jemals zurück zu meiner Familie? Samael hat gestern etwas davon erzählt. Aber er würde mir nicht verzeihen, wenn ich hier alle im Stich ließe. Er war ihr fremd und doch lag ihr etwas an seiner Meinung über sie. In Gedanken vertieft, stolperte sie über ihre eigenen Füße und fiel der Länge nach hin, was typisch für sie war. Immer stolperte sie, rutschte aus, rannte irgendwo gegen, weil sie mit ihren Gedanken woanders war. Nicht gerade heldenhaft und ein weiterer Aspekt, warum sie lieber nicht in Belorah bleiben sollte. Ilena versuchte, ihr Gesicht mit dem Umhang zu verdecken. Falls sie doch hierbleiben würde, mochte sie nicht als Tollpatsch dastehen.

»Alles ok bei dir?«, fragte jemand besorgt. Sie nickte nur, stand auf und lief weiter. »Wer bist du? Ich kann dein Gesicht nicht sehen!« Anscheinend hatte der Typ nicht die Absicht, sie in Ruhe zulassen. Ilena ignorierte ihn und beschleunigte den Schritt. Zu allem Unheil stand dann auch noch Samael vor ihr. Erschrocken wich sie vor ihm zurück. »Tschuldigung!«, murmelte sie, machte aber keine Anstalten, ihn anzusehen. »Ilena?« Mit einem Lächeln zog er ihr die Kapuze vom Kopf. »Wieso läufst du in diesem Umhang herum? Wo bist du gewesen?« Da Ilena ihm nicht antwortete und das auch nicht vorhatte, wandte er sich an ihren Verfolger. »Gab es Komplikationen zwischen euch, Selaiah?«, wollte Samael wissen. »Nein alles bestens! Sie ist über...« »Ich hab ihn nur gefragt, ob er weiß, wo ich etwas zu essen bekomme. Und was meinen Umhang angeht, den... ähm... habe ich mir geborgt, damit ich hier weniger auffalle!« Sie warf Selaiah einen vielsagenden Blick zu und hoffte inständig, dass er mitspielte. »Ja, das war´s eigentlich schon!«, kommentierte Selaiah und hielt ihrem Blick stand. Mehr fiel ihm wohl nicht ein, aber zumindest hatte er sie nicht verraten.

»Und wieso sah es so aus, als ob du vor ihm wegrennst?«, fragte Samael forschend. »Ich kannte sie nicht und habe deshalb keine Auskunft gegeben. Ich dachte mir, zur Sicherheit folge ich ihr, anscheinend zu auffällig, sodass sie es mitbekommen hat. Aber, da du sie zu kennen scheinst, könntest du uns miteinander bekanntmachen?« Während seiner letzten Worte zwinkerte er Ilena zu, um dann seinen Blick Samael zuzuwenden und ihn erwartungsvoll anzusehen. Die bisherige Flunkerei war ihm kein bisschen anzumerken. »Selbstverständlich! Das ist Ilena, sie hat gestern Anas Leben gerettet. Sie ist offenbar die Kriegerin aus der Prophezeiung!«, sagte Samael an Selaiah gewandt, der frech grinsend nickte. »Ilena, das ist Selaiah, einer meiner großen Brüder«, stellte er den anderen lustlos vor.

»So weit, so gut! Ilena, komm jetzt bitte mit mir!«, befahl er. Ohne zu wissen, warum, folgte sie Samael und winkte Selaiah zum Abschied zu. Als sie in sicherer Entfernung waren, bemerkte Samael plötzlich: »Ihr habt euch die ganze Zeit so angesehen, als hättet ihr etwas zu verbergen!« Schwang da etwa Eifersucht in seiner Stimme mit?

Sie hatte Selaiah doch nur flehend angeschaut, damit er mitspielte, aber wie schnell Samael so etwas falsch verstehen konnte. »Was soll ich nun deiner Meinung nach darauf antworten?« »Nein, es ist nur… Selaiah ist in unserem Dorf als Leichtfuß und Frauenheld bekannt. Lass dich also nicht von ihm einwickeln oder mach es ihm wenigstens nicht zu leicht.« Samael war stehengeblieben. »Keine Sorge, ich werde auf mich aufpassen!«, versicherte sie ihm und freute sich innerlich, dass Samael dachte, sie hätte bei Selaiah eine Chance, schließlich sah er genauso gut aus wie Samael selbst. Sie musste kichern, und er sah sie eindringlich an. Ihre hellbraunen Augen forderten ihn heraus. Ein paar ihrer dunklen Haare kräuselten sich leicht und spielten um ihre hohen Wangenknochen. Es hatte ihn gequält, Selaiah dabei zuzusehen, wie er sie anblickte und wie Ilena dies erwidert hatte.

Er verscheuchte seine Gedanken und ging weiter. Schließlich war er normalerweise der Unnahbare, und das hatte er nicht vor zu ändern. Ilena blieb verwirrt stehen. Erst hatte sie Eifersucht in seinem Blick gesehen, dann Bewunderung und dann, aber nur für eine winzige Sekunde, etwas Unergründliches, das sie zuvor noch nicht in seinen Augen hatte ausmachen können. Diese Emotionen schienen so komplett verschieden, dass sie sich fragte, ob man sie überhaupt alle gleichzeitig empfinden konnte.

Samael merkte, dass sie stehengeblieben war und drehte sich um: »Egal! Vergiss alles, was ich gesagt habe! Komm, ich muss dich dem hohen Rat vorstellen.« Ilena hatte sich wieder gefasst und nahm sich vor, den Vorfall von eben einfach wieder zu vergessen. Sie liefen nebeneinander eine Straße entlang, die sie bisher noch nicht kannte.

Ganz nebenbei fragte sie schließlich: »Gibt es hier eigentlich Wächter, die aufpassen, wenn alle schlafen?« »Ja, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Magnaves bewachen unser Dorf. Das sind vogelartige Wesen. Sie können sehr unangenehm werden, vor allem bei Unbekannten, deshalb muss ihnen jeder vorgestellt werden, damit es nicht zu unerwünschten Verletzungen kommt.« »Was machen diese Magnaves denn, wenn sie jemanden finden, den sie nicht kennen?« »Sie richten den Eindringling so zu, dass dieser sich nicht mehr zu wehren vermag. Dann bringen sie ihn zu den Stammesältesten, die entscheiden, was mit ihm geschehen soll.« »Wäre es dann nicht besser, wenn sie mich auch mal kennenlernen?« »Du hast recht, das hatte ich gestern durch unseren Disput ganz vergessen.« Samael schaute sie forschend an und hatte das Gefühl, dass sie ihm etwas verheimlichte. Plötzlich kam ihm die junge Raubkatze von gestern Nacht wieder in den Sinn und er schmunzelte. Als er an die großen, weit aufgerissenen Augen und das angriffslustige Knurren dachte, erinnerte es ihn in irgendeiner Weise an Ilena. Wohin der Leopard wohl verschwunden war? Doch darüber würde er sich später Gedanken machen.

Belorah

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