Читать книгу Belorah - Sarah Zenker - Страница 9
Von Dunkelheit umgeben
ОглавлениеSie betraten ein großes, reichgeschmücktes Haus. Ilena schaute sich um, denn diese Pracht in allen Ausstattungsdetails überwältigte sie, wenn es auch für ihren Geschmack zu überbordend war. Samael führte sie in ein nobel eingerichtetes, geräumiges Zimmer mit Schränken und Spiegeln, die ringsum die Wände einnahmen. Er ging zu einem der großen Eichenschränke und öffnete ihn schwungvoll. Noch staunend über den erlesenen, farbigen Stuck an der Decke und die schweren Brokatvorhänge folgte Ilena ihrem Begleiter bis zu dem Schrank. In ihm befanden sich etliche, aus Leder gefertigte, reichverzierte Kleidungsstücke – einige für Männer, andere für Frauen. Samael schob Kleiderbügel hin und her, bis er schließlich eines der Kostüme herausnahm und es ihr hinhielt. Es war wunderschön, aus einem satten, dunkelbraunen, samtweichen Leder mit dunkelgrünen Verzierungen und Stickereien.
»Hier, zieh das mal an! Ich suche dir in der Zeit noch passende Stiefel und einen Köcher mit Pfeilen.« Daraufhin blickte Ilena ihn erschrocken an. »Ok, ok. Das Bogenschießen muss ich dir wohl noch beibringen«, bemerkte Samael spöttisch und zwinkerte ihr zu. Auf der Suche nach den Stiefeln hätte er sich am liebsten selbst geohrfeigt. Wie konnte er sich nur wie ein verliebter Teenager benehmen, das war doch überhaupt nicht seine Art. Dieses Mädchen brachte ihn noch um den Verstand, doch soweit durfte es nicht kommen; schließlich hatte sie hier eine wichtige Aufgabe und er musste sie dabei unterstützen. Gefühle waren dabei nicht hilfreich.
Währenddessen hatte Ilena ihren Umhang abgelegt. Vorsichtig, um dieses einmalige Kleidungsstück nicht schon beim ersten Anziehen zu zerreißen, schob sie es zaghaft über ihren Kopf. Sie war immer noch mit dem Anprobieren beschäftigt, als Samael eintrat. Er räusperte sich und schaute zur Seite. Sie blickte erschrocken auf. Er hätte doch auch draußen auf sie warten können. Doch sie genoss seine Gegenwart. So nutzte sie die Chance und bat ihn: »Kannst du mir bitte helfen? Ich weiß gar nicht, wie man so etwas schließt!« Gut gemacht, freute sie sich innerlich und lächelte. Er kam etwas unsicher auf sie zu und half ihr, die Schnüre um ihre Taille zu befestigen. Seine Finger waren heiß, als sie daraufhin ihre Schultern berührten, um die dort angebrachten Schnallen zu schließen. Sie erzitterte unter jeder seiner Berührungen, und ein Schauer lief ihr über den Rücken. Im Spiegel bemerkte sie sein Grinsen hinter ihrem Rücken und wusste sofort, dass aus dem eben noch Verwirrten wieder der Alte geworden war. Daraufhin drehte sie sich prompt um und fragte: »Wie sehe ich aus?« Sein Blick glitt von ihren Füßen, hoch zu ihren Beinen, ihrer Hüfte und schließlich über ihre Taille bis zu ihrem Hals. Er erkundete jedes Detail ihres Körpers, ehe sein Blick zu ihren Augen glitt und er verschmitzt, mit funkelndem Blick, erwiderte: »Wie die Göttin der Jagd!«
Sofort stieg ein Kichern in ihr auf, als er errötet zur Seite blickte und seine Hände unsicher an dem Köcher spielten, doch sie unterdrückte es. In Samaels Kopf hämmerte es: Junge, bekomm dich endlich unter Kontrolle! Schnell gab er ihr die Pfeile und drückte ihr ein Paar Stiefel in die andere Hand. Es war ihm ganz deutlich anzusehen, dass ihm die momentane Situation mehr als unangenehm war. »Hier, probiere das mal!«, forderte er, nun mit einer ganz anderen Stimme, bestimmt und wissend. Sie setzte sich hin und schlüpfte in die aus Ziegenleder gefertigten, reich bestickten Stiefel. Sie saßen wie angegossen. »Perfekt! Und wo geht’s jetzt hin?« Samael lächelte: »Auf geht’s zum hohen Rat! Jetzt aber schnell, sonst kommen wir noch zu spät, und bei der gestrigen Stimmung könnte es uns zum Verhängnis werden!«
Bevor sie fragen konnte, wovon er sprach, zog er sie ohne weitere Aufforderung hinter sich her, wieder hinaus auf die belebte Straße. »Da hinten ist es«, er zeigte auf ein schlossartiges Gebäude mit kleinen Türmchen und verzierten Erkern – sie glaubte fast, einem der prachtvollen Schlösser aus ihren Märchenbüchern gegenüberzustehen. »Und warum musste ich jetzt das hier anziehen?«, murmelte Ilena vor sich hin, während sie weiter hinter ihm her stapfte, »Also das heißt nicht, dass ich es nicht schön finde!«, setzte sie noch schnell hinterher. »In deinem Umhang hättest du dich dort nie blicken lassen können. Also dachte ich mir, ich kleide dich passend ein, um deinem Auftreten etwas mehr Wirkung zu verleihen. Schließlich bist du unsere Kriegerin aus der Prophezeiung!« Der letzte Teil kam etwas zu spöttisch heraus, und ein Grinsen huschte über sein Gesicht, weshalb Ilena ihn in die Seite boxte und grimmig ansah. Er schaute neckisch zu ihr herab und boxte zurück: »Ist doch nur Spaß!« Damit würde sie sich wohl abfinden müssen. Niemand nahm sie hier für voll, ganz egal, wo sie sich blicken ließ. Aber denen würde sie es schon zeigen.
Die Eingangshalle war riesig und etwas furchteinflößend. Die gewölbte Decke war mit kunstvoll ausgeführten Fresken verziert. Es waren etliche Fabelwesen abgebildet, die über Brücken, unter denen ein Fluss dahinströmte, oder über Sandwegen schwebten. In der Mitte bildeten Engel einen Kreis um eine Frau, die einer Jagdgöttin glich. Alles wirkte friedlich, bis auf die hintere, rechte Ecke. Dort wirkte das Fresko düster, doch sie konnte aus ihrer Entfernung nicht erkennen, was es darstellte. Erst als Samael sie weiter mit sich durch die Halle zog, da sie während ihrer Betrachtungen mit offenem Mund stehen geblieben war, erkannte sie erschrocken, worum es sich handelte: Ein Rehkitz auf einer Wiese, umringt von grauen Gestalten. Ein Messer, Blut.
Ihr Atem stockte, sie strauchelte, verlor ihr Gleichgewicht und wäre gestürzt, hätten sie nicht im letzten Moment zwei starke Arme gepackt, bevor sie auf den harten Marmorboden aufschlug. Samael zog sie hoch, stütze sie am Ellenbogen und fixierte sie mit seinem Blick. Sie starrte mit glasigen Augen zurück. Ilena war benommen zumute, doch nahm sie den bohrenden Blick ihres Begleiters wahr. Seine Augen waren vor Schreck geweitet, und das Funkeln in dem Braun war verschwunden. Für einen Moment wirkten sie leer, dann packte er sie unsanft am Arm und zerrte sie etwas grob hinter sich her. Langsam wich die Starre von ihr, und sie wand sich aus seinem Griff, doch dieser wurde nur noch eiserner. Bestimmt hinterließen seine Finger rote Flecken auf ihrer blassen Haut. Mit seiner freien Hand stieß er eine schwere Tür auf, die ihnen den Weg in das angrenzende breite Treppenhaus freigab.
»Ich...«, setzte sie an, doch er beachtete sie nicht, stattdessen hastete er mit ihr die Treppen hinauf. Ohne ein Wort zu verlieren, ließ er sie plötzlich stehen und spurtete ein weiteres Stockwerk hinauf. Was ist denn in den gefahren? Verdammt!, schimpfte sie innerlich und runzelte die Stirn. Eben noch herzensnett und jetzt so kalt wie Eis. Er hatte den zweiten Stock erreicht und verschwand einfach hinter einer Tür, welche er laut zuknallen ließ. So ein egoistischer Mistkerl!, dachte sie im Weitergehen, während sie mit angewidertem Blick die Treppe hinaufstapfte. Neben der Tür stand ein breiter, mit Samt gepolsterter Stuhl. Sie ließ sich darauf nieder und verschränkte trotzig ihre Arme. Was hat den denn so schockiert? Na gut, sie hatte ziemlich heftig auf das hintere Fresko reagiert, aber dafür konnte sie doch nichts.
Beim Betrachten dieses düsteren Bildes hatte es sie geschaudert. Es fühlte sich an, als wäre sie plötzlich wieder mitten in ihrem Albtraum. Doch da war noch etwas anderes. Die Welt um sie herum verschwamm und erschrocken nahm sie wahr, dass ihr Geist für den Bruchteil einer Sekunde in eine andere Dimension glitt. Sie versuchte sich an die Einzelheiten zu erinnern. Ilena hatte es nicht klar gesehen, aber da waren diese grauen Gestalten, welche suchend durch den Wald geisterten. Als Ilena zu erkennen versuchte, was sie zu finden hofften, wurde das Bild wieder unscharf, und sie starrte in die erschrockenen Augen Samaels. Was auch geschehen war, es hatte ihm offenbar Angst eingejagt. Und nun saß sie hier. Unwissend, wo sie war, was sie hier sollte, und warum er sich plötzlich so verändert hatte.
In diesem Moment schwang die Tür neben ihr auf. Samael und zwei weitere Männer traten heraus und direkt vor sie hin. Der Ältere von beiden, finster dreinblickend, war edel gekleidet. Seine silbergrauen, langen Haare waren nach hinten gekämmt und er hielt etwas in der Hand, das wie ein in rotes Leder gebundenes Buch aussah. Zwischen seinen Augen und um seinen Mund lagen tiefe Falten, was auf sein höheres Alter schließen ließ. Ilena schätzte ihn auf Ende 70. Der zweite Mann lächelte und schien etwas freundlicherer Natur zu sein. Er war vielleicht fünfzehn Jahre jünger, edel, aber nicht ganz so verschwenderisch gekleidet. Sie schaute von einem zum anderen und dann forschend zu Samael, doch ihr Blick prallte an ihm ab. »Los, steh auf!«, herrschte er sie an. Doch Ilena blickte ihn nur ausdruckslos an und machte keinerlei Anstalten, seinem Befehl zu folgen oder auch nur eine Sekunde daran zu denken. Er verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein, und plötzlich wich der harte Ausdruck von seinem Gesicht. »Komm, steh auf, sie wollen dich nur kennenlernen und dir einige Fragen stellen über deinen Albtraum und das, was eben...«, er räusperte sich, »und über den Zwischenfall von eben.«, beendete er seinen Satz.
Widerwillig erhob sie sich. Die Männer wandten sich ab und sie folgte ihnen. Bisher hatte keiner von ihnen etwas gesagt, sie hatten sie nur eindringlich gemustert. Sie führten Ilena in einen geräumigen, aber nicht abweisend wirkenden Saal. An den Wänden ragten hohe, schwere Bücherregale bis an die Decke und ein langer, schwerer Arbeitstisch stand am anderen Ende des Zimmers. Links von der Tür befand sich eine Sitzecke. Die Polster waren so dick, dass man bestimmt wunderbar darauf herumhüpfen konnte. Prompt dachte sie an ihren kleinen Bruder. Ob er wohl mittlerweile aufgewacht ist und so wie immer in mein Zimmer spaziert, um zu sehen, ob ich schon wach bin? Was ist bloß passiert? Liege ich noch immer im Bett und träume nur oder bin ich wirklich hier?
Samael riss sie aus ihren Gedanken, als er auf das Sofa wies und sie dorthin führte. Sie lies sich in die weichen Kissen sinken. Neben ihr tat ihr Begleiter es ihr nach, während die beiden älteren Männer sich in Sessel ihnen gegenüber setzten. Seitlich im Kamin loderten Flammen und verbreiteten knackende Wärme. Dann begann der Ältere zu reden: »Sei uns willkommen. Ich bin Sapientios, der Anführer Belorahs und das ist Kilian, er ist für unser aller Sicherheit zuständig. Wie man uns sagte, nennt man dich Ilena. Samael hatte uns vom gestrigen Vorfall und deiner starken Reaktion auf das Fresko berichtet. Wir sind mit ihm einer Meinung, dass sich die Prophezeiung endlich weitgehend erfüllt hat und du die große Kriegerin bist, die wir schon so lange sehnlichst erwarten. Samael erzählte uns auch von deinen Albträumen, und wie es sich zugetragen hat, dass du schließlich auf der Wiese standest.«
Er machte eine Pause in seinem Redefluss und sah Ilena aufmerksam an. Sie nickte bestätigend. Dann wechselte er einen kurzen Blick mit Samael: »Wie Samael uns ebenfalls schilderte, kam es soeben in der Eingangshalle zu einem kleinen Zwischenfall. Was ist geschehen?« Sein Blick durchbohrte sie. Zögernd machte sie den Mund auf und nach kurzem Überlegen wieder zu. Wie sollte sie ihm erklären, was dort unten passiert war? Sie verstand es ja selbst nicht. »Du wirktest wie abwesend und hattest dein Gleichgewicht verloren, erzählte uns Samael«, kam der Mann ihr entgegen. »Ja, das stimmt. Ich hatte mir die Fresken an der Decke angesehen. Ich fand sie wunderschön, doch dann bin ich auf die Abbildung in der hintersten Ecke aufmerksam geworden und habe sie genauer betrachtet. Beim Anblick der dargestellten Szene verschwamm plötzlich alles um mich herum.« Sie stockte kurz und atmete tief durch. »Erst war alles schwarz, dann sah ich Gestalten. Sie waren grau gekleidet und suchten nach etwas oder jemandem, keine Ahnung. Ich habe es nicht klar wahrnehmen können, und von einer Sekunde auf die andere war ich wieder bei Sinnen.«
Zunächst sagte niemand etwas. Neben ihr rutschte Samael auf dem Sofa ein Stück weiter nach hinten und atmete hörbar aus. »Also suchen sie bereits nach ihr und unserem Versteck«, schlussfolgerte er. Die Männer nickten bedächtig und der Jüngere erhob sich umständlich. »Wir sollten die Ratsversammlung über das Geschehene aufklären, Ilena.« Mit diesem Satz verbeugte er sich leicht und reichte ihr seine Rechte. Verlegen legte Ilena ihre Hand in seine, woraufhin er sie zu einer versteckten, in ein Bücherregal eingelassenen Tür führte. Ein Tritt auf eine lockere Bodenplatte und sie schwang nach innen auf. Dahinter offenbarte sich ein schmaler Gang, der zu einer weiteren Tür führte. Samael und Sapientios waren ihnen schweigend gefolgt. Unmittelbar bevor sie die Tür erreicht hatten, legte Kilian ihre Hand in die des Anführers und zog sich einen Schritt zurück.
Wissend wechselten dieser und Samael einen Blick, ehe sich die mit Eisen beschlagene Holztür auftat. Eine angespannte, stille Dunkelheit umfing sie. Ein letzter erschrockener Blick über ihre Schulter hinweg galt Samael, ehe Sapientios sich ihr zuwandte, ihr tief in die Augen sah, unverständliche Worte flüsternd. Urplötzlich wurden ihre Lider schwer und ein gedämpftes Pochen beherrschte ihren Kopf. Seine leisen Worte hallten in ihrem Inneren wieder, und bevor Ilena fragen konnte, was sich abspielte, legte der Anführer ihr eine Hand auf den Rücken. Vorsichtig schob er sie voran und gab ihr einen sanften Stoß, sodass sie durch den aufkommenden, dichten Nebel schritt.
Kaum war sie über die schmale Schwelle hinweg, verlor sie den Halt unter ihren Füßen und stürzte in die Tiefe. Die schwere Tür schepperte ins Schloss. Erschrocken stieß sie einen spitzen Schrei aus und versuchte durch die Dunkelheit ihre Umgebung auszumachen. Der Nebel hob sich etwas. Ein Blick nach unten und Ilena sah, was ihr bevorstand: schwarzes Wasser. Angespannt schloss sie ihre Augen und bereitete sich innerlich auf den Aufschlag vor. Doch es kam schlimmer, nahm sie erschüttert wahr. Mit einem schmerzhaften Aufprall durchschoss sie die dunkle Wasserdecke und wurde herumgewirbelt. Ihr Kopf schlug gegen die kalte Steinmauer, ehe sich ihr rotierender Körper wieder beruhigt hatte. Ilena verlor komplett ihre Orientierung und suchte verzweifelt nach der Oberfläche. Kleine Luftblasen strömten an ihrem Körper empor. Das Wasser zog an ihrer Kleidung und ließ sie immer schwerer werden. Mit jeder Sekunde ging ihr die Luft mehr aus, und ihre Lunge begannen sich schmerzhaft zusammenzuziehen. Um ihr Leben kämpfend, strampelte Ilena so schnell und kräftig sie konnte. Sie sah über sich bereits die Reflexionen der Wasseroberfläche.
Es kann nicht mehr weit sein, gleich habe ich es geschafft!, versuchte sie, sich selbst zu ermutigen. Und tatsächlich! Mit drei weiteren hastigen Schwimmzügen stieß sie an die glänzende Oberfläche vor. Japsend schwamm sie zum Rand des Beckens und zog sich schwerfällig empor. Kraftlos sank sie auf den Boden und sog gierig die kalte Luft ein. Ihr Kopf schmerzte von den Schlägen gegen die steinerne Mauer, doch ihr blieb keine Zeit zum Nachdenken, denn im nächsten Moment zischte gefährlich dicht ein spitzer Pfeil an ihr vorbei, prallte an der Mauer hinter ihr ab und landete im aufgewühlten Wasser. Ihre weit aufgerissenen Augen starrten auf das, was sich ihr soeben offenbart hatte. Vor Ilena lag ein scheinbar langer, von Hindernissen übersäter und mit vereinzelten Fackeln spärlich beleuchteter Gang. Den Pfeil hatte sie wohl selbst mit ihrem Fuß ausgelöst, der auf einer heruntergedrückten Steinplatte Halt gefunden hatte. Was zur Hölle ist das hier?, fragte sie sich und zog die Augenbrauen zusammen. Diese scheinheiligen Männer tun so, als ob ihnen etwas an mir liegt, und im nächsten Moment setzten sie mich diesem tödlichen Parcours aus. Was soll das? Wütend zog Ilena sich an der Wand empor, bedacht darauf, kein weiteres Unheil auszulösen.
Unbehaglich löste sie sich von ihrem Halt und beobachtete die vor ihr liegenden Steinplatten. Herauszufinden, welche sich herunterdrücken ließen und welche sicher schienen, fiel ihr nicht schwer. Um die lockeren Platten zeigte sich ein dünner, jedoch deutlich erkennbarer Spalt. Vorsichtig tippte Ilena eine ihr sicher erscheinende Platte an. Als nichts geschah, trat sie entschlossen darauf und suchte nach einer weiteren. Die Wände zu beiden Seiten waren ebenfalls mit Geschossen bestückt, allerdings unterschieden sie sich in ihrem Aussehen deutlich. Welchen Zweck sie erfüllten, konnte sie nicht erkennen. Finsteren Gedanken nachhängend, wie sie hier lebend herauskommen sollte, stolperte sie über eine angehobene Steinplatte.
Im selben Moment vernahm sie ein Klacken zu beiden Seiten und in der nächsten Sekunde kamen ihr von den Wänden grobgestrickte Netze entgegengeflogen, umfingen sie und warfen sie schließlich zu Boden. Keinen Atemzug später schossen ein Dutzend Pfeile über ihren Kopf hinweg und durchschnitten die kaltfeuchte Luft. Mit stockendem Atem lag sie auf den kühlen Steinen und wagte es nicht, sich zu rühren. Plötzlich vernahm sie ein bedrohlich klingendes Geräusch. Benommen drehte sie ihren Kopf. Ein ohrenbetäubender Schrei ließ sie aufschrecken. Der Laut kam nirgendwoher sonst als aus ihrem eigenen Mund, doch das war es nicht allein, was sie zusammenfahren ließ. Hinter ihr aus dem Nichts waberte eine nebelumhüllte Gestalt heran. Das war kein Mensch. Die Kreatur war in einen schwarzen Umhang gehüllt, nur eine knöcherne Hand lag ruhig auf einem gedrehten Gehstock. Den Kopf hatte das Wesen bösartig vorgebeugt und durchbohrte Ilena mit seinen feuerrot hervorstechenden Augen. Ihm entströmte eine Hitze, die ihr den Schweiß aus allen Poren schießen ließ.
Langsam schritt es voran. Panisch versuchte die Gefangene die Netze abzustrampeln und löste dabei ungeschickt einen weiteren Pfeil aus einer Wand. Er schnellte wie ein Blitz von hinten an dem Wesen vorbei. Er wäre auch an Ilena vorbeigeflogen, doch die Kreatur deutete eine knappe Handbewegung an, und im Nu hatte der Pfeil seine Richtung verändert und raste auf sie zu. Das Geschoss durchschnitt das über ihr liegende Netz und traf sie schmerzhaft in ihren linken Unterarm, den sie reflexartig schützend über sich gehoben hatte. Verletzt schrie Ilena auf. Der Schmerz durchschoss sofort ihren Körper. Entschlossen packte sie das Ende des Pfeils und zog ihn mit zusammengekniffenen Augen aus ihrem Unterarm. Zitternd vor Angst und Schmerz starrte sie auf die blutende Wunde, welche die Waffe hinterlassen hatte. Hektisch schob sie ihren Körper unter den Fängen der Netze hindurch und versuchte, den an ihr zerrenden Seilen zu entkommen. Ächzend zuckte sie zusammen. Ihre goldene Halskette hatte sich in einem der grobgestrickten Netze verfangen und schnürte ihr die Kehle zu.
Das Wesen rückte näher, kaum zwei Meter trennten sie noch. Da stemmte Ilena sich, dem Schmerz an ihrem Hals trotzend, mit ihrem gesamten Gewicht gegen die Kette, sodass diese zerriss. Ihre letzten Kräfte bündelnd kam sie auf die Füße, die sich senkenden Platten außerachtlassend, und dann rannte sie los. Wieder lösten sich Pfeile aus den Wänden. Eine Handbewegung. Und wieder schnellten die eisernen Spitzen auf die Verfolgte zu. Eiskalt gefror ihr das Blut in den Adern, als sie das Zerschneiden der Luft unmittelbar hinter sich vernahm. Keinen Augenblick später traf sie einer der Pfeile tief in ihre Seite, ein anderer in ihren Oberschenkel. Stöhnend warf sie sich herum, mit dem Ziel, den restlichen Pfeilen zu entkommen – doch vergebens, sie schien die Geschosse magnetisch anzuziehen. Ihr heißer Atem stieß dünne, weiße Nebel aus ihrem Mund. Wieder zuckte ihr Körper, und wieder senkte sich ein Pfeil tief in ihr Fleisch hinein. Das Bild vor ihren Augen verschwamm, leuchtende Punkte erschienen und sie kämpfte um ihr Bewusstsein.
Keuchend sank Ilena auf den Boden. Schweißgebadet blickte sie zu der finsteren Gestalt auf. Die glühenden Augen des Wesens bohrten sich in ihren Körper und ließen sie erzittern. Urplötzlich sprang eine spitze Klinge unter einem der Ärmel hervor. Mörderisch beugte sich die Kreatur zu ihr herab und holte zum tödlichen Stoß aus. Von Entsetzen gepackt schloss Ilena, um ihren Tod wissend, die Augen. Sie musste hier weg, und zwar sofort! Ihr Atem flachte abrupt ab, als sie sich mit letzter Kraft auf ihre innere Ruhe konzentrierte und ihren Geist freigab. Dann verlor sie das Bewusstsein.
***
Ein dumpfer Schmerz breitete sich in ihrem Kopf aus, ehe sich das Schwarz um sie herum zu lichten begann und einem verschwommenen Bild wich. »Sie ist wieder bei Sinnen«, verkündete eine tiefe Stimme, woraufhin sich ein Raunen im Raum ausbreitete. »Ilena, kannst du mich hören?«, fragte dieselbe Stimme. Langsam hob sie ihre Hand und wischte sich über ihre schweißnasse Stirn. Ihr Kopf brummte, als hätte sie den schlimmsten Kater ihres Lebens. Unkoordiniert flatterten ihre Lider auf und ab, ehe sie aufflogen und ihre Augen ihr halfen, ihre Situation zu klären. Sie lag auf einem Tisch am Ende eines großen Raumes, in dem mittig eine lange Tafel verlief, an der viele Personen Platz finden konnten.
»Ja«, ließ sie nun nur knapp von sich hören. »Wie ich dir leider mitteilen muss, ist dein Geist noch gefangen, und du vermagst es nicht, ihn weiter auszudehnen. Die Aktination ist bei dir sehr dürftig ausgefallen, was wiederum bedeutet, dass du noch viel zu lernen hast, bevor wir dich als vollwertiges Mitglied unseres Stammes bezeichnen können«, verkündete eine Frau, die sie bedauernd musterte. »Was war das? Wolltet ihr mich umbringen?«, erwiderte Ilena entgeistert, wobei sie ihre Stimme nicht unter Kontrolle hatte, sodass diese sich überschlug und dabei etliche Tonlagen höher als gewöhnlich klang. »Das waren doch nur Halluzinationen, jetzt stell dich nicht so an, Kind«, teilte die Frau Ilena schnippisch mit, die eine Hand auf die Stelle an ihrem Bauch legte, wo vor wenigen Augenblicken noch einer der Pfeile gesteckt hatte. Und doch, sie plagte ein stechender Schmerz. »Ist nur ein blauer Fleck«, mischte sich die Frau erneut ein. Verwirrt starrte Ilena auf ihren Unterarm. Tatsächlich, das Einzige, was von der blutenden Wunde übriggeblieben war, war ein bläulicher Fleck. »Wie zum...?«
Samael trat an sie heran und neigte sich zu ihrem Ohr herab: »Mach jetzt keinen Aufstand, ich erkläre es dir später. Du befindest dich gerade vor unserem Ältestenrat!« Die Zähne aufeinanderpressend rutschte Ilena von der schmalen Tischplatte auf den hölzernen Boden herab. »Wenn ich bitten darf?«, fragte Sapientios, hielt der jungen Frau seine Hand hin und deutete mit der anderen auf einen nahestehenden Stuhl. Zweifelnd musterte sie ihn und zog es vor, sich alleine an den vorgesehenen Platz zu begeben, weshalb sie mit einem Kopfnicken dankend ablehnte. Sapientios konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, schritt voran und ließ sich auf einem pompösen Stuhl nieder, der die Kopfseite der Tafel zierte. Der Ältestenrat bestand vorwiegend aus Männern jeglichen Alters. Die einzige Ausnahme machte die Frau, die sie gerade so herablassend empfangen hatte. Sie trug ihre schwarz-grauen Haare in einem strengen Pferdeschwanz.
»Nehmt bitte Platz!«, tönte es von der Kopfseite zu ihr herüber. Ilena hatte sich an eine der langen Tafelseiten gesetzt und beobachtete das Geschehen. Einige der Männer mit grauen Bärten hatten ihre Köpfe zusammengesteckt und wild gestikulierend diskutiert, ehe der Befehl des Anführers durch den Raum hallte. Jetzt bewegten sie sich ehrfürchtig herüber zu ihren Plätzen, wo Diener ihnen die Stühle zurückzogen und ihnen beim Hinsetzen halfen. Nachdem sich jedes Mitglied der Runde niedergelassen hatte, ertönte Sapientios` machtvolle Stimme: »Den jüngsten Geschehnissen nach zu urteilen, befinden wir uns mehr im Krieg denn je. Wir haben alles in unserer Macht Stehende versucht, diese grausame Meute, mitsamt ihres Anführers, in Schach zu halten und sie aus unseren Wäldern zu vertreiben! Doch muss ich euch leider mitteilen, dass ihre Streifzüge bisher kein Ende gefunden haben und wahrscheinlich auch in näherer Zukunft nicht aufhören werden. Die Wukogi durchstreifen unsere Wälder, nehmen Schutzlose und Unschuldige gefangen und sperren sie in ihre uneinnehmbare Burg. Unsere Armee ist zu klein, um gegen die ihre zu ziehen. Unsere einzige Chance, dieses Unheil zu beenden, ist auf unser Schicksal zu vertrauen und unser Leben in die Hände dieser jungen Frau, unserer neuen Kriegerin, zu legen!«
Seine Augen glitten über die Reihen der angespannten Gesichter der Ratsmitglieder hinweg, bis hin zu Ilena und betrachteten sie bedeutsam. »Ilena, wirst du an unserer Seite kämpfen, unsere Truppen anführen und uns von dieser Last befreien?« Unsicher zuckte ihr Blick zwischen den fragenden Gesichtern der Stammesältesten hin und her. Wie konnte sie für etwas garantieren, das dem Möglichen so fernlag? Samael, der sich hinter ihrem Stuhl aufgestellt hatte, legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter und drückte sie leicht. Sofort machte sich ein Gefühl der Kampfbereitschaft in ihr breit, und sie stand entschlossen auf. »Ja, das werde ich!«, gab sie mit feierlicher Stimme bekannt.
»Das ist doch lächerlich!«, erklang es vom anderen Ende des Raumes, aus dem Mund der strengen Frau. Verärgert stand auch sie auf und deutete drohend mit einem Finger auf Ilena: »Dieses kleine Mädchen ist doch überhaupt nicht in der Lage, uns auch nur den geringsten Sieg zu erringen! Sie kann doch nicht einmal die Aktination bewältigen! Wie soll sie dann da draußen«, ihr Arm zeigte zum Fenster, »auch nur einen einzigen Tag überleben oder gar unsere Truppen anführen?« Jetzt mischte sich ein anderer Mann, der ihr gegenüber Platz genommen hatte, ein. »Phylia hat recht! Wir dürfen ihr nicht unser Schicksal überlassen, sie wird uns ins Verderben führen!« »Aber Proklos, wir sind bereits verloren! Wir sollten auf sie vertrauen, vielleicht ist sie unsere letzte Hoffnung«, tat ein weiterer Mann seine Meinung kund. »Was redest du denn da? Belorah geht es gut, das Volk ist glücklich und geht seinen alltäglichen Aufgaben nach. Nennst du das verloren?«, konterte Phylia. »Nur weil es innerhalb unserer Bannmauer keiner ausspricht, heißt es nicht, dass sie glücklich sind! Wer Belorah verlässt, begibt sich in Lebensgefahr. Regelmäßig verschwinden Kinder, Männer und Frauen, und deiner Meinung nach geht es unserem Volk gut?«
Phylia verdrehte genervt ihre Augen: »Wir schweifen vom Thema ab. Hier geht es nicht darum, wie gut oder schlecht es um das Wohlbefinden unseres Volkes steht, sondern ob wir diesem Mädchen unser Leben in die Hände legen sollen!« Ich bin kein Mädchen mehr, zu Hause gelte ich schon lange als erwachsen, dachte Ilena, zog es jedoch vor, dies nicht laut kundzutun. Mehr und mehr schwoll die Diskussion zu einem hitzigen Streit an. Immer weniger Ratsmitglieder harrten auf ihren Stühlen aus. Sie standen auf, schleuderten sich ihre Argumente entgegen und gestikulierten aufgeregt. Ihre Worte schepperten wie stählerne Schwerter aufeinander und ihre Blicke durchzuckten die Luft wie Blitze.
Eingeschüchtert wendete Ilena ihren Kopf und warf Samael einen hilfesuchenden Blick zu. »Komm«, erlöste er sie, zog ihren Stuhl beiseite und legte schützend einen Arm um ihre Schultern. Sie gingen um den Tisch zu Sapientios herum, der nachdenklich auf seinem Thron saß und das fiebrige Geschehen mitverfolgte. »Ich denke es ist besser, wenn ich Ilena jetzt hier herausbringe«, bemerkte Samael und riss ihn aus seinen Gedanken. Mit weisem Blick musterte der Anführer Ilena eine Weile, die ewig zu dauern schien, ehe er einem der Diener zuwinkte und dieser ihm half aufzustehen. Ohne etwas zu sagen geleitete er die beiden bis auf die andere Seite des Raumes. Seine Hand auf der Türklinke liegend flüsterte er: »Es wäre am besten, einen Trupp auszuschicken. Sie sollen aufgespürt und vernichtet werden, bevor es ihnen gelingt, uns ausfindig zu machen.« Er bedachte Samael mit einem langen Blick, bevor er weitersprach: »Du führst den Trupp an! Nimm sie mit, aber lass sie niemals aus den Augen, nicht mal eine Sekunde, hörst du? Ich vertraue der Prophezeiung, und ich glaube, dass wir in Ilena die Richtige gefunden haben!« »Ja, ich habe verstanden«, erwiderte Samael. »Gut, denn von ihr hängt unsere Rettung oder aber auch unser Verderben ab. Vergiss das nie!«
Ilena räusperte sich: »Wie könnt ihr euch sicher sein, dass sich durch mich die Prophezeiung erfüllt? Ich habe noch nie gekämpft und weiß nicht, auf welche Weise ich euch helfen könnte. Ich kann weder mit Waffen umgehen, noch kann ich schnell rennen oder sonst etwas. Warum soll ich den Trupp begleiten? Ich wäre wohl eher eine Last.« »Deine Fähigkeiten wirst du erst im Kampf erkennen«, deutete Sapientios an und nickte ihr aufmunternd zu. »Wann sollen wir aufbrechen?«, erkundigte sich Samael. »Am besten noch heute Nachmittag! Nimm vier Krieger mit und kommt erst wieder, wenn ihr sie gefunden habt. Doch einen lasst am Leben, ihn werden wir verhören müssen. Nun geht.« Samael nickte und straffte entschlossen seine Schultern. Er verbeugte sich leicht, und Sapientios öffnete die Tür. »Viel Glück! Ihr werdet es brauchen.« Ilena nickte ihm zum Abschied unsicher zu und verschwand mit Samael im angrenzenden Gang.
»Was ist vorhin mit mir passiert?«, brach Ilena die Stille, die seit Verlassen des Zimmers zwischen ihnen herrschte. Sie liefen gemeinsam den Weg zurück, den sie gekommen waren, und um sie herum war emsiges Treiben. Kinder rannten umher und spielten Fangen, Frauen hinter Verkaufsständen priesen ihre Waren an, und ein paar junge Männer lieferten sich einen Schwertkampf. »Erinnerst du dich an die Worte, die Sapientios geflüstert hat?« »Ja, allerdings habe ich nicht verstanden, was er sagte.« »Das war Sphenoi, eine sehr alte mystische Sprache.« Nachdenklich zog Ilena ihre Augenbrauen zusammen. »Seine Worte haben dich in eine Art Hypnose versetzt, in der du dich der Aktination stellen musstest. Einfach erklärt, kann man mit ihrer Hilfe die Empfindsamkeit des eigenen Geistes herausfinden und feststellen, inwieweit sich dieser über seinen Horizont hinaus ausdehnen kann oder eben, wie es bei dir war, feststellen muss, dass er noch nicht genug ausgebildet ist, um mehr als eine festgefahrene Sichtweise zu vertreten.« Ilena sah Samael skeptisch an: »Muss jeder dieses Ritual bestreiten?« »Nein. Dieses Ritual ist nur für die Krieger und Führer Belorahs vorgesehen. Es wird geprüft, ob man in einer Gefahrensituation entsprechend handeln, die wichtigen Details erkennen kann, und sich nicht vom Schein des Äußeren trügen lässt«, erklärte Samael in ruhigem Ton. »Aber jetzt genug davon. Kannst du reiten?« »Ähm...«
Die Frage kam unerwartet, und Ilena grübelte nach. Sie hatte, als sie in die Schule gekommen war, ein paar Reitstunden zum Geburtstag geschenkt bekommen. Die waren recht gut gelaufen, aber seitdem hatte sie nie mehr auf einem Pferd gesessen. »Also, ich bin als Kind ein paar Mal geritten, aber man kann nicht sagen, dass ich es gelernt habe«, gestand sie und presste die Lippen fest zusammen. »Hab ich mir schon gedacht. Na ja, mal sehen was sich machen lässt.« Inzwischen hatten sie eine Scheune am Ende einer Sackgasse erreicht. An der Wand waren Heuballen gestapelt, und es roch nach Pferd. Samael schlüpfte durch einen Spalt, den die Tür freigab, und kurz darauf hörte man von innen das Wiehern von Pferden. Mit einem Schwung flog die Tür auf, und er führte einen stattlichen, schwarzen Hengst heraus. Er kam direkt auf Ilena zu, und als er nur wenige Zentimeter vor ihr zum Stehen kam, wich sie automatisch zurück. Es war ein schönes Tier, doch das änderte nichts daran, dass es ihr aufgrund seiner Statur bedrohlich vorkam.
»Du brauchst keine Angst zu haben, er ist sehr gutmütig.« Zwei Sekunden später hatte Samael ihren Arm geschnappt und sie ohne Probleme auf den Rücken des Pferdes gesetzt. Sie stieß einen spitzen Schrei aus und der Hengst begann, mit den Hufen zu scharren. »Brrr, brrrrrr«, machte Samael, tätschelte dem Tier den Hals und flüsterte ihm beruhigende Worte ins Ohr. Dann sah er sie tadelnd an: »Du erschreckst ihn. Schrei lieber nicht so, sonst sitzt du gleich vor mir auf dem Boden!« Bei seinen Worten grinste er und lief los. Eine Hand an dem Halfter, um das Pferd zu führen, die andere auf ihrem Schenkel. Anscheinend wollte er ihr Halt geben, doch seine Berührung bezweckte genau das Gegenteil. Sie spürte seine Finger durch ihre Lederhose und errötete. Bestimmt hatte er es bemerkt, aber sein Blick verriet nichts. Er hatte seine Gesichtszüge oder generell seinen Körper gut unter Kontrolle, was ihr nicht gelang.
»So und jetzt versuch, allein ein paar Schritte zu reiten!«, forderte er sie auf. Ihre Hände verkrampften sich in der Mähne des Hengstes, und ihre Schenkel spannten sich an. Samael schaute sie aufmerksam an und wartete auf ein Zeichen. Sie nickte. Er ließ das Halfter los und im nächsten Moment gab er dem Pferd einen leichten Klaps aufs Hinterteil. Sofort machte das Tier einen Satz nach vorne und trabte los. Sie war auf Schritt vorbereitet gewesen, doch nicht auf diese Gangart. Ängstlich versteifte sie sich und zog etwas zu heftig an der Mähne, was sich kurz darauf als Fehler erwies. Der Hengst tänzelte mit den Hinterhufen hin und her, holte aus, und schon flog sie von seinem Rücken. Das Pferd hatte anscheinend genug von ihr und trabte pikiert davon. Ilena war hart auf dem Sandboden gelandet und stöhnte auf. Samael hingegen lachte und kam herbeigerannt.
»Alles okay bei dir?«, fragte er und hielt ihr hilfsbereit seine Hand hin. »Ja, natürlich. Mir geht’s bestens!« grummelte sie, blieb jedoch sitzen. »Du darfst dich nicht versteifen. Bleib locker, das Pferd bestimmt den Rhythmus, und du musst dich dem anpassen.« In seinen Augen glitzerte es amüsiert, doch Ilena schnaubte und blitzte ihn an: »Du hättest mich vorwarnen oder mir erklären können, wie man sich richtig verhält! Aber nein, du findest es lustiger, wenn ich meine Erfahrungen selber mache. Auch gut.« Beleidigt drehte sie sich weg und stand auf. Samael pfiff auf seinen Fingern, und der Hengst trottete heran.
»Komm, wir probieren es noch einmal! Ich passe diesmal besser auf, versprochen!« Er war schon wieder dabei, seine Hände an ihre Hüfte zu legen, um sie auf das Pferd zu setzten. Schnell wich sie einen Schritt zurück, um nichts auf der Welt würde sie da erneut heraufsteigen. »So schlecht hast du dich doch gar nicht geschlagen, und jetzt, wo du doch weißt, worauf du achten musst, dürfte es dir nicht mehr allzu schwerfallen.« Aufmunternd machte er einen Schritt auf sie zu, sie sofort wieder einen zurück. Langsam entwickelte sich daraus ein Spiel, und es fing an, ihr Spaß zu machen. Schritt für Schritt bewegten sie sich über den Hof. Ilena wagte es nicht, sich auch nur eine Sekunde von ihm wegzudrehen, um ihn stets im Sichtfeld zu behalten.
Plötzlich funkelten Samaels Augen auf. Er hechtete nach vorne und wollte sie zu fassen bekommen, doch Ilena wand sich geschwind zur Seite, bückte sich unter seinen Armen hindurch und rannte los. Behänd schlüpfte sie in die Scheune hinein und drehte sich einmal um ihre eigene Ache, um sich einen groben Überblick zu verschaffen. Das Gebäude war in zwei Ebenen aufgeteilt. Unten waren einige Ställe mit Pferden. Heugabeln standen herum und in einer Ecke lagerten Sättel auf Balken. Überall lag Heu, das anscheinend von der Tenne heruntergefallen war, verstreut auf dem sandigen Boden. Eine Leiter im hinteren Teil der Scheune führte auf die zweite Ebene. Ohne lange nachzudenken, rannte Ilena auf sie zu und kletterte hoch. Einige Sprossen fehlten, so musste sie sich an ihren Armen hochziehen, während sie mit ihren Füßen nach Halt suchte. Samael, der bei seinem Versuch, sie zu fangen, nach vorne getaumelt war, hatte seine Balance zurück und folgte ihr in die Scheune. Er stieß die Tür mit einem Tritt auf, die sie beim Hineinschlüpfen zugeworfen hatte und trat ein. Aufmerksam suchte er jeden Winkel nach ihr ab.
Langsam, damit sie ihn nicht auf sich aufmerksam machte, krabbelte Ilena weiter zu dem Heuhaufen, der hoch aufragte und ihr Schutz vor Samaels suchendem Blick bot. Vorsichtig spähte sie an dem Heu vorbei und erhaschte einen kurzen Blick auf ihn. Der aufgewirbelte Staub war im Licht der durchscheinenden Strahlen gut sichtbar. Er schlich um die Boxen der Pferde. Ruckartig zuckte sein Blick nach oben. Sie warf sich zurück. Ihr Herz pochte ihr bis zum Hals, und sie würde sich nicht wundern, wenn man es bis nach unten hören konnte. Ilena vernahm, wie sich die Leitersprossen unter seinem Gewicht bogen und er Sprosse um Sprosse zu ihr heraufkletterte. »Na, wo ist denn unsere Ausreißerin?«, feixte er siegessicher.
Kurz darauf erschien sein dunkler Schopf über dem Heuboden, und gebannt hielt sie den Atem an. Sie kauerte sich weiter in das Heu hinein. Jetzt kniete er auf der hölzernen Plattform. Durch die Halme erspähte sie, wie er bedacht langsam, um keine Geräusche zu verursachen, auf sie zukam. Dann hielt er kurz inne und ein Lächeln huschte über sein makelloses Gesicht. Blitzartig griff er in das auseinandergeschobene Heu und hatte ihren Knöchel gefasst. Ilena wand sich und versuchte, seinem Griff zu entkommen, doch da hatte er auch schon das über ihr liegende Heu, mit seiner freien Hand über die Kante nach unten befördert. Samael lachte hell auf, als sie strampelte und ihn mit gespieltem Ärger anblickte.
Mit einem breiten Grinsen zog er sie über den Boden zu sich heran. »So, und jetzt, wo ich dich habe, üben wir weiter, bis du es kannst«, drohte er ihr neckend. »Oh nein, das kannst du dir schön abschminken, mein Lieber!« »Na gut, wenn du nicht freiwillig mitkommst, muss ich dich wohl tragen.« Kaum hatte er zu Ende gesprochen, kniete er sich neben sie, um ihr seinen Arm unter den Rücken zu schieben und sie hochzuheben. Doch bei seinem Versuch war sein Gesicht dem ihren so nah gekommen, dass er plötzlich innehielt. Ihr Atem stockte, seine Nähe und die Hitze, die er ausstrahlte, erstickten ihren Fluchtwillen. Die maskulinen Gesichtszüge kamen durch die spärliche Beleuchtung und die dadurch entstehenden Schatten auf seinem Gesicht noch mehr zur Geltung. Sein Blick glitt über ihre Augen zu ihrem Mund, verharrte kurz darauf, nur um dann sofort wieder zu ihren Augen zurückzukehren.
Ilena legte zaghaft ihre Hand auf seine Brust und spürte, wie sie sich langsam hob und senkte. Vorsichtig schob sie sie höher zu seinem Hals, bis zu seinem Nacken. Sein Griff, der noch immer um ihr Bein verharrte, lockerte sich, bis er ganz losließ, sich über sie beugte und sich mit beiden Händen neben ihrem Kopf abstützte. Sie ließ ihre andere Hand von seinem Nacken wieder herab wandern und strich zärtlich über sein linkes Schlüsselbein und weiter herab zu seiner Brust. Samael suchte ihren Blick, während in seinem etwas Unergründliches lag, das nur darauf wartete, geweckt zu werden. Sie sah wie jeder einzelne Muskel an seinem Körper angespannt war und strich sanft über seine Arme. Er beugte sich langsam zu ihr herab und sein Blick wirkte wie im Rausch gefangen.
Jetzt oder nie, dachte sie sich, drehte sich unerwartet schnell zur Seite und rollte sich unter seinem Arm hinweg. Sofort sprang sie auf und Triumph glitzerte in ihren Augen. Tja, ausgetrickst! Sie freute sich über seinen verwirrten Gesichtsausdruck und stemmte zufrieden ihre Arme in die Hüfte. Samael stöhnte und sprang ebenfalls auf. Sein Blick flammte noch, als er einen Schritt auf sie zukam und eine Augenbraue hochzog. Fröhlich hüpfte sie über das Heu, um ihm endgültig zu entkommen. Auf einmal verschwand der Boden unter ihren Füßen und in der nächsten Sekunde krachte sie durch die Decke auf den heubedeckten Boden der Scheune. Ihre Beine knickten ein, sie strauchelte und landete hart auf ihren Knien. Von oben erschallte ein lautes Lachen, und da schwang Samael sich auch schon über die Kante zu ihr herunter. Ein kurzer Blick hinauf bestätigte ihr, was sie befürchtet hatte: Über ihr war ein Loch in der Tenne. Sie hätte wissen müssen, dass sie ihn nicht einfach so austricksen konnte, ohne dafür zu büßen. Er baute sich mit verschränkten Armen vor ihr auf und grinste.
»Kleine Sünden bestraft der Allmächtige eben sofort!«, sagte er betont höhnisch, beugte sich vor und zog sie wieder hoch auf die Füße. Schnaubend klatschte sie mit ihren Händen auf ihre Beine und ihren Po, um den Staub und das Heu abzuklopfen. Samael wirkte gelassen, und nicht das Geringste deutete darauf hin, was er eben noch offensichtlich gefühlt hatte. Das verdankte er der jahrelangen Übung, die eigenen Regungen zu kontrollieren – eine wichtige Eigenschaft eines Kriegers. Er lehnte sich entspannt an das Scheunentor und musterte sie. Ilena stand etwas unbeholfen vor ihm und versuchte beschäftigt zu wirken, indem sie Staub an Stellen abklopfte, wo längst keiner mehr war. Er musterte sie. Ihre braunen Haare, in einen dicken Zopf geflochten, gingen ihr bis zur Taille. Sie war um die anderthalb Köpfe kleiner als er. Ihre sportliche und doch weibliche Figur, wurde durch das enganliegende Wildlederkostüm noch betont. Ihre hohen Wangenknochen und die etwas schräg stehenden braunen Augen gaben ihrem schönen Gesicht etwas Katzenhaftes. Seine Augen suchten die ihren und erhaschten einen Blick voller Neugier, gepaart mit einem Hauch von Schüchternheit, der ihm ein Lächeln entlockte.
Sie sahen einander an, doch keiner sagte etwas. Beide in Gedanken versunken, schreckten sie plötzlich hoch, als die Tür hinter Samael aufschwang und dieser überrumpelt nach hinten stolperte. Der gutaussehende Engel, der sie an ihrem ersten Tag in Belorah so beeindruckt hatte, stand vor ihnen und musterte sie beide mit einem sympathischen Lächeln im Gesicht. »Hattest du etwa vor, sie die ganze Zeit für dich zu beanspruchen?«, fröhlich zwinkerte er ihr und Samael zu, der sein Gleichgewicht wieder zurückgewonnen hatte und sich von Ilena abwandte. »Ich wollte sie den anderen gleich vorstellen, ihr kennt euch ja schon. Allerdings waren wir gerade dabei, ein kleines Problem zu lösen. Sie kann nämlich nicht reiten.« Beide Engel schauten Ilena an, während sie sich so unterhielten, als wäre sie gar nicht anwesend.
»Nicht reiten? So, so, das könnte einige Schwierigkeiten geben. Ich habe gehört, dass wir gleich aufbrechen sollen, um die Kerle aufzuspüren, die sich in unseren Wäldern herumtreiben?« Nun hatte er sich wieder Samael zugedreht, der meinte: »Könntest du den anderen Bescheid geben, dass wir uns am Südtor treffen, sobald die Sonne ihren Zenit erreicht hat? Und packt so, dass wir ein paar Tage über die Runden kommen. Es ist uns erst gestattet zurückzukehren, wenn wir die grauen Wukogi und die Sluvrak gestellt haben!«
Mit einer hochgezogenen Augenbraue musterte sein Gegenüber Ilena bevor er antwortete. »Und was ist mit ihr? Ich meine, wenn sie nicht reiten kann, wie regeln wir das?« »Das weiß ich auch nicht. Ich schätze, das müssen wir jetzt noch üben, bevor wir uns treffen.« Samael drehte sich um, und sein Blick schweifte über die Wiese. Dann pfiff er einmal kurz und durchdringend, und sein Hengst kam herangetrottet. »Ich bin übrigens Danyal«, der andere Engel reichte Ilena seine Hand. »Ich schätze mal, du kennst meinen Namen bereits«, entgegnete sie und gab ihm die ihre. »Ja, ich glaube, hier haben schon alle von dir gehört. Ich hätte mir nie erträumt, dass eine so reizende junge Frau wie du unsere Retterin sein soll. Hätte ich das gewusst, hätte ich…« »Lass gut sein Danyal. Wir sehen uns später«, unterbrach Samael ihn mit einem Lachen und schob ihn aus der Scheue heraus. Danyal warf Ilena einen letzten, vielsagenden Blick zu, ehe er sich auf den Weg machte, die anderen zusammenzurufen und alles für ihre spätere Jagd vorzubereiten.
Zugegeben, diese Engel sahen zum Anbeißen gut aus. Danyal glich Samael auf verblüffende Weise, und doch waren sie in ihrer Mimik und Körpersprache verschieden. Vielleich war es der Blick, mit dem sie Ilena ab und zu streiften oder aber auch die Entschlossenheit, die beide unübersehbar ausstrahlten. Zudem beeindruckten beide mit diesen weißen, prächtigen Flügeln. »Er ist auch einer meiner Brüder, der Zwillingsbruder von Selaiah«, riss Samael sie aus ihren Gedanken. »Wie kommt es, dass ihr hier im Dorf seid? Ich dachte Engel gibt’s – wenn überhaupt – nur im Himmel«, wunderte sich Ilena.
Als sie ihn forschend beobachtete, bemerkte sie, wie ihm, wenn auch nur für einige Sekunden, die Farbe aus dem Gesicht wich. »Das ist eine lange Geschichte, die werde ich dir ein anderes Mal erzählen«, erwiderte er knapp. »Und was ist mit euren Flügeln? Kann man die ablegen? Und warum reiten wir, wenn ihr auch fliegen könntet?«, hakte Ilena neugierig nach. Samael stöhnte innerlich. Warum sind Frauen immer so neugierig? Kein Wunder, dass Eva den Apfel vom Baum gepflückt hatte, und die Menschen das Paradies verlassen mussten. »Über ihnen liegt ein Zauber, und sie sind oft nur als goldene Tätowierung sichtbar, bis wir sie benötigen, dann entfalten sie sich reflexartig.« »Und was ist mit den Klamotten, hast du dafür Löcher in deinen Hemden, wie für deine Arme?« Samael verdrehte die Augen: »Du bist vielleicht eine Nervensäge. Ich sagte doch gerade, es ist ein Zauber, dafür benötigt man keine Löcher. Komm jetzt, wir haben nicht unendlich viel Zeit und streng dich ein bisschen mehr an! Sogar der Hengst scharrt schon ungeduldig mit den Hufen.«
»Oh nein, nicht noch einmal. Ich denke, ich bin dafür einfach nicht geschaffen«, gab sie ihm zu verstehen und flitzte an ihm vorbei in Richtung Straße. Hinter sich hörte sie Hufe auf dem Boden klappern und drehte sich erschrocken um. Samael saß auf dem Hengst und ritt auf sie zu. Seine Mundwinkel zuckten nach oben, doch seine Mimik verriet diesmal nicht, was in ihm vorging. Wie sie ihn so sah, ahnte sie Böses, konnte sich aber noch nicht vorstellen, was er vorhatte. Im Bruchteil einer Sekunde beugte er sich vom Pferd zu ihr herab, packte sie von hinten und zog sie zu sich hinauf. Der Hengst galoppierte in Windeseile weiter. Sie war zu keiner Reaktion fähig, nur ihre Augen starrten weit aufgerissen auf die vor ihnen liegende Straße. Die kleinen Häuser, die sie säumten, flogen nur so an ihnen vorbei. »Alles gut bei dir?«, raunte Samael ihr ins Ohr. »Ganz und gar nicht!«, brachte sie gepresst hervor und hielt sich angestrengt mit ihren Händen an der Mähne des Pferdes fest, sodass ihre Knöchel weiß hervortraten. Gar nichts war gut. Sie saß so wacklig auf dem Rücken, dass sie wahrscheinlich demnächst heruntergefallen wäre, hätte Samael sie nicht mit einem Arm um ihre Hüfte festgehalten.
Dass er sie so umschlungen hielt, machte es auch nicht besser, denn unter seiner Berührung wirbelten ihre Gedanken umher, und sich zu konzentrieren, fiel ihr enorm schwer. Er brachte sie zu schnell aus der Fassung. Dabei war sie es gewohnt, immer die Lage zu beherrschen. Ilenas Gefühle spielten verrückt, wenn er ihr so nah war. Sie zwang sich, sich zusammenzureißen, wenn er es schon nicht tat; schließlich war Samael verboten für sie. Sie lebte in einer anderen Welt, in der man sich nicht auf Pferden fortbewegte, und die keine Mostrana, Engel oder diese anderen Gestalten bevölkerten. Dies hier war eine komplett andere Sphäre und sie gehörte nicht hierher! Sie musste einen Weg zurückfinden, schon allein ihrer Familie wegen.