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Prolog

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Eingemauert mit eigener Hand Vergehen wir vor Durst

– Tadeusz Różewicz –

„Yonko! Du musst!“

Seine Mutter hämmerte gegen die Badezimmertür.

Er biss die Zähne zusammen. Die Tür war abgeschlossen. Sollte sie klopfen, soviel sie wollte. Ein Blick zur Uhr. Noch sechs Minuten. Jede Minute, die er zu früh losging, war gefährlich. Jahrelanges Training. Er hatte es genau berechnet. Immer wieder die Zeit gestoppt. Erst in letzter Sekunde, direkt vor dem Klingeln, durfte er den Klassenraum betreten.

Er kriegte es einfach nicht hin. Obwohl er schon seit einem halben Jahr trainierte, war er ihnen nicht gewachsen. Gestern hatten Nico und seine Kumpels wieder an der Ecke gestanden. Ihm ein Ding verpasst.

Yonko sah in den Spiegel, wandte das Gesicht nach rechts und betrachtete seine Schläfe. Den blauen Fleck und die Schramme hatte er kaschiert. Er drehte das Gesicht frontal und beugte sich vor. Er fand, dass er ziemlich deutsch aussah. Bis auf die Augen. Nur noch zwei Tage bis zur Klassenfahrt.

Am letzten Schultag vor den Sommerferien hatte sein Vater ihm geschrieben. In der Hofpause. Wie üblich hatte er in einer der Mauernischen gestanden und gehofft, sie würden ihn nicht entdecken. Er hatte das Handy eingeschaltet. Und da war die Nachricht gewesen. Auf Facebook. Ungläubig hatte er die Worte und das Bild auf dem Display angestarrt. Sein Vater. Ein Schwindel hatte ihn gepackt und seine Beine waren gummiweich geworden.

Hallo Yonko. Ich bin dein Papa. Möchte dich gern wiedersehen.

Der Nutzername war Sehun.

Er hatte den Rücken gegen die Mauer gepresst. Um nicht umzufallen. Die Zähne aufeinandergebissen, bis ihm der Kiefer wehgetan hatte. Nicht heulen. Bloß nicht heulen. Sein Vater lebte! Diese hundsgemeine Lügnerin. Die ganze Zeit hatte sie ihn eiskalt angelogen. Wie verrückt hatte er noch in der Pause mit seinem Vater hin- und hergeschrieben. Am Ende hatte der angeboten, ihm Flugtickets nach Spanien zu schicken, wo er jetzt lebte. Danach hatten sie jeden Tag Nachrichten ausgetauscht.

„Du kommst zu spät!“ Wieder schlug sie gegen die Tür. „Du musst los! Komm endlich raus!“

Am liebsten hätte er den Schlüssel umgedreht, die Tür aufgerissen und wäre ihr an die Kehle gegangen. Hätte ihr seine Wut ins Gesicht geschrien. Angelogen! Das eigene Kind! Zehn Jahre lang! Er hasste sie, wie man nur jemanden hassen kann. Aber wenn er etwas gelernt hatte, dann sich zu beherrschen. Sich Wut und Angst nicht anmerken zu lassen. Das hätte alles nur schlimmer gemacht. Dann hätte seine Mutter gewonnen. Dann hätte Nico gewonnen. Dann hätten sie alle gewonnen. Nur, weil niemand in ihn reinsehen konnte, war er stärker als sie.

Sie würden sich noch umgucken. Alle.

Vier Minuten. Er atmete durch. Straffte die Schultern. Strich sich die Haare glatt. Berührte mit dem Finger das kleine Tattoo an der linken Hand. Sein Name. Seine Wurzeln. Bestimmt hatte sein Vater den Namen ausgesucht. Er würde ihn so vieles fragen.

Noch einmal betrachtete er sein Gesicht. Immer noch kein Bartansatz. Die meisten Jungs in seiner Klasse hatten schon einen.

Gestern hatte er den Brief mit dem Ticket bei der Post abgeholt. Einfach so. Wie verrückt hatte sein Herz geklopft. Aber der Mann von der Post hatte ihm den Umschlag einfach rübergeschoben. Er trug ihn jetzt bei sich wie einen Schatz.

Die Idee, wie er alle Probleme auf einen Schlag lösen konnte, war ihm sofort gekommen, als er die Nachricht seines Vaters gelesen hatte. Es war so einfach wie genial. Übermorgen. Abschlussfahrt 10. Klasse. Er würde seine Tasche packen. Losgehen. Und verschwinden. Niemand würde Verdacht schöpfen. Am wenigsten seine Mutter.

Oh, wie dumm sie war. Eine Schande. Wenn sie nach der Klassenfahrt merken würde, dass er nicht wiederkam, hätte er zwei Wochen Vorsprung. Das sollte reichen. Keiner würde ihn finden.

Dafür hatte er zwar die ganzen Sommerferien noch durchhalten müssen, eine furchtbare Zeit, aber die hatte er genutzt. Spanisch gelernt. Die Basics. Das Geld von Nico nicht angerührt. Das würde er für seinen Start im neuen Land brauchen. Außerdem hatte er sein Zeug zu Geld gemacht. Die Anlage, die guten Skater, Bücher, Klamotten, alles hatte er verkauft. Er dachte an sein leeres Zimmer und lächelte. Seine Mutter ließ er da schon seit Monaten nicht mehr rein. Die würde Augen machen, wenn die Polizei das Zimmer öffnete.

Und trainiert hatte er, noch mehr als vorher. Wer wusste, was auf einen zukam? Außerdem wollte er seinen Vater beeindrucken, der bestimmt ein cooler Typ war.

Zwei Minuten. Sein Herz raste.

Noch einmal prüfte er die Schläfe. Nichts mehr zu sehen, alles Okay. Jetzt musste er sich sputen. Sein Mund war trocken. Mit der hohlen Hand nahm er einen Schluck Wasser. Und wenn Nico nun doch … Bei dem wusste man nie. Jeden Tag dachte der sich neue Teufeleien aus.

Nein. Das war vorbei. Niemand hatte mehr Macht über ihn. Alles war vorbereitet. Übermorgen. Losgehen und verschwinden.

Was sein Vater wohl sagen würde, wenn er ihm mitteilte, dass er bei ihm bleiben wollte?

Das Ticket war da. Unter seinem Shirt. Bis übermorgen musste er nur noch funktionieren. Keinen Fehler machen. Damit nichts schiefging. Schade, dass er ihre Gesichter nicht sehen würde, wenn sie im Bus saßen und auf ihn warteten. Wenn sie begriffen, dass er nicht kam. Dass er nie mehr kam. Dass er weg war. Für immer. Dass sie nun keinen mehr hatten, den sie quälen konnten.

Die Schramme brannte unter der Abdeckcreme. Nico, das Schwein. Der würde noch an ihn denken.

Der Fall Yonko K.

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