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Kapitel 3 Hoheitsgebiete
ОглавлениеIn der Bärenhöhle sucht man nicht nach Honig.
– Deutsches Sprichwort –
Der Keller hatte sich als weitläufige Anlage entpuppt. Sunja und Matthias waren sogar noch auf eine weitere, mit grauer Rostschutzfarbe gestrichene Metalltür gestoßen, die eine Verbindungstür zur Botschaft sein musste und natürlich auch verschlossen war. Dazu hätte er noch nie einen Schlüssel gehabt, hatte Moormann angegeben. Nachfragen beim Portier ergaben, dass diese Durchgangstür nach der Hostel-Eröffnung tatsächlich nicht mehr benutzt worden war. Außer dieser und der verrosteten Kellertür im Hof schien es also nur noch den offiziellen Kellereingang im Foyer zu geben. Der Bericht der Spurensicherung schloss nicht aus, dass die Leiche von dort heruntergebracht worden war, konkrete Spuren gab es allerdings noch nicht.
Sunja Löwel und Matthias Müller saßen auf einer Bank vor dem Hostel, unter dem großen Glasdach des Eingangs, und kauten auf den pappigen Brötchen herum, die sie im Bäckerladen um die Ecke erworben hatten.
Regen prasselte aufs Dach. Der schwarze Boden unter ihren Füßen war schlammig. Matthias aß mit gutem Appetit, Sunja betrachtete misstrauisch das im Backwerk verborgene Schnitzel, von dem Soße tropfte.
Kauend sagte sie: „Von hier vorn durch den Eingang hätte jeder reingekonnt in einem unbeobachteten Augenblick. Auch mit einer versteckten Leiche im Gepäck. Der Bringer der Leiche muss ja nicht der Mörder gewesen sein. Einen Schlüssel zum Chemikalienkeller muss er allerdings gehabt haben. Was meinst du? Vielleicht konnte von der Botschaft aus jemand rein, über diese alte Verbindungstür, der dem anderen aufgeschlossen hat. Ist doch gut möglich, dass sie in der Botschaft noch einen Schlüssel für diese Tür haben. Aber das macht doch alles keinen Sinn …"
„Außer, diese Botschaft hängt mit drin“, gab Matthias zurück. „Klingt absurd“, meinte Sunja. „Aber wer weiß? Und was hältst du von Moormann?“
„Ich fand ihn überzeugend. Die Straftat ist schließlich vierzig Jahre her, und sie wollten ja damals niemanden umbringen. Und sein Leben war versaut danach. In der DDR konnte er nicht mehr in seinem Beruf arbeiten, hat sich seitdem als Hausmeister und Hilfsarbeiter durchgeschlagen, und bei jeder kleineren Sache hatte die Polizei ihn sofort auf dem Kieker. Jetzt würde er gern reisen, aber nun geht es seiner Frau nicht gut. Er muss sich um sie kümmern. Er weiß nie, wann es wieder so weit ist. Du hast es ja gehört. Gestern der Anfall, genau in der Zeit, als du ihn vernommen hast. Epileptikerin ist sie. Das ist schon hart.“
„Verstehe ich alles, Matthias. Aber warum hat er dann erst behauptet, dass er wegen staatsfeindlicher Verleumdungen in den Bau kam?“
„Na, weil ihm die Sache von damals eben immer noch peinlich ist. Das hört sich doch besser an. Ein Mensch kann sich ändern, Sunja. Er hat seine Strafe verbüßt. Und, was das Entscheidende ist, mir erschließt sich keine Spur aus seiner rowdyhaften Vergangenheit in die Gegenwart. Insofern ist er für mich erst mal raus, außer von seiner Frau kommt noch eine ganz andere Aussage, was sein Alibi betrifft.“
Die Kommissarin zuckte die Schultern. „Rowdy. Auch so eine verharmlosende Umschreibung im Osten, oder? Rechte Randalierer, Einbrecher, Vergewaltiger … alles Rowdys, womöglich vom Westen angestachelt. Na ja. Aber wenn wir schon hier sind, lass uns doch das Gelände noch mal inspizieren. Vielleicht kriegen wir noch eine andere Idee, wie die Leiche in den Keller kam.“
Sie steckte sich das letzte Stück Fleisch in den Mund und betrachtete ihre verschmierten Hände.
Elegant zog Matthias ein Feuchttuch aus einer Packung und reichte es ihr. „Elternausstattung. Manchmal ganz praktisch.“ Als Nächstes holte er zwei Schokoriegel aus dem Rucksack. „Auch einen?“
Sunja schüttelte den Kopf. Matthias’ Schokoriegelvorräte waren legendär und garantiert keine Elternausstattung. Seine Schreibtischschublade war immer voll davon. Sie hatten ihr schon manchen Nachtdienst gerettet, aber jetzt brauchte sie eher einen starken Kaffee.
Gemeinsam gingen sie einmal um das Hostel herum und betraten den dahinter liegenden maroden Hof. Rissiger, bemooster Beton, auf dem das Wasser stand. Ein paar vergammelte Gartenstühle. Eine ausrangierte, zerrissene Federkernmatratze. Trostlos sah es hier aus. In einer Ecke rostete ein alter Flaschenzug vor sich hin, über den man früher offenbar Waren in den Keller gebracht hatte. Eine Leiter führte an einer Betonwand hinab auf Kellerniveau, daneben sah man eine verrostete Stahltür ohne Griff, auf der zwei dicke Nacktschnecken saßen.
Sunja wies nach unten. „Das da ist diese unbenutzte Tür zum Keller. Und das Wirtschaftsgebäude dahinter gehört nicht mehr zum Hostel. Hat mir Moormann heute früh gesagt. Ein Partyveranstalter hat das wohl gemietet. Tritex oder so. Von da aus gibt es aber offenbar keine Verbindung nach vorn.“
Matthias schaute sie skeptisch an.
Dann gingen sie einen schmalen Weg zwischen dem von Knöterich überwucherten Zaun der Botschaft und dem trostlosen Wirtschaftsgebäude entlang. Von hier aus machte das Botschaftsgebäude einen etwas freundlicheren Eindruck, es gab Balkone und ein Stück gepflegten Rasen. Einzelne Türen zur Wiese standen sogar offen.
Eingezwängt zwischen nassen Kletterpflanzen und der Rückwand des Partyservice-Gebäudes verharrten die Kommissare auf einem Lichtgitterrost. Unter ihren Füßen konnten sie eine betonierte Einfahrt erkennen, die in den Keller führte.
„Ey, das muss der Zugang von der Botschaft her sein“, sagte Sunja. „Zwischen hier und dem Fundort müssen also etliche Kellerräume liegen. Ist ja ’ne ganz schöne Strecke. Und irgendwo auf diesem Weg ist diese graue Verbindungstür vom Hostel zur Botschaft.“ Sie überlegte. „Wir müssen in der Botschaft nach Schlüsseln fragen. Klar. Es muss doch Schlüssel für diese Tür geben! Am liebsten würde ich mir das Ganze mal von der Botschaftsseite aus ansehen. Er kann ja auch von dort aus reingebracht worden sein.“
„Du glaubst doch nicht, dass Langer das genehmigt. Vergiss es. Oh Mann, was ein Scheiß-Wetter. Hört das noch mal auf?“ Matthias wischte sich das nasse Gesicht ab.
Sunja spähte zwischen den Gitterstäben hoch zum Dach der maroden Vertretung. „Guck dir diese Megaantenne an, was machen die damit? Ist das eine Direktverbindung nach Nordkorea?“
„Sieht aus wie aus den Sechzigern, eher konventionelle Funkverbindung“, staunte Matthias.
Ihr Weg endete auf einem umzäunten, asphaltierten Parkplatz. Von hier aus gelangte man über ein paar Stufen zur Rückseite des Wirtschaftsgebäudes.
Matthias rüttelte an der Tür. „Wenn das ein Partyservice sein soll, dann müssen da doch Leute arbeiten. Ich werde mal recherchieren, was das wirklich für ein Laden ist. Ey, für heute bin ich nass genug. Wollen wir nicht umkehren?“
Sunja ignorierte seine Frage und ging die zum Parkplatz führende Sackgasse an der Vorderseite der Botschaft entlang bis zu deren Stirnseite an der Glinkastraße, an der sich der Eingang befand.
Matthias folgte ihr unwillig.
Ein mindestens 2,50 Meter hoher Eisenzaun umgab das gesamte Botschaftsgelände, schon das geschlossene Eingangstor wirkte wie eine Festung. In den Betonsockel daneben war ein Schaukasten eingelassen, seine metallene Jalousie geöffnet. Im Halbdunkel prangten verschiedene Fotos des aktuellen Diktators Kim Jong-un.
Die trotzig vorgeschobenen Lippen wirkten wie die eines verzogenen Jungen. Hier zeigte sich der Herrscher dem Volk, dort war er bei der Abnahme einer Militärparade zu sehen oder bei einer Rede vor dem überdimensionalen Bild des Vaters Kim Jong-il. Mal war die dickliche Figur in feinen Stoff gehüllt, mal in eine Uniform. Auf einem Bild lugte er lachend hinter einer großen Flugabwehrrakete hervor, die er in den Armen hielt.
„Das passt schon“, meinte Matthias. „Mit so einer soll er neulich zwei seiner Minister hingerichtet haben. Weißt du, was ihnen vorgeworfen wurde? Sie sind eingeschlafen, während er redete. Das Verbrechen: mangelnder Respekt dem geliebten Führer gegenüber.“
Sunja schüttelte ungläubig den Kopf.
„Er hat auch festgelegt, dass kein neugeborenes Kind in seinem Reich seinen Vornamen bekommen darf. So wie er darf halt nur er heißen. Gott heißt ja auch nur einer.“
„Wie, Kim gibt es doch ganz oft. Kim il-un, il-jong, il-nam …“
„Ne, Kim ist der Nachname. Der wird in Korea zuerst genannt. Un darf keiner heißen.“
„Was du alles weißt.“ Sunja wandte sich zum Klingelknopf. „Na, dann wollen wir mal.“
Matthias griff nach ihrer Hand. „Spinnst du? Das ist deren Hoheitsgebiet! Lass uns das anders angehen! Die lassen uns doch eh nicht rein!“
Die Kommissarin drehte sich einmal um die halbe Achse, ihre freie Hand zielte auf den Klingelknopf und drückte. Ausdauernd. Dabei grinste sie Matthias an. „Mal sehen, was passiert.“
Noch während sie sprach, tauchte hinter dem Tor ein Mann in Militärlook auf. Er musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. „What do you want?“
Sunja schaute den Wachmann nur an.
Matthias stotterte zunächst etwas herum, dann erklärte er in flüssigem Englisch, sie hätten Interesse an der Demokratischen Volksrepublik Korea und würden sich das Gebäude der Botschaft gern einmal ansehen. Ob man dort vielleicht einen Besuch machen könne?
Der Mann verschwand, offenbar um jemanden zu benachrichtigen, und Matthias atmete hörbar aus. Dann lachte er nervös. „Sunja, du bist echt total verrückt! Lass uns wegrennen, noch ist Zeit!“
Doch die Kommissarin richtete den Blick konzentriert auf die etwa zwanzig Meter entfernte gläserne Eingangstür der Botschaft, als wollte sie ein Loch hineinbrennen.
Eine Weile passierte nichts.
Dann wurde die Tür hastig von einem anderen Mann aufgestoßen, der von Haarschnitt und Leibesumfang her seinem Landesherrscher verblüffend ähnlich sah. Er eilte durch den Regen auf dem ordentlich gepflasterten Weg heran. Das Eisentor öffnete sich automatisch und er begrüßte sie freundlich auf Deutsch. Es täte ihm leid, heute sei ein Besuch leider nicht möglich, meinte er, und bat, morgen nach zehn Uhr wiederzukommen, dann sei die Botschaft geöffnet. Man werde sie sehr gern willkommen heißen.
Die Kommissare bedankten sich höflich, Matthias deutete sogar eine Verbeugung an.
Möglichst würdevoll gingen sie zu ihrem Auto zurück.
Im Wagen sah Matthias auf die Uhr des Armaturenbretts und erschrak. „Ach du Sch… ! Schon nach halb drei! Ich muss sofort los, die Kinder abholen. Die Kita schließt heute eher. Morgen kann ich dann so lange machen, wie es geht, versprochen, aber du weißt ja …"
Sunja seufzte. „Ja, klar. Ich weiß, ich weiß. Du kriegst bestimmt bald den großen Vaterorden am Bande. Ich hoffe nur, wir haben diesen Fall gelöst, bevor du nächste Woche in dein tolles Sabbatjahr verschwindest. Kann deine Frau nicht mal die Kinder abholen?“
„Ines arbeitet wieder. Hatte ich dir zwar alles schon erzählt. Aber mir ist schon klar, dass du dich dafür nicht interessierst.“
„Wofür?“
„Familienleben und so.“
„Ach ja? Weil ich was bin? Ein Alien? Eine andere Spezies als du? Ohne Kinder, Partner und Eltern?“
„Was ist denn mit dir los?“
„Sorry. Jetzt fahr einfach.“
Manchmal verstand Sunja sich selbst nicht. Eigentlich kannte sie Matthias lange genug, sie schätzte ihn. Aber dass er seine Familie immer wieder vorn anstellte und dafür von ihr und allen Kollegen stets Verständnis erwartete! Und dann auch noch für ein ganzes Jahr aussteigen wollte!
Sie steckte sich eine Zigarette an.
Matthias drehte das Fenster herunter.
„Hat nichts mit dir zu tun“, sagte sie. „Entschuldige. Ich bin einfach frustriert wegen diesem Scheißfall. Der halbe Tag ist um und wir haben rein gar nichts. Vielleicht ist Yonko gar kein Name. Das kann doch sonst was sein! Vielleicht so eine blöde Figur aus einem Film? Oder einem Computerspiel?“
„Möglich“, murmelte Matthias versöhnlich und gab Gas.
„Könntest du in der Richtung mal gucken?“, fragte sie.
Ihr Kollege nickte abwesend. Offenbar war er in Gedanken schon bei seiner Familie.
Die Kommissarin stand im Erdgeschoss des LKA vor dem Büro der Staatsanwältin. 15:15 Uhr. Eine Viertelstunde zu spät. Heute lief aber auch nichts rund.
Früher hatte Frau März wenigstens noch im Amtsgericht Moabit gesessen, weit genug weg. Aber neuerdings hatte sie aus Zeitgründen auch ein Büro im LKA und schaute ihnen ständig auf die Finger.
Von Anfang an war Sunjas Verhältnis zu ihr schwierig gewesen, aus ihrer Sicht hatte die Staatsanwältin sie immer nur belehren wollen und unter Druck gesetzt. Dabei war die Frau jünger als sie! Nur einmal, als Frau März selbst einen Fehler begangen hatte, war sie zu ihr gekrochen gekommen und hatte sie um ihre Unterstützung gebeten. Mein Gott, dachte sie, diese selbstgerechte dumme Kuh! Typ beste Schülerin, strebsam, eitel, magersuchtverdächtig und im Umgang mit Menschen völlig unmöglich. Sie findet sich wahrscheinlich schön, aber schön ist sie nicht. Eher ein missglückter Model-Abklatsch. Ein neues Kostüm wird sie wieder tragen, sich an den Haaren herumfingern und gelangweilt dreinblicken. Elende Karrieristin. Sollte ich nicht lieber …
Sunja erschrak, als sich die Tür des Büros öffnete und sie der Staatsanwältin direkt gegenüberstand.
Frau März hielt ihr Handy am Ohr, redete und schien sie nicht zu sehen. Sie wäre an ihr vorbeigerauscht, wenn Sunja sich ihr nicht in den Weg gestellt hätte.
Die Staatsanwältin schaute sie zornig an, ohne jedoch ihr Telefonat zu unterbrechen. Als sie fertig war, ging sie ins Büro zurück und Sunja folgte ihr.
„Ich habe nur eine Viertelstunde, Frau Löwel. Wenn Sie mal in Ihren Terminkalender schauen würden … Wir waren bereits um drei Uhr verabredet.“
„Meine Zeit ist genauso knapp bemessen wie Ihre, Frau März, und das hat zufällig mit dem aktuellen Fall zu tun. Wenn Sie sich also zukünftig auch mal in mein Büro bemühen oder einfach bis zum nächsten Tag abwarten könnten. Morgen ist ja eh großer Lagebericht. Zudem steht noch nicht einmal fest, ob wir es mit einem Gewaltverbrechen zu tun haben.“
Die beiden Frauen sahen sich an, als ob sie gleich aufeinander losgehen würden. Hinter dem riesigen Schreibtisch die Anwältin, in einem senffarbenen Kostüm. Dazu wie meist Pumps und passende Strumpfhosen. Dezente Ohrringe und ein fliederfarbener Seidenschal. Groß und schlank saß sie da, die Hände mit den beige lackierten Fingernägeln lässig ineinander verschlungen.
Ungeduldig auf dem Stuhl wippend die Kommissarin. Mit ihren gerade mal einsachtundsechzig, in abgewetzter Jeansjacke und Turnschuhen. Sunja machte sich fast nie die Mühe, sich zu schminken, und ihre widerspenstigen, nie in Form zu bringenden Haare hatten schon länger keinen Friseur mehr gesehen. Dazu kam, dass sie hier im Dezernat 11 seit zwölf Jahren Dienst tat. Dagegen war die junge Staatsanwältin mit ihren drei Dienstjahren vergleichsweise ein Küken. Gerüchte besagten, sie fühle sich zu Höherem berufen und sehe das LKA nur als Sprungbrett für einen Posten im Ministerium. Sunja hoffte, dass es bald dazu käme.
Ein Nicken der Staatsanwältin unterbrach das Schweigen. Sie schob einen Notizblock vor sich, nahm einen Kugelschreiber und sagte kühl: „Dann berichten Sie mal.“
Die Kommissarin begann, die kargen Fakten herunterzubeten. Als sie erwähnte, dass das Opfer eventuell koreanischer Herkunft sei, wurde Frau März hellhörig.
„Ein rassistischer Hintergrund?“, hakte sie ein. „Haben Sie das schon bedacht? Vielleicht ist das Tattoo auf seinem Arm ja der Name einer Gruppierung? Gegen Rechtsradikale? Es ist von Vorteil, wenn man am Anfang einer Untersuchung alle möglichen Richtungen im Auge behält.“
Sunja hob die Schultern. Erzähle du mir nicht, wie man ermittelt, dachte sie.
Laut erwiderte sie: „Wir suchen an Schulen, in Flüchtlingsheimen, überall in der Nachbarschaft, um die Identität zu klären. Natürlich kann es einen fremdenfeindlichen Hintergrund geben, aber dazu kann ich bis jetzt noch nichts Konkretes sagen. Yonko ist jedenfalls ein koreanischer Vorname. Wenn es eine Person dieses Namens gibt, dann sollten wir sie finden.“
„Ja, das sollten Sie. Und zwar möglichst bald. Und dabei alle Hinweise berücksichtigen. Ich versuche ja schon länger, Ihnen die Vorzüge statistischer Ermittlungsmethoden nahezubringen, wenn Sie sich erinnern. Unter Tötungen bei Jugendlichen sind die mit rassistischen Motiven nämlich die überwiegenden. Selten ist es ein Einzeltäter, meist hat die Tat Appellcharakter. Vielleicht hat es ja bereits ähnliche Fälle gegeben, die Ihnen entgangen sind?“
„Koreaner im Haushaltskeller? Nein, das hatten wir noch nicht. Warum sollte jemand, der auf sich aufmerksam machen will, eine Leiche wegschließen? Trotzdem vielen Dank für die Belehrung.“ Sunja stand auf. „Dürfte ich jetzt wieder meiner Arbeit nachgehen?“
Frau März reagierte nicht.
Wortlos verließ Sunja das Büro.
Sie ging direkt nach draußen, vor das LKA, und fischte schon im Gehen eine Zigarette aus der Schachtel. Diese Staatsanwältin ging ihr so was von auf die Nerven. Als sie endlich ein halbwegs trockenes Plätzchen unter dem Dach gefunden hatte und eben das Feuerzeug klicken ließ, klingelte ihr Telefon. Ein Blick aufs Display, sofort verfinsterte sich ihre Miene. Ihre Mutter! Auch das noch! Siedend heiß fiel ihr ein, dass sie ihr versprochen hatte, am Wochenende vorbeizukommen. Sie hatte es glatt vergessen.
Unwillig nahm sie ab, wollte sich entschuldigen, doch ihre Mutter ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen.
„Ich hatte extra deinen Lieblingskuchen gebacken! Drei Stunden habe ich gestern auf dich gewartet, aber nein, die Frau Tochter hat ja Besseres zu tun, als ihre Mutter zu besuchen, selbst, wenn man verabredet ist. Was bilde ich mir auch ein, zu denken, du würdest wirklich kommen, wenn du das sagst!“
„Mama, ich …"
„… du kannst heute kommen. Heute Nachmittag. Als Entschädigung. Kuchen gibt’s allerdings keinen mehr. Den habe ich weggeworfen.“
Sunja fühlte heiße Wut in sich aufsteigen. Warum machte ihre Mutter ihr ständig ein schlechtes Gewissen? Was hatte sie davon?
„Heute geht es nicht“, sagte sie. „Ich bin mitten in einem Fall.“
„Du bist immer mitten in einem Fall! Entschuldige, dass ich frage. Ich bin ja nur deine Mutter. Aber das sage ich dir: Hoffentlich bereust du dein unmögliches Verhalten nicht eines Tages. Die Jüngste bin ich nämlich nicht mehr. Sollte mir mal etwas zustoßen …"
„Jetzt ist es aber gut, Mama! Ich verspreche, dass ich dich besuche, sobald ich diesen Fall abgeschlossen habe, okay?“
„Wer’s glaubt, wird selig“, sagte ihre Mutter und legte auf.
Zornig steckte Sunja das Telefon ein und zündete sich die Zigarette an.
Seit Jahren versuchte sie, die depressiven Litaneien ihrer Mutter an sich abprallen zu lassen, mit mäßigem Erfolg. Sie sah sie selten, das stimmte, und zwar, weil sie danach immer Stunden brauchte, um ihre Gelassenheit wiederzufinden. Diese ewigen Vorwürfe, sie kümmere sich nicht genug, die Leidensmiene, das Selbstmitleid, all das hatte sie mehr als satt. Ihre Mutter war erst 64, benahm sich aber wie eine Achtzigjährige. Und irgendwie konnte sie es ihr noch immer nicht verzeihen, dass sie ihr die Briefe des Vaters fast vierzig Jahre lang vorenthalten hatte. Erst vor drei Jahren, bei einem heftigen Streit, hatte sie überhaupt von deren Existenz erfahren. Ihr Vater hatte ihr geschrieben, er hatte versucht, sie zu trösten, ihr alles zu erklären. Aber die Mutter hatte ihr diese Briefe einfach nicht gezeigt. Wahrscheinlich war sie so wütend auf ihren Mann gewesen, dass sie ihrer eigenen Tochter diesen Trost nicht gegönnt hatte.
Sie trat die Zigarette aus. Verdammte alte Geschichten. Sie goren immer noch. Trotzdem, sie würde sie besuchen. Es musste doch möglich sein, dass sie auch einmal netter miteinander umgingen. Vielleicht wünschte sich ihre Mutter das ja auch. Wo sie doch sogar Kuchen gebacken hatte. Kuchen? Irritiert überlegte Sunja, was für ein Kuchen das gewesen sein sollte. Sie hatte doch gar keinen Lieblingskuchen. Sie aß überhaupt nicht gern Kuchen.
Frustriert schob sie mit der Schuhspitze ein paar matschige Blätter vom Bürgersteig.
Was, wenn gar niemand diesen Jungen vermisste? Wenn sie nie herausbekämen, wer er war? Wenn sie den Fall nicht lösen konnten? Die Angst war immer da. Jedes Mal. Ein ungeklärtes Verbrechen ließ ihr keine Ruhe, bis der Täter gefasst war. Sie musste das Gleichgewicht halten. Täter mussten zur Rechenschaft gezogen werden. Dafür war sie zuständig. Was, wenn sie versagte?
Ihre Mutter hatte recht, eigentlich arbeitete sie dauernd. Kein Wunder, dass sie sich einsam fühlte. Sie fragte sich, was geschehen würde, wenn sie das Hamsterrad ihrer Arbeit eines Tages verlassen könnte. Was wäre dann? Sie würde zu Hause hocken. Sich langweilen. Menschen würden weiter umgebracht. Sie würde es aus den Nachrichten erfahren. Oder gar nicht. Sie würde nichts dagegen tun können.
Sunja betrat ihre Dienststelle und stieg die Treppen hinauf.
Gab es außer der Arbeit überhaupt etwas in ihrem Leben? Seit einem halben Jahr ging sie wöchentlich zu dieser Laufgruppe. Die meisten anderen Teilnehmer waren in ihrem Alter und im Vergleich zu manchen war sie sogar ziemlich fit, trotz des Rauchens. Welches ihr immerhin die Möglichkeit bot, hinterher mit Jörg zu plaudern, einem sympathischen Mann um die sechzig. Sie mochte seine Lachfältchen. Seine Intelligenz. Seine Höflichkeit. Sunja musste lächeln. Ältere Männer, natürlich. Ob Jörg in einer Beziehung lebte?
Sonst waren ihre Freizeitkontakte überschaubar. Mit den Kollegen hatte sie fast nur beruflich zu tun. Die Kontakte zu alten Studienkollegen und Freundinnen waren eingeschlafen, sonst hatte sie eigentlich nur mit ihren Kollegen zu tun. Immerhin hatte sie einen guten Draht zu René, sie mochte ihn und konnte sich vorstellen, mit ihm befreundet zu sein. Das Gespräch mit Ole kam ihr wieder in den Sinn. Er hatte recht, sie benahm sich wie ein eingeschnapptes Gör. Plötzlich verstand sie auch seine Kränkung. Wie oft war er in den letzten Jahren auf sie zugegangen! Hatte ihr immer wieder gezeigt, dass sie ihm etwas bedeutete. Wenn sie nicht als einsame Alte enden wollte, musste sie endlich mal auf Leute zugehen. Sie würde ihn besuchen. Ihn und seine Frau. Sobald dieser Fall beendet war. Die Scheidung von Henning war schließlich lange genug her. Selbst die Vorstellung, ihrem Ex bei Ole über den Weg zu laufen, fand sie nun gar nicht mehr so schrecklich. Ole hatte sogar nach ihrem Vater gefragt. Ob sie schon etwas herausgefunden hätte. Ja, das konnte sie ihm erzählen. Dass sie jetzt seine Telefonnummer hatte …
Ihr Vater! Das kam ihr unglaublich vor. Bald würde sie ihn leibhaftig sehen. Bei dem Gedanken an ein Gespräch wurde ihr mulmig zumute.
Was sagte man zu jemandem, den man seit fast vierzig Jahren nicht gesehen hatte?
Das Piepsen ihres Handys riss sie aus den Gedanken. Es war eine SMS von Ole Hansen: Hey Sunja, Bericht unterwegs. Tod durch inneres Verbluten. Herzbeuteltamponade. Grund: Erstechen. Mit einer langen Nadel oder Gabel. Gruß Ole