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Kapitel 2 Dunkle Zeichen
ОглавлениеEin Messer kann seinen eigenen Griff nicht schnitzen.
– Koreanisches Sprichwort –
Sie waren an einem kalten Wintermorgen gekommen. Der Anführer hatte das Versteck sofort gefunden. Die Bibel auf den Boden geworfen. Geschrien, bis er Schaum vor dem Mund hatte. Der Mann trug eine andere Uniform als der Rest der Bande, wahrscheinlich gehörte er zur Staatspolizei. Keiner wusste, wer sie verraten hatte. Eine Bibel im Haus reichte allemal für eine Verhaftung. Sie zerrten seine Eltern aus den Betten. Brüllten. Schlugen.
Sippenhaft war normal in diesem Land.
Dass er nichts über das Schicksal seiner Familie gewusst hatte, war in der Zeit nach der Verhaftung das Schlimmste gewesen. Er selbst war jung und stark, dieses Martyrium würde er auf sich nehmen. Aber die Eltern?
Der Vater hatte an die Wiedervereinigung Koreas geglaubt und mit einer Gruppe Gleichgesinnter dazu Ideen ausgetauscht. Er selbst hatte nichts davon gewusst. Bis er einen an den Vater gerichteten Brief versehentlich öffnete. Damals hatte er gelitten, weil sein Vater ihm nicht vertraute. Er hatte noch nicht gewusst, wie lebenswichtig es war, keine Ahnung zu haben.
Heute staunte Sehun, dass jemand in einem Land wie Nordkorea noch Ideale hegen konnte. Der ständig drohende Hunger, weil die mittelalterliche Landwirtschaft keine Erträge brachte und die Verteilung der Lebensmittel nicht funktionierte. Der Winter in den kaum beheizten Häusern. Die Angst vor dem Nachbarn, dem Kollegen, dem eigenen Partner. Jeder konnte Zuträger des Regimes sein oder werden. Jeder war erpressbar. Die Lager …
Barfuß hatte er vor ihrem Haus in Cheongjin gestanden, bis der Wagen kam. Das Wasser im Kübel war gefroren gewesen. Er würde, ja, er wollte leiden. Wie Christus.
Nach den zwei Jahren im Lager Sei-Chung war er ein anderer geworden. Drei Schüsseln wässrige Suppe am Tag. Schlimmer als der Hunger war der Durst. Nachts hatten sie sich heimlich zum Trinken nach draußen geschlichen. Der Kübel mit dem Regenwasser hatte ihm geholfen, nicht zu verrecken. Wasser. Für Christen das Sinnbild des Lebens. Etwas anderes war es, sauberes Wasser zu haben.
Wo war Gott? Warum tat er nichts? Sah er die Lager nicht? Hatte er die Menschen vergessen, die dort vegetierten? Liebte er sie nicht mehr?
Die Bilder waren in seinem Kopf. Für immer eingebrannt. Wie grausam konnten Menschen sein. Aber er wollte sich seinen Gott trotzdem nicht nehmen lassen. Er musste doch da sein. Er, der die Menschen so wunderbar erschaffen hatte. Er musste sie doch beschützen!
Sehun sah auf das Wasser. Warum? Warum? Er lauschte dem Spiel der Wellen und blinzelte in den makellos blauen Spätsommerhimmel. Zwischen seinen Fingern spürte er den Sand. Hier in Almeria, unter der heißen spanischen Sonne, mit dem Blick aufs Mittelmeer, konnte man sich das alles kaum vorstellen. Das hier war das Paradies.
Er hatte es gewagt, aus dem Lager zu fliehen, sogar aus dem Land. Nicht genug damit, er hatte seine Geschichte auch verbreitet. Beweise gesammelt. Alles aufgeschrieben. Geholfen, den Widerstand gegen das Regime zu stärken. Genau deshalb suchten sie ihn. Und würden ihn immer weiter suchen. In Berlin, Paris, Almeria, überall. Diese Geier. Irgendwann würden sie über ihm kreisen. Sich auf ihn stürzen.
Angst war seit Langem sein Begleiter. Damit konnte er umgehen. Doch eines Tages war sie wieder zur Panik geworden. Vor zehn Jahren. Direkt vor der Berliner Botschaft war der Mann auf ihn zugekommen. Wie ein normaler Passant, grauer Anzug, schwarze Aktentasche. Hatte ihn angestarrt. Kein Zweifel, er war es gewesen. Diese Augen würde er nie vergessen. Der Mann war zügig an ihm vorbeigegangen, als wäre nichts. Aber in diesem Moment war ihm klargeworden, dass der verlängerte Arm von Kim Jong-un bis nach Berlin reichte. Ohne nachzudenken, war er zum Auto gerannt. Losgefahren. Ein zweites Mal geflüchtet, soweit die Grenzen Europas es zuließen. Seine Eltern waren tot, denen konnten sie nichts mehr tun. Aber seine neue Familie sollte seinetwegen nicht auch noch leiden.
Die Angst fraß seinen Schlaf. Nahm ihm die Luft. Immer wieder. Sie würden ihn finden, auch hier, im spanischen Paradies. Auch nach all den Jahren. Manchmal wünschte Sehun es sich fast. Dass die Geier ihn packten. Dann wäre es endlich vorbei.
Der Leiter des Hostels hatte den Ermittlern für kurze Zeit sein winziges Büro überlassen, das sich gleich rechts neben der Eingangshalle befand. Es war Viertel nach zehn, sie überlegten, wie sie weiter vorgehen sollten.
Sunja und René fläzten auf einem verschlissenen Ledersofa, während sich Matthias wie so oft über sein Tablet beugte. Er kommunizierte per WhatsApp mit seiner Frau Ines. Nach einer handfesten Ehekrise vor einigen Monaten war der zweifache Vater wieder zur Teilzeitarbeit übergegangen. Inzwischen war klar, dass sein Sabbatjahr am 1. Oktober beginnen sollte. Das war nächste Woche! An diese Zeit wollte Sunja nicht denken, sie fragte sich schon jetzt, wie sie mit dieser personellen Besetzung überhaupt noch sinnvoll ermitteln sollten.
Im trüben Licht sah sie, wie sich die Klinke langsam nach unten bewegte, dann wurde die Tür aufgestoßen und HP marschierte mit zwei Bechern Kaffee herein.
„Mein Gott, HP! Wenn das so weitergeht, kann ich mich bald komplett von Kaffee ernähren!“ Sunja betrachtete ihren Kollegen Hans-Peter Große, von allen nur HP genannt, der ihr mit spitzen Fingern und einer halben Verbeugung einen Plastikbecher reichte. Seine ständigen Eroberungsversuche in ihre Richtung gaben dem Klatsch in der Abteilung immer wieder neues Futter, obwohl ihn Sunja mehrfach deutlich abgewiesen hatte.
Jetzt setzte er sich auf einen der gepolsterten Stühle und kämmte sich die Haare nach.
„Diesen Moormann müssen wir uns noch mal vornehmen“, sagte er. „Wer sollte denn außer ihm in den Keller kommen? Entweder er lügt, was seinen Urlaub betrifft, oder jemand hat seinen Schlüssel benutzt. Und wenn es noch einen zweiten Schlüssel gibt, wie er behauptet, müsste er doch am meisten darüber wissen. Nicht?“
„Alles richtig, HP“, erwiderte Sunja, „Vorrang hat aber die Identität des Toten. Und bisher kennen wir nicht mal die Todesursache. Die Kollegen haben Faser- und Kunststoffreste sichergestellt, Bestandteile von gewebtem Stoff und Bindfaden. DNA, natürlich, und Haarreste. Da müssen wir warten, ob der Vergleich was ergibt. Außer dem Tattoo auf der Hand gibt es sonst keine Anhaltspunkte. Oder habt ihr noch eine Idee?“ Sie schaute in die Runde.
„Warten! Damit kommen wir doch nicht weiter“, erwiderte HP gereizt. „Die zentrale Frage ist doch, wie der Täter in einen Raum und wieder hinausgelangen konnte, wenn es nur einen Schlüssel gibt und der Raum sonst nicht zugänglich ist. Gibt es doch noch einen zweiten Schlüssel? Wenn ja, wo ist der? Oder kann man die Tür ohne Schlüssel öffnen? Aus den Angeln heben zum Beispiel? Kann es einen Nachschlüssel geben? Oder gibt es noch einen anderen Zugang zum Keller?“
„Die Tür sitzt fest im Rahmen“, erwiderte Sunja. „Die kann man nicht im verschlossenen Zustand aus den Angeln heben. Sagen die Techniker. Aber das werden wir alles noch im Detail diskutieren, wenn wir wissen, wer der Junge ist! Seine Identität hat Priorität, wie sollen wir sonst ermitteln? Ich werde auf jeden Fall die Abteilung 12 des LKA einschalten. Die sind zuständig für die Namhaftmachung von unbekannten Toten. Trotzdem müssen wir alles tun, was in unserer Macht liegt: Die Schulen der Umgebung abklappern, sein Foto aushängen, an die Presse geben, es in den sozialen Medien veröffentlichen, das ganze Programm.“
„Denk ich auch“, murmelte Matthias abwesend, während er weiter auf seinem Tablet tippte. „Trotzdem, mit der Tür, da gibt es aber mehr Möglichkeiten. Dieser Moormann ist Schlosser von Beruf. Er hat eine Werkstatt im Keller. Ergo: Er kann den Schlüssel eigenhändig kopiert haben, selbst wenn der zu so einem Schließkreis gehört. Es gibt Tausende Möglichkeiten. Kennt ihr die Krimiklassiker, wo es um die Frage des verschlossenen Raumes geht? Edgar Allan Poe, Doppelmord in der Rue Morgue? Wie kommt ein Täter …"
Sunja stand auf, sie unterdrückte den Impuls, Matthias auf der Stelle sein Tablet wegzureißen. „Hört mir eigentlich jemand zu? Es geht nicht um einen verschlossenen Raum, sondern um das Opfer! Vorher gibt es nicht mal einen Fall, das muss ich euch doch nicht erklären, oder? Ich fahre gleich in die Rechtsmedizin, muss nur noch mit Langer telefonieren, wegen der Lagebesprechung. Also Folgendes! HP, du gehst noch einmal zu Moormann. Fühl ihm auf den Zahn wegen dem Schlüssel. Versuche bitte auch rauszukriegen, ob und warum der Mann eingesessen hat, vermutlich zu DDR-Zeiten. Da sind diese drei Punkte auf seiner Hand, zwischen Daumen und Zeigefinger. Du könntest auch noch …"
„Apropos Tattoo“, mischte Matthias sich ein und sah endlich vom Tablet auf, „das ist tatsächlich Koreanisch. Die Schrift auf der Hand des Jungen. Jetzt muss ich nur noch rauskriegen, was es heißt.“
„Ja, klar. Also HP, ich will eine Liste aller Personen, denen in diesem Hostel jemals ein Schlüssel ausgehändigt wurde. Sämtliche Angestellte, vom Direktor bis zur Putzfrau. Seit der Eröffnung. Da wird es ja Unterlagen geben. Vielleicht nützt uns das was. Und du, René, nimmst dir die Schulen und die Flüchtlingswohnheime im Umkreis vor. Ist dort vielleicht jemand verschwunden, der noch nicht als vermisst gemeldet wurde?“ Sunja registrierte, dass auch Matthias sie endlich anschaute. „Okay, geh diesem Tattoo nach“, sagte sie, „aber beiß dich um Himmels willen nicht daran fest. Und danach hilf bitte René.“ Die Kommissarin holte ihre Autoschlüssel aus der Tasche. „Wir telefonieren. Ansonsten um zwei in meinem Büro, ja?“
Bis zur Rechtsmedizin in der Turmstraße waren es normalerweise nur zehn Minuten, aber auf der Straße des 17. Juni geriet Sunja in einen Stau. Der Regen rann über ihre Frontscheibe, düstere Wolkenberge verdunkelten Berlin. Während des einsetzenden Stop-and-go wanderten ihre Gedanken wieder zum Brief ihres Vaters. Eine Nachricht von ihm, nach all den Jahren, in denen sie ihn vergeblich gesucht hatte!
Inzwischen hatte sie herausgefunden, dass er an ihrem achten Geburtstag als Vertretung für den erkrankten Zauberer eingesprungen war. Für ein Gastspiel, das sein ehemaliger Zirkus in Paris gegeben hatte. Und von dieser Reise war er nie zurückgekehrt.
Viele Jahre hatte er selbst in dem Zirkus als Zauberer gearbeitet. Seine Arbeit über alles geliebt. Die Freiheit, das Unterwegssein. Und das Publikum hatte ihn verehrt. Doch ihre Mutter ertrug seine unberechenbaren Arbeitszeiten nicht und redete so lange auf ihn ein, bis er dort kündigte und als Elektriker in einem Volkseigenen Betrieb anfing. Schon als Kind hatte sie gemerkt, wie unglücklich er darüber war. Den Kontakt zu den ehemaligen Kollegen hielt er jedoch immer, besuchte sie abends in ihren Wohnwagen. Sunja selbst war oft mitgekommen. Bis heute liebte sie die Zirkusatmosphäre.
Und als dann der Zauberer erkrankte, war ihr Vater kurz entschlossen eingesprungen. Ohne jemandem etwas davon zu sagen. Selbst seine Frau hatte nichts davon gewusst. 1977 war das gewesen. Genau an ihrem Geburtstag. Morgens hatte er ihr noch das Geschenk gegeben. Einen großen Karton mit einer roten Schleife. Das war das letzte Mal, dass sie ihn gesehen hatte. Am selben Tag war er mit falschen Papieren nach Paris gereist.
Seine Flucht musste ein Schock für ihre Mutter gewesen sein. Jahrelang war sie von der Stasi unter Druck gesetzt worden und hatte sich immer geweigert, über den Vater zu sprechen. Sunja konnte fragen, so viel sie wollte, die Mutter schwieg.
Erst seit drei Jahren besaß Sunja überhaupt eine Fotografie von ihm. Sie zeigte einen schlanken jungen Mann mit Frack und Zylinder. Dunkle, wache Augen, ein gezwirbeltes Bärtchen und ein verschmitztes Lächeln. Das Bild war das einzige, das es gab. Sie hatte es ihrer Mutter abgerungen. Seitdem stand es auf ihrem Nachttisch, neben den vergilbten Briefen, die sie mittlerweile auswendig kannte. „Mein liebes, kleines Mädchen … Bald bin ich wieder zu Hause … Dein Papa …" Er hatte ihr geschrieben, damals, aus Paris. Hatte ihr zu erklären versucht, was geschehen war. Doch ihre Mutter hatte ihr diese Briefe jahrzehntelang vorenthalten. Im letzten Jahr erst hatte Sunja sie bekommen.
Erst nachdem sie sie gelesen hatte, hatte sie alles nach und nach verstanden. Und ihre Suche nach ihm intensiviert. Immerhin wusste sie schon, dass er lange in Frankreich gelebt und dort in einem Zirkus namens UNIKA gearbeitet hatte. Deshalb war sie vor einer Woche nach Paris gereist. Sie hatte den Zirkus sogar gefunden, dort aber erfahren, dass ihr Vater inzwischen nach Polen gezogen war. Nur hatte niemand seine Anschrift gehabt.
Und nun sein Brief!
Woher wusste er, wo sie wohnte? Er dachte also an sie. Hatte sie nicht vergessen! Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Wie er wohl aussah? Neununddreißig Jahre lang waren sie sich nicht begegnet! Jetzt hatte sie seine Adresse und Telefonnummer, einem Wiedersehen stand nichts mehr im Wege. Gleich heute Abend würde sie ihn zurückrufen.
Zehn vor elf. Endlich hatte sie sich durch den Verkehr gekämpft.
Die Kommissarin parkte den Wagen vor dem Backsteingebäude der Rechtsmedizin und nahm die Treppen mit zwei Schritten. Oben kam es ihr vor, als sei sie noch nie so schnell gewesen, ihr war schwindlig und sie keuchte. Das Joggen schien sich bemerkbar zu machen, das Rauchen aber auch.
Hinter der Glasscheibe zum Sektionsraum entdeckte sie Ole Hansen, es sah aus, als küsse er einen Toten. Dann erkannte sie, dass er am Mund eines Leichnams roch. Es war der unbekannte Junge aus dem Keller des City-Hostels.
Sie klopfte.
Hansen sah flüchtig zu ihr hoch und hob eine Hand. Dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu.
Sunja setzte sich in sein Büro und hoffte, dass er gleich zu ihr kommen würde. In Oles Richtung hatte sie immer gemischte Gefühle. Einerseits schätzte sie ihn als gründlichen Pathologen, andererseits war er noch immer der beste Freund ihres Ex-Manns Henning. Er war ein fröhlicher, umgänglicher Familienmensch. Die Bilder seiner Frau und seiner beiden Mädchen standen auf dem Schreibtisch. Als Rechtsmediziner äußerst genau, in seine Arbeit vernarrt und fachlich eine Koryphäe, hatte er sich ihr gegenüber immer loyal verhalten. Leider hatte er sich seit ihrer Scheidung für Henning entschieden, wie andere Freunde ihres Exmannes auch. Bei Ole bedauerte sie das, sie kannte ihn schon lange und mochte ihn. Über ihn hatte sie ihren Mann sogar kennengelernt. Und als sie nach der Scheidung wieder ihren Mädchennamen angenommen hatte, war Ole der Einzige gewesen, der nicht gefragt und sie kommentarlos mit ihrem alten Namen angesprochen hatte. Trotzdem, obwohl er sie schon öfter zu sich eingeladen hatte, war sie seitdem nie wieder bei ihm zu Hause gewesen. Sie brachte es nicht über sich.
Ole kam ins Büro und nahm den Mundschutz ab.
„Sunja, ich sehe schon! Du willst wieder einen Bericht im Schnelldurchlauf, oder? Das ist nicht fundiert! Und ich habe wirklich zu tun!“
„Das weiß ich, Ole! Aber dieser Fall ist besonders. Wir haben keinerlei Anhaltspunkte zur Identität, wie sollen wir da ermitteln? Kannst du nicht wenigstens was zu seiner Herkunft sagen?“
Hansen schnaufte. Für einen Moment sah es aus, als würde er gleich wieder gehen. Dann sackte er auf einen Stuhl und warf den Mundschutz auf den Tisch.
„Hellseher sollte ich sein, oder? Das wär dir gerade recht. Immer kommst du nur her, wenn’s drängt, weißt du das? Aber sei’s drum.“ Er wühlte sich in den Haaren und schien zu überlegen. Dann referierte er in mühsam erzwungenem Tonfall: „Also … er ist Asiate. Oder zumindest ein Elternteil von ihm. Keine Ahnung, wo er herkommt! Er hat Schleifspuren auf dem Rücken und an verschiedenen anderen Stellen und Einblutungen am Kopf. Im Gegensatz zu meinem Kollegen würde ich mich nicht festlegen, ob er noch gelebt hat, als er in den Keller gebracht wurde. Nach der Zeit kann ich das nicht genau sagen. Keine Abwehrspuren. Ein kleines Tattoo an der Hand gibt es, merkwürdige Zeichen, habe ich noch nie gesehen. Das ist noch nicht alt, ein Jahr würde ich sagen. Den Todeszeitpunkt kann ich anhand des Mageninhalts recht genau angeben. Fünf Tage. Aber wie gesagt, ich habe noch nichts fertig, guck dann bitte in den Bericht. Bei der Todesursache wird es schwieriger. Er weist starke innere Blutungen auf, bisher weiß ich nicht, wodurch die hervorgerufen wurden. So was kenne ich nur von Leuten, die Rasierklingen geschluckt haben oder Glassplitter. Etwas Derartiges gibt es aber in seinem Körper nicht. Außer …" Hansen unterbrach sich und wandte sich zur Tür. „Nein, Sunja, ich kann das nicht leiden, vor Abschluss einer Untersuchung unfundiert zu mutmaßen. Das weißt du. Ich bin halt noch nicht durch, und jetzt würde ich gern weitermachen. Übermorgen hast du den Bericht. Versprochen.“ Er nickte ihr zu und griff nach dem Mundschutz. „Abgesehen davon, wie geht’s dir?“
„So weit okay“, murmelte sie.
„Nur okay?“
„Was soll ich sagen?“
„Na, du kannst alles sagen. Was du willst. Hauptsache, ich bekomm mal ein Lebenszeichen.“
„Ich hab diesen Fall vor mir. Du weißt doch selbst, dass …"
„Alles klar, ich verstehe. Du willst nichts mehr mit mir zu tun haben!“, gab Ole zurück. „Weißt du, wie oft ich dich schon eingeladen habe, zu mir und meiner Frau? Und warum wohl? Es ist deine Entscheidung. Mach ruhig so weiter, brich alle Beziehungen ab. Es geht nicht darum, wie ich das finde. Oder wohin es führt. Aber vielleicht dürfte ich erfahren, warum? Was ich dir getan habe?“
Sunja fühlte sich schrecklich unbehaglich. „Mensch“, stotterte sie, „du doch nicht. Es ist wegen Henning.“
„Glaubst du, ich kann das nicht auseinanderhalten?“
„Doch, sicher.“
„Na dann. Ruf an. Komm vorbei. Noch mal sag ich es nicht.“
Inzwischen war es Mittag. Das frisch renovierte Büro der Ermittler im LKA roch nach frischer Farbe, und jetzt zusätzlich nach nassen Sachen. Sunja begrüßte HP und René, deren Jacken an der Heizung zum Trocknen hingen, und fragte, ob sie etwas über die Identität des Jungen herausgefunden hätten.
Beide schüttelten den Kopf.
Ihr Blick glitt über die vier Schreibtische. Wie eng es hier war! Als sie damals angefangen hatte, hatten in den Büros maximal zwei Schreibtische gestanden. Jetzt waren es vier. Mit dem Abgang der Handwerker waren die Poster amerikanischer Großstädte, die HP vor Ewigkeiten an die Wände gepinnt hatte, ebenso verschwunden wie der große Stadtplan von Berlin. Die Poster fehlten ihr nicht, aber wo hatten die Handwerker den Stadtplan gelassen? Wenigstens hatte Matthias seine Familienbilder wieder am Arbeitsplatz aufgestellt. Die heile Welt auf solchen Fotos. Genau wie bei Ole. In der Nähe von Paaren wurde sie sich ihrer Einsamkeit furchtbar bewusst. Neben jedem der Schreibtische türmten sich verbotenerweise schon wieder Akten auf dem Boden. Am Fenster hing schief ein selbst gebasteltes Papp-Mobile von Matthias’ Ältestem. Felix. Drei Jahre war der jetzt alt. Sunja konnte sich noch gut daran erinnern, wie Matthias drauf gewesen war, als er zum ersten Mal Vater geworden war. Quasi unzurechnungsfähig vor Glück. Auch bei Ernestos Geburt vor zwei Jahren hatte er sie mit Fotos überschüttet. Er liebte seine Kinder abgöttisch und war bestimmt ein guter Vater. Dagegen war ja nichts zu sagen, solange er die Arbeit nicht vernachlässigte.
Sunja sah die weiß getünchte Tapete an und seufzte. Jetzt strahlte dieser Raum dieselbe Langeweile aus wie Jürgen Langer, ihr neuer Chef. Aus einem anderen Referat, in dem er jahrelang als hauptamtlicher Betriebsrat gearbeitet hatte, war er vor einem knappen Jahr zu ihnen versetzt worden. Wenige Stunden nach der Einführung durch seinen Vorgänger Böttcher hatte er verkündet, dass strukturierte Arbeit für ihn alles sei, und dazu gehörten nun einmal ordentliche Büros und aufgeräumte Schreibtische. Bei dieser Enge hier gäbe es ja nicht mal vorschriftsmäßige Fluchtwege. Und deshalb würde er sich zuerst für bessere Bedingungen am Arbeitsplatz einsetzen. Für jeden von ihnen.
Bessere Bedingungen! Verdammt, sie wollte Heinz Böttcher zurück! Ein anständiger Chef, der immer zu ihnen gehalten und sich nicht die Bohne für das Aussehen ihres Büros interessiert hatte, solange sie ihre Arbeit gut machten! Unter seiner Leitung hatte sie im LKA angefangen. Der alte Haudegen kannte alle Tricks, er hatte sich von der Pike an hochgedient, wusste, wie er jeden Kollegen im Haus nehmen musste, und in puncto Polizeiarbeit konnte ihm niemand das Wasser reichen. Doch in den letzten Jahren war er häufig krank gewesen. Obwohl er seinen Beruf über alles geliebt hatte, musste seine Berentung im vorigen Jahr eine Erleichterung für ihn gewesen sein. Hoffentlich ging es ihm gut. Eigentlich hatte sie auch ihm versprochen, ihn einmal privat zu besuchen. Das sollte sie endlich mal tun.
Wo blieb nur Matthias? Gerade hatten sie doch telefoniert. Genervt schaute sie zu ihren Kollegen, die beide auf ihre Bildschirme gafften. In diesem Team lebte doch jeder in seiner eigenen Welt. Ihr fiel auf, dass HP schon wieder ein neues Hemd trug. Es war smaragdgrün.
„Auf wievielmal Umziehen kommst du am Tag?“, fragte sie spöttisch und ließ sich in ihrem Bürostuhl fallen.
HP reagierte nicht, nur René grinste sie an. „Er batikt sich jetzt selbst welche, ich hab ihn neulich auf dem Mittelaltermarkt getroffen.“
Sunja lachte; sie wusste, dass solch eine Aussage wohl eher auf René selbst zutraf. Nach einem Sommerurlaub mit seiner Spielmannsgruppe war ihr junger Kollege vor einigen Jahren tatsächlich bunt wie ein Papagei im Büro erschienen. Doch inzwischen hatte auch er sich den Gepflogenheiten in einer Landesbehörde angepasst. Zum weißen T-Shirt trug er ein Jackett, das wie maßgeschneidert an seinem schlanken, baumlangen Körper saß. Dazu Röhrenjeans mit eleganten Schuhen. Auffällig an ihm war nur noch die braune Lockenmähne, die er heute als Man Bun trug. Sie kam gut mit ihm klar, er war zuverlässig und eifrig. Mit René sprach sie manchmal sogar über persönliche Dinge und er mit ihr über seinen Freund.
Endlich erschien Matthias.
Die Kommissarin fuhr mit ihrem ächzenden Drehstuhl ein Stück in Richtung der Kollegen.
„Also, dann können wir ja anfangen. Die Rechtsmedizin“, begann sie. „Ole Hansen konnte mir noch nichts Genaueres zur Todesursache sagen, inneres Verbluten, reichlich unklar. Das Opfer könnte auch noch gelebt haben, als man es da runterbrachte. Sonst nichts, was wir nicht schon wussten. Sein Bericht kommt übermorgen. Und der Techniker hat mich noch mal angerufen, an der Tür des Raumes, in dem der Tote lag, ist nichts manipuliert worden. Die andere Außentür ist förmlich zugerostet, das hab ich selbst gesehen. Hast du Moormann gesprochen, HP?“
HP schaute in eine Akte und ignorierte sie.
„HP? Alles klar?“
Ihr Kollege schüttelte den Kopf, er antwortete nur unwillig.
„Ja. War ziemlich im Stress, hatte wohl viel zu tun am ersten Arbeitstag. Ich hab ihn gebeten, mir den Kellerschlüssel zu geben, damit ich ihn im Labor auf Gebrauchsspuren untersuchen lassen kann. Zuerst gab es Theater, er meinte, er kann ohne den Schlüssel nicht arbeiten. Aber dann hat er plötzlich abgewunken und ist weggerannt. Ich ihm nach, wieder in den Keller. Zu seiner Werkstatt. Und da sehe ich doch, dass er wirklich eine Maschine da unten stehen hat, wie im Baumarkt. Wo man Schlüssel nachmachen kann. Es hat jedenfalls keine Minute gedauert, da hatte er einen Ersatzschlüssel. Das heißt doch, der konnte ohne Probleme anderen einen Zugang ermöglichen! Jederzeit!“ HP war in Rage geraten. „Er meint, er benutzt die Maschine manchmal, um Zimmerschlüssel nachzumachen, wenn jugendliche Gäste ihren wieder verloren hätten. Das erspare dem Hostel Kosten.“
„Aber macht ihn das verdächtiger?“, fragte Sunja. „Schließlich hatte er ja einen Schlüssel. Den hätte er auch jederzeit weggeben können, gerade in seinem Urlaub. Und hätte er dir die Maschine so bereitwillig gezeigt, wenn er etwas zu verbergen hätte?“
„Bitte, wie du meinst, ich wollte es nur erwähnt haben.“
Mit HP schien etwas nicht zu stimmen, warum hatte er derart üble Laune? Irritiert wandte Sunja sich Matthias zu, der eben wie ein braver Musterschüler einen Finger in die Luft gestreckt hatte.
„Zu Moormann hab ich noch was“, begann er feierlich. „Diese drei Punkte auf der Hand, wie du schon sagtest, ein Zeichen aus dem Knast. Die stehen angeblich für die drei heiligen Affen. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Die ganze alte Strafkartei der DDR hab ich nach unserem Hausmeister durchforstet. Hier: Zwischen 1978 und 85 saß er im Schweriner Strafvollzug. Einbruch und Totschlag. Zusammen mit zwei anderen hat er einen Laden ausgeraubt. Ein Anwohner kam, wollte eingreifen und sie haben ihn niedergeschlagen, Verletzungen mit Todesfolge. War viel Alkohol im Spiel – damals, vor fast vierzig Jahren. Trotzdem könnte es also sein, dass Moormann noch ein ganz anderes Gesicht hat als das des braven Hausmeisters. Oder? Und nun zum Tattoo des Opfers. Ich habe diese Zeichen abfotografiert und mit dem Stift auf mein Tablet gemalt. Irgendwann hat die Texterkennung eins der Zeichen erkannt. Was für ein Programm! Das funktioniert mit allen Schriften der Welt, Sanskrit, Mandarin, Georgisch … Was ihr wollt. Also, der Computer sagt, das ist Koreanisch. Neben dem Chinesischen eine der ältesten Schriften der Welt, aber von Beginn an viel einfacher organisiert als eine normale Bilderschrift …“ Er wollte zu einem Vortrag ansetzen, doch als er Sunjas ungeduldige Miene sah, unterbrach er seinen Redefluss. „Jedenfalls, das auf seinem Arm heißt Yonko. Y-o-n-k-o. Ein koreanischer Vorname für Jungen. Meint ihr, er heißt so?“
„Das ist doch mal etwas“, sagte Sunja. „Sein Vorname wird das kaum sein. Würdest du dir Matthias auf die Hand tätowieren lassen? Aber trotzdem, es ist ein Anhaltspunkt. Mensch, das ging ja schnell. Super, Matthias.“
„Alles nur moderne Technik“, meinte ihr Kollege stolz. „Und wissen, wie man sie nutzt. Damit haben wir jedenfalls eine Spur, oder sogar zwei. Den Namen Yonko. Und Moormann.“
„Na, eine Spur würde ich das noch nicht nennen“, gab Sunja zurück. „Moormann behalten wir im Blick, klar. Und ich will dieses Hostel nochmal unter die Lupe nehmen. Das mit der Tür geht mir nicht aus dem Kopf. Vielleicht ist uns doch etwas entgangen. Matthias, kommst du mit?
Hastig warf ihr Kollege noch ein paar Schokoriegel in seinem Rucksack.
„Und ihr zwei“, wandte sie sich an HP und René, „sucht weiter nach der Identität des Toten, vielleicht hilft der Name weiter. Yonko. Noch nie gehört. Um fünf sehen wir uns zum Rapport. Da sollte ich dann von März zurück sein.“
„Pass auf, dass sie dich nicht frisst“, entgegnete René lachend. „Die sah heute so hungrig aus.“