Читать книгу Unverpixelt - SatNam777 Pseudonym - Страница 7

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Nach fünf Minuten, die mir wie eine halbe Ewigkeit vorkamen, öffnete sich die Tür wieder. Heraus kam der Polizist, begleitet von einem älteren Arzt mit rundem Bauch, grauem Haarkranz und einer Brille, die viel zu tief auf seiner Nase saß. Er trug einen weißen Kittel, der ihm bis zu den Kniekehlen reichte. Der Arzt blieb vor mir stehen und musterte mich eindringlich von Kopf bis Fuß, was mir sehr unangenehm war. Er starrte mich wie ein Stück Vieh auf einer Auktion an und die Polizisten machten es ihm nach. Verlegen blickte ich auf den Boden und schloss die Augen, dennoch spürte ich ihre Blicke auf meiner Haut. Ich fühlte mich nackt und unwohl, sie sollten damit aufhören.

Als der Arzt sich laut räusperte, öffnete ich die Augen wieder und sah ihn vorsichtig an. Er rieb sich die Nase und deutete auf mich. „Wir müssen Sie hierbehalten“, sagte er mit einer rauen Stimme, die perfekt zu seinem Aussehen passte.

Im ersten Moment, als ich seine Worte hörte, war ich wie erstarrt, ich konnte mich nicht mehr bewegen und kaum mehr atmen. Ich fühlte mich wie in einem Schockzustand, wie traumatisiert. Was machten die nur mit mir? Mir wurde schlecht und schwindelig. Was sollte das denn jetzt? Warum musste ich in dieser gruseligen Klinik bleiben? Das konnte doch nicht wahr sein. Ich brauchte Zeit, ich wollte diese Nachricht erst einmal verarbeiten und vor allem wollte ich dafür sorgen, dass es meinem Sohn gut ging, während ich nicht zu Hause war.

Aber dem kaltherzigen Polizisten war das egal. Schroff packte er mich am Arm. „Los! Mitkommen!“, ordnete er barsch an und drückte mich voraus durch die Tür und weiter durch einen langen Gang. Das Licht flackerte und es wirkte für mich so, wie in einem der schlechten Gruselfilme, die ich als Kind immer sah, um mir einen Schreck zu holen, um in der Nacht nicht schlafen zu können oder um mich in der Nacht nicht mehr allein auf die Toilette zu trauen. Diese ganze Situation war so absurd. Ich konnte mich einfach nicht wehren, meine Fassungslosigkeit schlug wie ein schwerer Stein auf mich ein und drückte mich fast zu Boden.

Am Ende des unheimlichen Ganges bogen wir nach rechts ab und kamen bei einem Zimmer an, das vollkommen aus Glas bestand. Panik stieg in mir auf und ich versuchte mich mit aller Macht gegen die Kraft des Polizisten zu stemmen. Das ist jetzt nicht wirklich deren Ernst, oder?, dachte ich und stand kurz davor, die ganze Station zusammenzuschreien. Ich wollte einfach nur noch aus diesem Alptraum heraus, ich wollte aufwachen und feststellen, dass das alles nicht echt war. Aber dem war leider nicht so. Ich befand mich nicht in einem Traum, sondern in der knallharten Realität, so unglaublich, dass ich ab und an wirklich ernsthaft an meiner Wahrnehmung zweifelte. Ich musste schauen, dass ich hier so schnell wie möglich wieder rauskomme. Denn ich wusste jetzt schon, würde ich das nicht schaffen, würde ich in ein tiefes Loch fallen und emotional völlig zusammenbrechen.

Hinter der durchsichtigen Scheibe stand ein Bett auf Rollen. Es war reinweiß bezogen und etwas beunruhigte mich sehr. Denn an dem Bett befanden sich jeweils zwei Fesseln, einmal für die Hände und einmal für die Füße. Angsterfüllt wehrte ich mich gegen den Griff des Polizisten. „Das ist nicht euer Ernst, oder? Bitte, das könnt ihr nicht mit mir machen“, flehte ich sie an, und wenn sie es von mir verlangt hätten, wäre ich vor ihnen auf die Knie gefallen und hätte bis zum bitteren Ende gebettelt.

Aber die Männer achteten nicht auf mich, auch nicht der Polizist, dem ich noch im Wagen etwas Herz zusprach. Plötzlich bekam ich einen Flashback, denn vor vier Jahren musste ich schon einmal die Erfahrung machen, wie es sich anfühlte, eine Nacht an einem Fesselbett fixiert zu sein.

Damals hatte mich mein Ehemann nach 14 Jahren Ehe mit einer 22-jährigen Apothekerin über ein halbes Jahr lang betrogen und belogen. Als ich davon erfuhr, hatte ich das Gefühl zu träumen und ich verstand einfach nicht, warum er mir das antat. Nie hatte ich irgendwie das Gefühl, dass ihm in unserer Ehe etwas fehlte. Wir waren doch zufrieden, wir hatten uns, unsere zwei Kinder und wir liebten uns. Niemals im Leben hätte ich gedacht, dass er mich einmal mit einer Jüngeren betrügen würde. Niemals.

Dazu kam auch noch, dass mein großer Sohn Kai sich vor ein paar Wochen dazu entschloss, zu seinem Vater und seiner jungen Freundin zu ziehen. Weil er nicht mehr bei mir bleiben wollte. Ich erinnerte mich noch genau an den Tag, das erste Weihnachten nach der Trennung von meinem Ex-Mann, da schenkte er mir ein Kummerfläschen mit lauter kleinen Briefen zum Aufmuntern darin. Das schönste Geschenk, das ich jemals bekam. Es war so herzzerreißend. Mit Tränen in den Augen saß ich unter dem Weihnachtsbaum und las Zettel für Zettel. Für die beste Mama der Welt, für die liebste Mama auf der Erde, du bist wunderschön … Es war so bezaubernd und lieb. Zum Geburtstag bekam ich dann noch ein Holzbrett, auf dem stand: Du musst erst Ballast abwerfen, um wieder höher steigen und fliegen zu können. Dies brannte er mit einem Holzbrenner ein. Er ist so ein toller und liebevoller Junge. Um ihn machte ich mir auch tagtäglich Sorgen, die mich fast um den Verstand brachten. Und ich vermisste ihn so sehr.

Ich war zu der Zeit am Ende, ich wollte nicht mehr darüber nachdenken, wenigstens nur für eine kurze Zeit. Somit bekam ich Beruhigungstropfen verschrieben und nahm davon ein paar mehr Tropfen, als auf der kleinen Flasche stand. Ich dachte mir nichts dabei, hatte nur im Sinn, dass ich dann besser schlafen konnte. Leider wirkten die Tropfen mehr als geahnt, ich schlief viel zu schnell und viel zu fest ein. Als ich wieder aufwachte, lag ich plötzlich auf der Intensivstation fixiert an meinem Bett. Niemand war da, ich hatte Durst, mein ganzer Körper juckte und ich lag unbequem in diesem Krankenhausbett. Ich war ein absoluter Bauchschläfer, aber durch die Fixierung war es mir nicht möglich, mich auch nur ein bisschen zu bewegen.

Nicht einmal den Knopf über meinem Kopf konnte ich drücken. Ich war gefangen und hatte keine Chance, um irgendwie auf mich aufmerksam zu machen. Ich hatte das Gefühl, jeden Moment zu verdursten, meine Luft war knapp und dieses Kratzen im Hals war die Hölle für mich. Das war die schlimmste und längste Nacht in meinem Leben. Eine Minute in diesem Bett kam mir vor wie eine Stunde.

So eine Nacht wollte ich um alles in der Welt nicht noch einmal durchmachen. Aber um mein Befinden und um meine Wünsche scherte sich in diesem Augenblick niemand. Die Polizisten schoben mich unschön weiter in das trostlose Zimmer. Ich wehrte mich weiter, weinte und schluchzte.

Obwohl ich schon lange aus der Kirche ausgetreten war und nie betete, riss ich mich von den Polizisten los und stellte mich in eine Ecke. Der eine schimpfte, der andere sagte nichts. Ich schloss die Augen, faltete meine Hände und ging auf die Knie. Anschließend betete ich leise das Vater unser. Danach atmete ich tief durch, war auf einmal ganz ruhig und setzte mich brav auf das Bett.

In der Zwischenzeit kamen zwei weitere Pfleger dazu. Sie standen neben dem Arzt, während die Polizisten um mich herumstanden und mich perplex anstarrten. Mit einem Mal überkam mich eine vollkommene Leere und es machte mir Angst, von den Männern so angestiert zu werden, als sei ich eine Verrückte. Mit einem lauten Seufzten nahm ich all meine letzte Kraft zusammen und sah alle Mann mit einem traurigen Blick an.

Dann forderte ich sie auf, das Zimmer zu verlassen. Ob ich in dem Augenblick in der Position war, um diese Bitte zu äußern, war mir relativ egal. Ich wollte endlich meine Ruhe haben und über all das nachdenken. Jeder warf dem anderen einen fragenden Blick zu, bis der Arzt nickte und sein Okay gab. Einer der Polizisten nahm mir die Handschellen ab, würdigte mir dabei jedoch keinen einzigen Blick. Danach verließen sie nacheinander das Zimmer.

Als sie alle endlich raus waren, riss ich mir die Maske vom Gesicht, warf ich mich ohne Umwege zwischen die Fesseln auf die harte Pritsche und weinte so heftig und so lange, bis ich fast in Ohnmacht fiel. Doch bevor das passierte, riss ich mich wieder zusammen und starrte eine Weile an die Decke. Sie war ebenfalls weiß mit kleinen Löchern. Sofort kam mir in den Sinn, dass ich gar nicht wissen wollte, wie viele Leute schon hier lagen und diese Löcher zählten.

Ehe ich dazu gehörte, richtete ich mich auf und wurde sofort von einem heftigen Kopfschmerz eingeholt. Meine Augen brannten und waren total geschwollen, meine Glieder waren schwer und schmerzten. Zu meiner Rechten stand ein kleiner Tisch mit einer Scheibe trockenem Brot und einem Glas Wasser, was ich vorher gar nicht wahrgenommen hatte. Direkt vor mir war eine Kamera angebracht. Außerhalb der Glasscheibe stand ein Monitor und davor saßen die zwei Pfleger und beobachteten mich.

An der Scheibe des Zimmers nahm ich wahrscheinlich von meinem Vorgänger einen Handabdruck wahr. Eine fettige Spur zog sich von oben nach unten an der Scheibe entlang. Dieser Raum strahlte mehr Kälte und Leid aus als alles andere, was ich jemals zuvor sah. Auf einmal bekam ich ein beklommenes Gefühl. In meiner Kehle setzte sich ein fetter Kloß fest und mir war plötzlich so, als würden tausend Emotionen auf mich einprallen.

Hier in diesem Zimmer aus Glas mussten höchstwahrscheinlich schon sehr viele Menschen leiden und diese ganzen Gefühle, ob gute oder schlechte, suchten mich heim und machten mich völlig durcheinander. Überall, in jeder Ecke, nahm ich eine andere Empfindung wahr. Nein, ich will hier weg, schrie ich innerlich. Das hier ist der falsche Ort für mich. Lasst mich raus aus dieser Hölle!

Mir wurde kalt und ich hatte keine Decke. Nur ein dämmriges Licht stand mir zur Verfügung und die Kamera, die mich filmte, blinkte ständig auf mich. Ich kam mir vor wie ein Versuchskaninchen oder eher wie eine Ratte, eingesperrt in einem Käfig, in einer Forschungsanstalt oder einem Untersuchungslabor, als wollte man mit mir irgendwelche verbotenen Experimente durchführen.

Dieser Ort strahlte alles aus, nur nichts Gutes. Ich spürte Kälte und Böses, Trauer und Leid, die Wände waren verschmiert und dreckig, es war einfach alles kahl und roch nicht gut. In spürte in mir vollkommene und bedrohliche Angst. Ein Gefühl, das mich vor schrecklichen Ereignissen schützen möchte. Die Pritsche war so hart, dass egal in welche Richtung ich mich drehte, immer irgendetwas schmerzte. So aufgewühlt, wie ich war, konnte ich an Schlaf sowieso nicht denken. Nie im Leben hätte ich daran gedacht, dass ich so einer Situation einmal ausgesetzt werde.

Mir war übel und teilweise fühlte ich mich so, als würde mir jemand das Herz bei lebendigem Leibe herausreißen. Diese Lage tötete meine Seele. Die Sorgen um meinen Sohn wurden immer größer. Statt, dass ich bei ihm war, wurde ich weggesperrt und für verrückt erklärt. Ich war machtlos, man sperrte mich einfach weg und das zu Unrecht. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.

Nach einer Weile, in der ich auf der Pritsche lag, bemerkte ich eine Bewegung außerhalb der Scheibe, dort tat sich etwas. Langsam drehte ich meinen Kopf in die Richtung der Pfleger und stellte fest, dass jetzt wohl Schichtwechsel war. Die Pfleger packten ihre Sachen zusammen und machten Platz für eine junge Frau, die ich ungefähr auf 28 Jahre schätzte. Ihre Lippen waren aufgespritzt und ihre Brüste waren nicht echt. Sie war sehr stark geschminkt und hatte langes dunkelbraunes Haar.

Die junge Dame nahm vor dem Monitor Platz, ohne auch nur einen Blick hineinzuwerfen. Anschließend legte sie ihre Beine auf dem Schreibtisch und deckte sich mit ihrer Jacke zu. So wie es aussah, wollte sie ein wenig schlafen. Ob ihr Chef das wohl wusste? Mir war es jedenfalls egal. Mittlerweile zeigte die Uhr 03:33 Uhr in der Nacht an. Mein Blick war immer noch auf die junge Dame gerichtet, dabei kam mir in den Sinn, dass sie gar nicht an so einen bösen Ort passte.

Wie auch ich auf meiner unbequemen Pritsche, wand sie sich auf ihrem Schreibtischstuhl immer wieder hin und her. Ich hatte keine Ahnung, wie lange sie das tat, aber irgendwann verdrehte sie genervt die Augen, stand auf und bückte sich nach ihrer Handtasche. Kurz wühlte sie darin herum und holte eine Schachtel Zigaretten heraus.

Ich runzelte die Stirn und stand auf, dabei musste ich Acht geben, denn mir war noch immer schlecht und schwindelig. Ich wollte hier in diesem Raum auf keinen Fall zusammenbrechen, denn ich wusste schließlich nicht, wo ich dann landete. Dieses gruselige Gebäude machte den Eindruck auf mich, als gäbe es hier noch viel schrecklichere Räume als dieser, in dem ich gerade feststeckte.

Mit wackeligen Beinen und voll Ekel gepackt, trat ich ganz nahe an die dreckige Scheibe. „Hallo“, sagte ich erst mit einer ganz sanften Stimme. Mein Hals war trocken und kratzte, also räusperte ich mich und versuchte es noch einmal. „Hallo“, gab ich diesmal ein bisschen lauter von mir, aber die Pflegerin schaute nicht einmal auf, sie war mit ihren Zigaretten viel zu beschäftigt.

Ich musste irgendwie auf mich aufmerksam machen, also klopfte ich nun an die Scheibe, damit sie mich bemerkte. Und meine Tat zeigte Wirkung. Mit einem verwunderten Ausdruck sah sie auf und blickte mich so an, als habe sie gar nicht erwartet, dass jemand in diesem Glaszimmer saß. Ich lächelte kurz und winkte, damit sie merkte, dass ich ein Anliegen hatte.

Die Pflegerin verdreht die Augen, setzte sich einen Mund-Nasen-Schutz auf, kam von ihren Monitoren hervor und öffnete die Tür. Ich hielt ein wenig Abstand, damit sie erkannte, dass von mir aus, keine Gefahr aus bestand. „Was wollen Sie?“, fragte sie mich mit einem schroffen, aber auch einem sehr freundlichen Ton.

„Darf ich bitte mit dir eine rauchen gehen?“, fragte ich einfach so heraus. Ich wusste, dass das vielleicht etwas absurd klang, schließlich war ich in einer Glaskammer, in der ein Fesselbett stand, eingesperrt. Aber was solls. Mehr wie Nein konnte sie schließlich nicht sagen. „Ich mache auch nichts“, fügte ich noch hinzu und versuchte so vertrauenswürdig wie möglich zu klingen.

Die Pflegerin, deren harter Ausdruck sich nun etwas legte, überlegte eine Weile, was mir wie eine halbe Ewigkeit vorkam. „In Ordnung“, erwiderte sie dann und ging beiseite, damit ich aus dem Zimmer treten konnte. „Aber es darf niemand mitbekommen und sage auch zu niemanden etwas, sonst bekomme ich riesigen Ärger.“

Ich war erleichtert über ihre Worte und atmete tief durch. Zum Dank schenkte ich ihr ein Lächeln und nickte. Anschließend folgte ich ihr durch einen dunklen Flur in den Raucherraum. Tief in meinem Inneren hoffte ich auf einen Raum, der liebevoll eingerichtet war. Ich hoffte auf einen Raum, in dem ich mich wenigstens für ein paar Minuten wohlfühlen konnte, aber leider war auch dieses Zimmer genauso kahl, hässlich und herzlos wie die Glaskammer.

Die Pflegerin zog ihre Maske unter das Kinn und gab mir eine Zigarette und ein Feuerzeug, danach öffnete sie das Fenster einen Spalt und wir genossen unsere Zigarette. Sie wirkte entspannt und sehr ruhig auf mich, also ging ich davon aus, dass sie nicht damit rechnete, dass ich etwas anstellen würde. Ich hatte es natürlich auch nicht vor. Mit jedem Wort, das wir miteinander wechselten, war sie mir sympathischer. Sie war wirklich eine sehr nette Frau.

Schließlich wollte sie von mir wissen, wie ich in der Psychiatrie landete. Nach ihrer Frage sah ich sie erst eine Weile an. Wahrscheinlich waren es nur Sekunden, aber für mich fühlte es sich so an, als wären es Stunden, Tage oder gar Monate. Die Welt um mich herum schien zu verschwimmen und ehe ich mich versah, stand ich wieder im Heidelberger Polizeipräsidium.

Jedem, dem ich begegnete, sah mich wütend, mit gerunzelter Stirn und schmalen Augen an. Dieser Mund-Nasen-Schutz machte den Ausdruck der Menschen noch grimmiger. Aber man musste sie nun einmal tragen, aber ich … ich war so mit mir selbst beschäftigt, dass ich vergaß, einen aufzusetzen.

Mit zitternden Händen hielt ich das Tütchen in der Hand und stieg ganz langsam die Stufen in das große Gebäude hinauf. Es regnete, es war kühl und der Wind war frisch. Wie in Trance öffnete ich die Tür und trat ein. Zuerst blieb ich stehen und sah mich um. Die Luft war im Gegensatz zu draußen stickig und es roch nicht gut. Es klingelten Telefone, ich hörte Drucker und Faxgeräte piepen. Viele Personen, in Polizeiuniformen gekleidet, sprachen miteinander. Manche angeregt und laut, manche ganz normal.

Im ersten Moment hatte ich das Gefühl, dass mich niemand wahrnahm, als sei ich Luft. Mein Herz raste und ich hatte Angst, trotzdem wusste ich, dass ich das Richtige tat. Also sprach ich einfach den nächsten Polizisten an, der meinen Weg kreuzte. Ich drückte ihm ohne Umwege das Gras in die Hand und bat um Hilfe. Einzelne Tränen liefen über meine Wangen und meine Augen versuchten jeden Winkel in der Wache im Blick zu behalten. Wie ein Roboter erzählte ich dem Polizisten was passiert war, es sprudelte alles nur aus mir heraus.

Plötzlich hielt er mich aber davon ab. Mit etwas Wut und Unverständnis in der Stimme, machte er mir klar, dass ich einen Mund-Nasen-Schutz tragen musste. Seine Stimme klang rau und tief hinter der Maske. Als ich auf seine Aussage nicht einging, verdrehte er die Augen, griff in seine linke Hosentasche und holte eine Maske hervor. Keinen Wimpernschlag später reichte er mir diese und ich zog sie auf.

Es war im November 2020, wir waren mitten im 2. Lockdown, es war 21:21 Uhr, also mitten in der Ausgangssperre. So lange war ich schon hier. Anschließend bat mich der Polizist, mit ihm zu kommen und brachte mich in einen Verhörraum. Dort erzählte ich, dass ich das Cannabis abgeben wollte, um mich selbst zu schützen, bevor mich jeder in den Wahnsinn trieb. Anschließend bat ich darum, dass sie mein Handy checken sollten, weil sich alles so verlogen und unecht anfühlte. Ich wusste nicht, ob ich irgendeine Spionage-App oder Sonstiges auf meinem Handy hatte, aber ich wusste, dass irgendjemand immer wusste, wo ich war. Das machte mir Angst und ich hoffte so sehr, dass es sich bei dem Ganzen nicht um meinen narzisstischen Ex-Freund handelte.

Ich hatte furchtbare Angst und wollte doch nur Schutz und Unterstützung. Aber ab diesem Zeitpunkt war ich für die Polizei kein Opfer, sondern eine verrückte Drogenabhängige. Ich musste die Schuhe ausziehen und von einem sehr alten Arzt musste ich mir Blut abnehmen lassen. Ich fühlte mich falsch verstanden und wusste nicht, was mit mir geschah. Jetzt bereute ich ein wenig, dass ich hierhergekommen war. Der Arzt hielt mir ein Dokument hin und sagte doch tatsächlich zu mir, dass ich mit „Heute ist Freitag“ unterschreiben sollte. Innerlich schüttelte ich den Kopf und fragte mich, ob er das wirklich ernst meinte. Wer ist hier jetzt der oder die Verrückte?

Das durfte alles nicht passierten, ich durfte nicht aufgeben. Also redete ich weiter auf die Polizisten ein, ich wollte mich erklären und ihnen sagen, dass ich möglicherweise in Gefahr war. Aber für sie stand wahrscheinlich schon längst fest, dass ich unter Wahnvorstellungen litt und ein geeigneter Kandidat für die Klapse war. Sie halfen mir nicht, sie steckten mich einfach in eine Schublade – ganz nach dem Schema „runterspülen“ und fertig.

„Und ehe ich mich versah, war ich gefangen in dieser Glaskammer.“ Ich zuckte zusammen und sah die Pflegerin mit großen Augen an. Mir war gar nicht bewusst, dass ich ihr meine Geschichte erzählte. Mein Blick verschwamm und ich stand kurz davor zu weinen. „Ich verstehe nicht, warum man mich so wegsperrt und wie eine Schwerverbrecherin behandelt.“

„Das wird schon wieder“, beruhigte mich die Pflegerin und drückte ihre Zigarette im dafür vorgesehenen Aschenbecher aus. „Du kannst morgen früh sicher mit einem Taxischein der Krankenkasse wieder nach Hause fahren. Das ist bei den meisten so.“

Ich machte es ihr nach und drückte die Zigarette aus. Ihre Worte machten mir etwas Hoffnung und gaben mir Mut. Vielleicht konnte ich morgen schon wieder zu Hause sein und meinen Sohn im Arm halten. Also brachte sie mich wieder zurück in das Zimmer aus Glas und ich musste es irgendwie schaffen, diese Nacht und diesen Albtraum zu überstehen.

***

Leider schaffte ich es nicht zu schlafen. Nicht einmal für eine Sekunde konnte ich meine Augen schließen. Ich war viel zu aufgewühlt und mich beschäftigten viel zu viele Dinge. Ich war emotional so zerstört und so enttäuscht, dass ich den Glauben an die Menschheit verlor. Warum ging man so mit mir um? Warum nur? Ich hatte große Angst um meine Söhne und hoffte so sehr, dass sich jemand um meinen Jüngsten kümmerte.

Das Bett war sehr unbequem und mir war unheimlich kalt. Ich hatte das Gefühl, auf irgendwelchen Schrauben zu liegen, und obwohl ich nicht gefesselt war, störten mich die Fesseln trotzdem. Dieses Zimmer war einfach kein schöner Ort und ich wusste jetzt schon, dass mein Körper am nächsten Tag grün und blau sein wird. Es war kaum auszuhalten, es war Seelenmord. Dennoch beschloss ich die Augen zu schließen, in der Hoffnung, wenigstens ein bisschen zu schlafen. Aber all meine Bemühungen waren umsonst. Aber der Morgen kam dann doch schneller als gedacht. Er kündigte sich nicht durch einen Wecker an, auch kam nicht die Pflegerin zu mir, sondern die Helligkeit, die durch die Scheiben auf mich traf, sagte mir, dass es Zeit zum Aufstehen wird.

Langsam öffnete ich die Augen und musste erst ein paar Mal schnell hintereinander blinzeln, damit ich mich an das Licht gewöhnte. Andere mögen vielleicht schimpfen, wenn die Sonne sie weckte, bei mir war das in diesem Augenblick jedoch ganz anders. Die Strahlen schenkten mir Wärme und Zuversicht und ich hoffte so sehr, dass ich heute wieder nach Hause durfte.

Außerhalb des Zimmers hörte ich, dass sich jemand unterhielt. Also richtete ich mich auf, um zu sehen, worum es ging. Mein erster Blick ging zu dem Raum mit dem Monitor und der Pflegerin. Dort beobachtete ich, dass wohl wieder ein Schichtwechsel anstand. Die Pflegerin wurde von einer anderen Dame abgelöst. Sie suchte schnell ihre Sachen zusammen und war schon auf dem Sprung. Doch, bevor sie ging, schaute sie noch einmal bei mir vorbei und verabschiedete sich von mir.

Kaum hatte sie die Tür wieder geschlossen, brachte mir die neue Pflegerin eine frische Scheibe Brot und einen Joghurt vorbei. Sie gab sich gar nicht viel mit mir ab. Ich konnte von Glück sprechen, dass sie mir ein einigermaßen freundliches „Guten Morgen“ zuwarf, als sie in das Zimmer kam. Aber im Großen und Ganzen konnte mir das ja egal sein, denn heute konnte ich schließlich wieder nach Hause. Ich hoffte es zumindest.

Als die Pflegerin ohne ein weiteres Wort den Raum wieder verließ und sich hinter dem Monitor setzte, sah ich mich um. Im Hellen hatte dieser Glaskasten eine ganz andere Wirkung. Damit möchte ich nicht sagen, dass ich mich langsam darin wohlfühlte, sondern nur, dass er eben anders wirkte. Durch ein kleines hochstehendes Fenster beobachtete ich draußen die Vögel in den Bäumen. Sie sangen und flogen fröhlich umher, sie waren frei und sorglos. Ganz im Gegenteil zu mir.

Angewidert starrte ich auf das trockene Brot, keine Sekunde später knurrte mein Magen. Auf der einen Seite sagte er „Iss es, ich habe schon lange nichts mehr bekommen“ und auf der anderen sagt er „Schmeiß das Zeug weg und sieh zu, dass du bald etwas Richtiges zwischen die Zähne bekommst“. Kurz schloss ich die Augen und atmete tief durch. Anschließend nahm ich das Brot, zerkleinerte es und legt die Brösel für die Vögel auf die Fensterbank. Sie hatten damit sicher mehr Spaß als ich.

Damit ich die Fensterbank erreichen konnte, musste ich mich auf Zehenspitzen stellen und mich etwas strecken. Jetzt sah ich nicht nur den Baum mit den Vögeln, sondern durch Gitterstäbe auch das Außengelände der Psychiatrie. Draußen herrschten dieselbe Kälte und Herzlosigkeit wie im Inneren, das Gelände war einfach nur hässlich und düster. Gegenüber waren weitere braune Komplexe, deren Fenster auch mit Gitter versehen waren.

Hier war einfach ein ganz schrecklicher Ort. Ab und an hörte ich aus den anderen Zimmern Menschen um ihr Leben schreien. Teilweise hörte es sich so an, als würden sie abgeschlachtet werden. So wollte ich auf keinen Fall enden, ich musste zusehen, dass ich hier so schnell wie möglich herauskam. In meinen Gedanken fragte ich die Pflegerin schon nach dem Taxischein.

Ich zuckte zusammen und dreht mich schnell herum, als jemand das Zimmer betrat. Ich stellte sofort fest, dass es sich um einen Arzt handelte. „Guten Morgen“, begrüßte er mich mit einer hellen Stimme und einer Maske vor dem Mund. „Ich bin Dr. Blickwinkel.“ Er hatte ein Klemmbrett mit vielen Blättern darauf in der Hand und schaute sich diese an.

„Guten Morgen“, erwiderte ich. Im Stillen dachte ich, dass es immer auf den richtigen Blickwinkel ankam, wie man eben eine bestimmte Situation begutachtete. Mit einem Lächeln kam ich dem Arzt einen Schritt näher. „Eine Pflegerin sagte mir gestern, dass ich mit einem Taxischein der Krankenkasse wieder nach Hause fahren könnte“, erzählte ich. „Wo bekomme ich so einen her?“

Der Arzt nickte und war meiner Meinung nach ziemlich tief in den Unterlagen vertieft. Auf meine Frage ging er gar nicht ein und ich kam mir vor wie im falschen Film. Er ignorierte mein Anliegen vollkommen und tat so, als hätte ich gar nichts gesagt. Nach gefühlten Stunden hob er plötzlich den Kopf, grinste breit und sah mich an, als wäre ich nicht ganz dicht. „Setzen Sie bitte den Mund-Nasen-Schutz auf und kommen Sie bitte mit.“ Kaum waren seine Worte zu Ende, erschien auch schon ein Pfleger, der sich hinter mich stellte und mich stumm aufforderte dem Arzt zu folgen.

Am liebsten wollte ich jetzt anfangen zu schreien und um mich schlagen. Die offene Tür bot mir auch eine geeignete Chance für eine Flucht, aber ich wollte nicht weiter auffallen aus Angst, dass ich noch länger hierbleiben musste. Also folgte ich brav den Aufforderungen und lief hinter dem Arzt her. Verzweifelt fragte ich immer wieder nach dem Taxischein, aber niemand ging darauf ein.

Wir bogen in einen kahlen Raum ab. Dort gab mir der Arzt einen kleinen Becher und bat mich um eine Urinprobe. An meiner Seite war immer der Pfleger, der mich nicht aus den Augen ließ. Danach sollte ich im Flur auf einem harten Stuhl Platz nehmen und warten, man würde mir bald sagen, wie es weiterging.

Überall waren so viele Menschen. Eine Indianerfrau mit überaus gelben Fingern, die zeigten, dass sie sehr viel rauchte. Ein Mann, der ganz trockene Hände hatte und diese die ganze Zeit aneinander rieb. Ein weiterer Mann, der ständig im Kreis lief und immer wieder sagte, dass er unter Gedächtnisverlust litt. Ich gehörte hier nicht her.

Nervös tippte ich immer wieder mit den Fußzehen auf dem Boden. Die Zeit zog sich wie Kaugummi und ich wollte unbedingt wieder nach Hause. Um ehrlich zu sein, wusste ich gar nicht, warum ich hier noch festgehalten wurde. Jedes Mal, wenn ein Arzt oder eine Pflegerin und ein Pfleger an mir vorbeiliefen, war ich schon halb auf dem Sprung, weil ich dachte, dass sie zu mir wollten, aber dem war nicht so.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der ich mir diese armen Menschen ansehen musste, kamen endlich zwei Pflegerinnen und forderten mich auf, ihnen zu folgen. Im ersten Augenblick starrte ich sie nur fragend an. Die Frage nach dem Taxischein lag schon wieder auf meiner Zunge, aber ich hielt mich zurück. Eigentlich hatte ich so viele Fragen, aber ihr hartes Auftreten machte mich ganz verlegen und zurückhaltend.

Also tat ich es wie immer. Ich fügte mich und machte das, worum man mich bat. Na ja, von bitten konnte hier nicht die Rede sein. Aber was sollte ich tun? Wenn ich mich wehrte, würde ich hier wahrscheinlich nicht mehr so schnell herauskommen.

Die Pflegerinnen führten mich vor das Gebäude, wo schon ein weißer Van auf uns wartete. Das Wetter hatte sich nicht geändert. Genauso wie gestern war es trüb, nass und kalt. Zwar regnete es nicht, aber die dicken Wolken verrieten, dass es nicht mehr lange dauerte, bis der Himmel seine Schleusen wieder öffnete. Die Kleinere von den beiden schob die Schiebetür auf und deutete nur mit einem einzigen Augenaufschlagen an, dass ich einsteigen sollte. Die andere setzte sich gleich hinter das Steuer.

Sobald ich im Wagen saß und sie die Tür zugeschlagen hatte, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Ein ganz komisches Gefühl kam in mir auf. Ich hatte keine Ahnung, wo mich die beiden Pflegerinnen hinfuhren. Der Wagen wurde gestartet und wir fuhren los. Je weiter wir uns von dem gruseligen Gebäude entfernten, desto erleichterter war ich, obwohl ich nicht wusste, was als Nächstes auf mich zukam.

Waren sie vielleicht mein Taxischein nach Hause? Kurz klaffte Hoffnung in mir auf. Als wir jedoch nach gerade Mal fünf Minuten Fahrt an einem anderen Gebäude hielten, schwand diese schnell wieder. Was wollten wir hier? Was sollte das alles? Die kleine Pflegerin machte mir wieder die Tür auf und deutete diesmal mit einem Handzeichen an, dass ich aussteigen sollte.

Die andere lief voran und ich folgte ihr. Dieses Gebäude war von dem Vorherigen kaum zu unterscheiden. Es war einfach nur ein einziger Horror für mich. Kaum passierten wir die Tür, kam uns auch schon ein dicker glatzköpfiger Arzt mit breiter Brille entgegen, zu meinem Erstaunen, diesmal ohne Mund-Nasen-Schutz. Als ich aber sein ekelhaftes Grinsen wahrnahm, wünschte ich mir, er würde eine tragen.

Ohne ein Zögern näherte er sich mir und hielt mir sogleich ein Blatt Papier auf einem Klemmbrett und einen Kugelschreiber vor die Nase. „Guten Morgen Pi“, begrüßte er mich. „Unterschreiben Sie das bitte.“ Er lächelte und nickte.

Zuerst blickte ich auf das Papier, danach zu den Pflegerinnen und dann zu dem Arzt. War das nun endlich der Taxischein? Mussten wir etwa hierherfahren, weil nur dieser Arzt den Schein ausstellen kann. Ohne weiter zu überlegen, griff ich danach und setzte meine Unterschrift unter dem Text. Ich machte mir nicht die Mühe, das Dokument durchzulesen. Warum auch? Denn ich roch die Freiheit schon. Bald war ich wieder zu Hause.

Der Arzt nahm mir das Zeug wieder ab, schaute darauf und nickte. „Sehr schön, vielen Dank, Pi“, sagte er mit einem ganz komischen und siegreichen Ton, der mir etwas Angst machte. „Wir haben Ihre Eltern schon benachrichtigt. Sie werden Ihnen Kleidung und Waschzeug vorbeibringen. Sie bleiben erst einmal hier.“

Seine Worte trafen mich wie ein harter Stein und hätten mir fast den Boden unter den Füßen weggerissen. „Wie bitte?“, erwiderte ich mit einer hohen und fassungslosen Stimme. Mir war schwindelig und schlecht, ich war geschockt, ich verstand die Welt nicht mehr. Warum taten diese Leute das nur mit mir? Meine Hoffnungen schwanden mit jedem Atemzug, meine Zukunft wurde mit einem Mal zerschmettert und mit Füßen getreten.

Während der Arzt weiter auf mich einsprach, schüttelte ich nur den Kopf und starrte auf eine dunkle Stelle auf dem Boden. Die Welt um mich herum blendete ich völlig aus, meine Gedanken waren nur bei meinem Sohn. Wie sollte ich ihm das alles nur erklären? Ich nahm wahr, dass mich die Pflegerinnen an den Armen packten und mich wegschleiften, der Arzt erwähnte eine Station 8.

Mittlerweile war 12:21 Uhr.

Ich ließ alles über mich ergehen, war im Augenblick nicht in der Lage, mich ihnen in irgendeiner Weise zu widersetzen. Wozu auch? Das brachte doch alles nichts. Sie hatten mich, ich war gefangen. Warum passierte mir das alles? Ich wollte doch nur ehrlich sein und ich wollte Hilfe. Aber nicht in diesem Ausmaß. So hatte ich mir das nicht vorgestellt.

Meine wirren Gedanken brachten mich fast um den Verstand. So richtig kam ich erst wieder zu mir, als ich auf einem Bett saß, ich wusste nicht einmal genau, wie ich plötzlich hierherkam. Diese ganze Situation war völlig skurril und wie verhext. Völlig benebelt, als hätte man mich mit sämtlichen Tabletten auf der Station vollgestopft, sah ich mich um und zuckte zusammen, als ich eine junge Frau auf einem Bett sitzend mir gegenüber wahrnahm.

Im ersten Moment starrte ich sie nur an und wusste nicht, was ich sagen sollte. Ihr schien es genauso zu gehen, denn von ihr kam auch kein Ton. Plötzlich stand sie auf und kam auf mich zu, anschließend hielt sie mir die Hand hin und stellte sich freundlich vor. Mein Staunen wurde noch größer, als sie mir ihren Namen nannte. Pi.

Wie in Zeitlupe nahm ich ihre Hand entgegen und nannte auch meinen Namen. „Hallo, ich bin ebenfalls Pi.“ Wieder wurde es für ein paar Sekunden ganz still, dann lachten wir beide und Pi setzte sich wieder zurück auf ihr Bett. Ich konnte es immer noch nicht fassen, das alles kam mir vor, wie in Das doppelte Lottchen.

Überhaupt kam mir alles wie in einem schlechten Film vor. Ich bekam irgendwelche abgetragenen Kleider aus einer alten Truhe und eine Plastikzahnbürste. Das wars, damit sollte ich erst einmal klarkommen. Was soll das alles eigentlich? Jetzt war ich also auf der Station 8 angekommen und ich wusste nicht einmal, was ich hier sollte.

Da saß ich nun traurig, allein, entsetzt und ich machte mir große Sorgen um meinen Sohn. Er fragte sicher schon nach mir. Es war einfach nur fürchterlich. Ich hatte große Angst, obwohl ich innerlich ziemlich ruhig war und diese Mischung machte mir noch mehr Sorgen. Man steckte mich einfach in dieses kahle Zimmer mit einer fremden Frau und sagte mir nicht einmal, was das soll oder warum ich hier war. Ich verstand gar nichts mehr.

Als ich eine Weile auf meinem Bett verbrachte und auf Antworten wartete, kam nach einer für mich sehr langen Zeit plötzlich eine Pflegerin herein und nannte meinen vollen Namen, damit wir beiden Pi´s wussten, wer gemeint war. Die Pflegerin hatte einen sehr strengen Blick, aber dafür eine sehr weiche und freundliche Stimme. „Kommen Sie bitte mit. Sie haben einen Termin bei der Oberärztin“, sagte sie winkte mich zu sich.

Mir schossen tausend Fragen durch den Kopf, mit denen ich die Pflegerin am liebsten sofort bombardiert hätte. Aber was hörte ich da? Oberärztin? Das hörte sich doch schon einmal sehr gut an. Die Oberärztin konnte mir sicher die ein oder andere Frage beantworten und mir endlich diesen Taxischein besorgen, damit ich nach Hause konnte.

Also zögerte ich keine Sekunde, sprang auf und folgte brav der Pflegerin. Wieder gingen wir durch die ellenlangen Flure und kamen schließlich in einem Raum an, der einem Besprechungsraum ähnelte. Darin waren vier Tische, an denen fünf Ärzte saßen. Drei Männer und zwei Frauen, von daher hatte ich keine Ahnung, wer von den Personen die Oberärztin war.

Wieder bekam ich ein mulmiges Gefühl und wollte diesen Raum erst gar nicht betreten. Es roch nicht gut und die Atmosphäre darin gefiel mir gar nicht. Aber ich musste, für meine Freiheit musste ich über meinen Schatten springen. Langsam kam ich den Ärzten näher, immer an meiner die Pflegerin.

Auf einmal, so schnell konnte ich gar nicht schauen, sprang eine blonde, schmale Ärztin auf und schoss mir entgegen. Ich stoppte sofort und starrte auf die vielen Unterlagen, die sie in der Hand hielt. „Es gibt einen richterlichen Beschluss“, sagte sie sofort. Sie schien sehr unter Zeitdruck zu stehen, denn sie redete sehr schnell und wirkte sehr hektisch. „Sie leiden unter einer Psychose und müssen die nächsten zehn Tage hierbleiben.“

Ihre Worte schlagen wie riesige Hagelkörner auf mich ein. Bitte, was sagt sie da? Schnell schüttelte ich den Kopf und glaubte mich verhört zu haben. „Wie??? Was???“, bekam ich nur heraus und fragte mich, ob es denn noch schlimmer kommen könnte. Was haben diese Leute nur gegen mich? Und was haben sie mit mir vor? Ich will doch nur nach Hause zu meinem Sohn. „Ich … ich habe doch keine Psychose. Was erzählen Sie denn da?“

Die Ärztin verdrehte die Augen und sah mich wütend an. Ich konnte mir vorstellen, dass sie das schon öfter gehört hatte, dennoch konnten sie mich hier nicht einfach als Verrückte abstempeln. Das ging einfach nicht!

„Doch, das haben Sie“, erwiderte sie genervt und barsch. „Es wurde so beschlossen und fertig. Daran können Sie nichts mehr ändern, finden Sie sich damit ab.“ Sie drehte sich von mir weg und ließ mich einfach stehen. „Sie können wieder in ihr Zimmer gehen.“

Ich rührte mich keinen Zentimeter und starrte sie nur an, innerlich verfluchte ich sie. Genauso wie die anderen Ärzte, die mich gar nicht beachteten, sondern nur auf irgendwelche Unterlagen stierten und sich leise unterhielten. Erst als mich die Pflegerin leicht am Arm berührte, kehrte ich wieder ins Hier und jetzt zurück. „Kommen Sie“, sagte sie einfühlsam und führte mich zurück in mein Zimmer, wo ich mich wieder vollkommen neben der Spur auf das Bett setzte.

In den Augen der Pflegerin konnte ich, trotz ihres grantigen Ausdrucks ein bisschen Mitleid mir gegenüber ablesen. Sie blieb noch eine kurze Zeit im Zimmer stehen, als würde sie darauf warten, dass ich noch einen Wunsch äußern wollte. Dabei dachte ich darüber nach, ob hier überhaupt in der Lage war, einen Wunsch auszusprechen.

Verwirrt sah ich mich um und stellte fest, dass meine Zimmergefährtin nicht mehr anwesend war. Was sollte ich jetzt nur tun? Zehn Tage hielt ich es hier auf keinen Fall aus. Durften mich diese Leute eigentlich einfach so hier festhalten? Konnten meine Eltern denn nichts dagegen tun?

Ich hielt kurz die Luft an. Meine Eltern. Das ist es, ich musste irgendwie dringend mit ihnen sprechen. Vielleicht konnten sie mir in irgendeiner Weise helfen. „Kann ich telefonieren?“, fragte ich die Pflegerin und äußerte somit einen Wunsch, der mir sehr am Herzen lag. Ich zwang mich zu einem Lächeln, blickte sie dennoch verzweifelt an. Eigentlich musste ich das gar nicht tun, denn sie wusste genau, dass ich verzweifelt war und gerade nicht wusste, was ich machen sollte.

Die nette Pflegerin drückte die Mundwinkel in ihre Wangen, nickte und deutete mit den Augen nach draußen auf dem Flur. „Ganz hinten, am Ende des Flurs ist ein Telefon. Dort können Sie telefonieren“, sagte sie in einem ruhigen und einfühlsamen Ton.

Wie von einem Blitz getroffen sprang ich auf und verlor keine Zeit. Ich raste regelrecht an ihr vorbei. Wenn sie nicht auf Seite gegangen wäre, hätte ich sie einfach ohne Rücksicht auf Verluste gnadenlos umgerannt. Kaum war ich um die Ecke, eilte ich den Flur entlang, ohne darauf zu achten, wer mir begegnete.

Mein Blick war starr auf das Fenster am Ende des Flurs gerichtet und einen Wimpernschlag später erfasste ich auch schon ein altes rotes Wähltelefon auf einem kleinen Tisch, daneben ein harter Holzstuhl.

Als ich dort ankam, setzte ich mich gleich, nahm den Hörer in die Hand und wählte die Nummer meiner Eltern. Zwar hatten wir in der letzten Zeit kein sehr gutes Verhältnis miteinander, aber sie waren jetzt nun einmal meine erste Anlaufstelle. Mein Atem ging schnell und stoßweise und ich kam mir vor, als wäre ich gerade auf dem Weg zum Gipfel des Mount Everest. Ich war aufgeregt und hatte Angst, auch davor, was meine Eltern sagten.

Nervös tippte ich mit dem Fuß auf den dreckigen Boden und wartete darauf, dass jemand am anderen Ende der Leitung abnahm. Dabei stierte ich auf die abgenutzten Tasten des Telefons und stellte fest, dass diese Ziffern schon sehr viele Leute benutzt haben müssen. Dann endlich hob jemand ab. „Mama?“, sagte ich gleich, ohne zu wissen, wer an der anderen Leitung war. „Ich bin es.“

„Pi?“, hörte ich die erstaunte Stimme meiner Mutter. „Wie geht es dir? Was ist denn passiert?“, wollte sie gleich wissen, obwohl sie sich das vermutlich denken konnte. Nicht umsonst hatten wir in der letzten Zeit immer wieder Streit und Meinungsverschiedenheiten. Sie machte sich überhaupt keine Sorgen um mich, dass konnte ich an jedem ihrer genervten Wörter heraushören, was mich nicht erstaunte. Es wunderte mich auch etwas, dass sie mich fragte, was passiert war, denn ich war mir sicher, dass ihr die Ärzte ausführlich erzählten, warum ich hier war. Aber wenn sie bei meiner Mutter mit einer Psychose ankamen, könnte ich mir vorstellen, dass sie ihnen auf der einen Seite glaubte, aber auf der anderen eben nicht. Meine Mutter hörte sich eigentlich immer zwei Seiten an, aber glaubte dann der, der sie mit ihrer eigenen Wahrnehmung Glauben schenken wollte. In der letzten Zeit stellte sie mich immer mehr als eine Lügnerin dar. Sie interpretierte sehr viel in Dinge hinein und konstruierte so ihre eigene Geschichte, und davon war sie mehr als überzeugt.

„Ist das Pi?“, nahm ich auch meinen Vater im Hintergrund wahr. Auch an seinem Ton hörte ich nicht so viel Sorge und Verwunderung heraus, auch das überraschte mich nicht wirklich. Mein Vater wollte in der letzten Zeit mit meiner Art und Lebensweise nicht viel zu tun haben, trotzdem freute ich mich wenigstens ein kleines bisschen, seine Stimme hören zu können. Auch wenn man mit der Familie nicht immer einer Meinung war, wusste man doch, dass man in schwierigen Lagen immer auf sie zählen konnte. Das hoffte ich zumindest, denn wir warfen uns auch schon Wörter an den Kopf, die nicht erahnen ließen, dass wir eine Familie waren. In diesem Moment hoffte ich jedenfalls, dass meine Eltern mir glaubten und mir halfen, hier so schnell wie möglich wieder herauszukommen.

Einerseits war ich ein wenig erleichtert, als ich ihre Stimmen hörte, aber andererseits wurde mir dadurch auch klar, dass sie mir wahrscheinlich NICHT helfen konnten, sonst wäre ich nicht mehr hier drin. „Ben? Wo ist Ben?“, fragte ich zuerst, bevor ich auf ihre Fragen einging.

„Er ist bei uns. Mach dir keine Sorgen. Es geht ihm gut“, erwiderte meine Mutter und ich hatte das Gefühl, mir würde ein riesiger Felsen vom Herzen fallen. Diese Worte wollte ich hören. Meinem Sohn ging es gut, er war bei meinen Eltern gut aufgehoben. Da war ich mir sicher, obwohl sie schon mehrmals versucht hatten, ihn gegen mich aufzuhetzen. Aber diese Gedanken musste ich jetzt ganz weit nach hinten stellen. „Er hat nach dir gefragt, aber wir haben ihm noch nicht erzählt, wo du bist.“

Ich war den Tränen nahe und konnte sie nur mit viel Mühe und Not zurückhalten, dabei senkte ich den Kopf, damit mich niemand sah. „Ich will nach Hause“, jammerte ich, und ich meinte es sehr erst. Dabei wäre es mir so was von egal gewesen, wenn man mich erst einmal bei meinen Eltern einquartiert hätte. „Ich bin zu Unrecht hier, ich weiß gar nicht, was das alles soll und ich habe keine Ahnung, was ich hier soll. Ich brauche Hilfe.“ Eigentlich war ich kein Mensch, der groß jammerte, aber jetzt im Moment war es mehr als angebracht. „Ich fühle mich nicht wohl hier, es ist dreckig, es riecht nicht gut und die Ärzte und Pfleger sind nicht nett.“ Gut, es gab ein Paar, die in Ordnung waren, aber diese konnte ich an einer Hand abzählen. „Ich will heim, Mama, ich will zu Ben.“ Ich erlaubte mir ein Schniefen, während eine Träne über meine Wange lief. „Die Ärztin sagte mir vorhin, dass sie euch angerufen hat.“

Meine Mutter atmete tief durch und mit etwas Fantasie konnte man meinen, dass sogar ihr das alles sehr nahe ging. Ich wusste es jedoch besser. Ich fühlte, dass Skepsis in der Luft lag und dass sie am liebsten auflegen würde. „Ach Pi“, sagte sie. „Wir wissen nicht, was wir tun sollen oder wie wir dir helfen sollen.“ Ihre Stimme zitterte ein wenig und verriet mir, dass sie wütend auf mich war. „Wir waren da und haben Kleidung und was du sonst noch so brauchen kannst abgegeben. Wir fragten, ob wir dich sehen dürfen, aber sie haben uns nicht zu dir gelassen.“

Das wunderte mich, denn ich habe weder ein Kleidungsstück noch sonst etwas anderes von mir erhalten. „Was passiert hier, Hallo?“, flüsterte ich ins Telefon und erschrak, als plötzlich eine Frau mit struppigem Haar und weißem Nachthemd am Ende des Flures anfing zu schreien. Sie wehrte sich mit Händen und Füßen gegen eine Pflegerin, kratzte und bespuckte sie. Die Pflegerin schimpfte sie und schleifte sie in ein Zimmer, sobald die Tür zu war, hörte man die Frau nur noch dumpf schreien. „Ich gehöre nicht hierher.“

„Pi, wir wollen ehrlich mit dir sein“, sagte meine Mutter und ich zuckte zusammen, als sich ihr Tonfall mit einem Mal änderte, er wurde hart und sehr ernst. „Wir wissen nicht, ob wir dir glauben sollen.“ Da waren sie wieder, meine misstrauischen Eltern, wenn es um mich ging.

Genau vor diesen Worten hatte ich Angst. „Was … was meinst du damit?“, stotterte ich und versuchte nicht die Fassung zu verlieren.

„Dein Vater und ich sind der Meinung, dass es dir vielleicht einmal guttut, wenn du eine Weile in der Klinik bleibst“, verkündete sie. „Du musst deine Therapie machen“ und Besuch darfst du auch keinen empfangen.

Wie bitte, was weiß sie schon? „Habe ich euch das etwa zu verdanken, dass ich hier drin bin?“, wurde ich ungewollt lauter und ich spürte, dass Zorn in mir hochstieg.

„Nein“, erwiderte meine Mutter mit einem vorwurfsvollen Ton. „Das hast du dir selbst zuzuschreiben, Pi. Die Ärzte und Frau Dörte-Droschke vom Jugendamt sagten, dass du eine Therapie machen und dein Leben wieder in den Griff bekommen musst.“ Was die Ärzte sagen“, denke ich mir. Das war ja wieder einmal so klar. Meine Mutter glaubte das natürlich alles, denn für sie waren nun einmal alle Ärzte Götter in Weiß und sie hatten immer recht. Und was die Ärzte sagten, war nun einmal so.

Es war ein schreckliches Gefühl für mich zu wissen, dass meine eigenen Eltern mir nicht glaubten. „Ihr glaubt mir wirklich nicht“, entgegnete ich ihr mit gebrochener Stimme. „Ich bin eure Tochter und brauche eure Hilfe und keine Vorwürfe.“ Wenn man erst einmal in der Klapse war, glaubte einem niemand mehr. Das war für mich das Traurigste an der Sache. Ich war wütend auf mich, weil ich wirklich dachte, dass ich auf ihre Hilfe zählen konnte, aber dem war leider überhaupt nicht so. Sie ließen mich einfach allein und taten nichts. Das Einzige, was ich von ihnen bekam, waren Vorwürfe und ein paar Kleidungsstücke.

Meine Mutter sagte noch etwas zu mir, aber ich hörte ihr schon gar nicht mehr zu. Es war mir alles zu viel. Erleichterung, Angst und pure Hoffnungslosigkeit schossen durch mich hindurch und zwangen mich auf die Knie. Mir wurde klar, dass ich allein nicht mehr freikam. Ich konnte nicht mehr, alles in mir stürzte ein. Ich war mit einer Fehldiagnose gefangen in einer geschlossenen psychiatrischen Drogenentzugsanstalt.

Psychose!

Ich war am Ende, ich konnte nicht mehr, ich wollte nicht mehr. Immer und immer wieder hallte das Wort durch meinen Kopf. Ich stand vor einem Scherbenhaufen und von nun an musste ich um mein Leben und meine Zukunft kämpfen.

*Praying von Tom Grennan

*I can Feel the Pain von Klanglos

Unverpixelt

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