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Kapitel 27

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»Hab keine Angst! Ich tue dir nichts!« Der Mann tauchte unvermittelt vor ihr auf.

Rodica stieß einen leisen Schrei aus und wich zurück. Wieder wanderte sie abseits des Wegs, folgte Wildpfaden, die sich zwischen Felsen, dürren Bäumen und Sträuchern schlängelten. Das deutlich vernehmbare Rauschen des Flusses, der inzwischen breit und reißend war, verhinderte, dass sie die Richtung verlor. Sie war über einige glatte Steine geklettert, als sie plötzlich dem Mann gegenüberstand. Er trug abgewetzte lederne Hosen und ein ledernes Hemd mit Fellbesatz. Seine Füße steckten in schweren Stiefeln. Das Gesicht unter dem hellen Haar war wettergegerbt.

Er hob beschwörend eine Hand, was ein wenig seltsam aussah, da er einen toten Hasen in ihr hielt. Als er das bemerkte, ließ er die Hand rasch sinken. »Wirklich, ich tue dir nichts.«

»Du hast mich erschreckt.« Rodicas Stimme war von der langen Zeit, in der sie mit niemandem gesprochen hatte, heiser geworden. Sie war seit zwei Monden unterwegs.

»Das tut mir leid.« Seine grünen Augen blickten freundlich. »Ich habe dich kommen hören. Meine Fallen stehen hier.«

»Du bist Fallensteller?«

»Ja, mein Name ist Venor.«

»Ich heiße Rodica«, stellte sie sich vor.

»Was machst du hier?« Venor sah auf ihren gerundeten Leib und runzelte die Stirn.

»Ich … ich will ins Niemandsland«, sagte sie lahm.

»Ins Niemandsland?«

»Ja.« Sie holte Luft. »Ich komme aus dem Gebirge. Ich bin geflohen, wegen meines Kindes.«

»Du warst bei … den Vampiren?«

Sie nickte.

»Verstehe«, murmelte er und warf einen unruhigen Blick über die Schulter.

»Oh«, sagte sie eilig, »du musst dir keine Sorgen machen. Meine Verfolger habe ich lange verloren und allen anderen bin ich aus dem Weg gegangen, Menschen wie Vampiren.«

Seine Anspannung schien zu verfliegen. »Sind dir denn Menschen begegnet?«

»Ja, ein Mann und eine Frau gleich nach meiner Flucht. Und dann noch zwei größere Gruppen. Aber ich habe mich jedes Mal vor ihnen versteckt.«

»Das war klug. Viele dieser Menschen sind verzweifelt. Man weiß nie, was sie machen werden. Ich gehe ihnen meist aus dem Weg.« Er sah wieder auf ihren Leib. »Bei dir war ich mir sicher, dass du mich nicht überfallen wirst.«

Rodica kicherte. Die Vorstellung, dass sie in ihrem Zustand diesen sehnigen Mann überfiel, war komisch.

Venor grinste und hob den Hasen wieder. »Magst du mit zu meiner Lagerstelle kommen? Ich brate uns etwas Fleisch.«

Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, doch sie zögerte.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Venor rasch. »Ich habe eine Tochter in deinem Alter. Und einen Enkelsohn. Der ist jetzt zwei Winter alt.«

Sie fasste sich ein Herz. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass Venor ein guter Mann war. »Ich komme gerne mit. Aber ich will mich nicht zu weit vom Fluss entfernen.«

»Ah, du wanderst am Fluss entlang.« Er nickte und bedeutete ihr, ihm zu folgen. »Da musst du aufpassen. Alle, Menschen und Vampire, nutzen den Weg am Fluss, um ins Gebirge zu gelangen oder es zu verlassen.«

»Ich weiß. Aber ich kenne sonst keinen Weg aus den Bergen.«

»Ich bringe dich wieder an die Stelle, wo wir uns getroffen haben«, versprach er. »Es gibt andere Wege, aber wenn man sich nicht auskennt, verirrt man sich unweigerlich. Ich selbst gehe hinauf in die Berge, sonst würde ich dich mitnehmen.«

»Kommst du aus dem Niemandsland?«, fragte sie neugierig.

»Nein. Ich komme aus einer der Städte, die weit nördlich des Gebirges liegen, aus Quadin. Ich bin auf dem Weg dahin zurück.«

»Wieso bist du hier? Ich meine, es ist doch gefährlich, gerade wegen der Vampire.«

Er zuckte mit den Schultern. »Die Städter zahlen gut für Felle und Fleisch der Wildtiere. Mein Vater musste für das, was ich für einen einzigen Jagdzug bekomme, fast einen ganzen Winter arbeiten.« Er sah sie von der Seite an. »Warst du eine … Sklavin?«

»Ja. Aber als ich merkte, dass ich guter Hoffnung war ‒.« Sie wusste instinktiv, dass sie ihm nicht sagen konnte, was hinter ihrer Flucht steckte.

»Wolltest du nicht, dass dein Kind als Sklave aufwächst.« Er nickte. »Das kann ich verstehen. Wir sind da.« Sie berichtigte ihn nicht, denn er schien mit dieser Erklärung zufrieden zu sein.

Venors Lagerplatz lag versteckt zwischen hohen Felsen. Man erreichte ihn über einen schmalen Durchgang, der von einem Strauch mit roten Blüten verdeckt wurde. Ein Esel war an einem Baum angebunden und begrüßte sie mit einem Schnauben. Unter einem Felsüberhang hatte sich der Fallensteller einen Schlafplatz eingerichtet und die Felle der von ihm erjagten Tiere säuberlich aufgestapelt. Ein über einen Holzrahmen gespanntes Fuchsfell harrte seiner weiteren Bearbeitung. In einer Grube brannte ein Feuer. Daneben lagen ein Rost und Geschirr aus Blech, Becher, Teller und ein kleiner Topf. Sträucher, die aus Felsspalten über ihnen wuchsen, schirmten die Lagerstelle zum Himmel ab.

»Hast du keine Angst, dass der Rauch des Feuers dich verrät?«, fragte sie, als er einen Zweig nachlegte und sie bat, sich niederzulassen. Auch wenn es warm war, tat es gut, nach so langer Zeit die Hitze von Flammen zu spüren.

Venor schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn man dünnes trockenes Holz nimmt, entsteht kaum Rauch. Der Geruch des brennenden Holzes ist gefährlicher, aber da die meisten Reisenden direkt am Fluss unterwegs sind, bekommen sie den nicht mit.« Er grinste. »Nicht jeder klettert wie du durch diese Felsenwüste.«

»Nun, ich bin durchaus ab und zu am Fluss, damit ich meinen Lederschlauch auffüllen und einen Fisch fangen kann.« Ihre Vorräte waren längst aufgebraucht und so hatte sie begonnen zu angeln. Der mit einem Stein geschärfte und gebogene Dorn ihrer Umhangschnalle diente als Angelhaken und hing an einem Wollfaden, den sie aus ihrem Rock gezogen hatte. Die Fische nahm sie mit dem Messer aus und schnitt sie in schmale Streifen, die sie an einem dünnen Ast im Bergwind trocknete. Außerdem waren inzwischen alle möglichen Beerensorten reif. Erst einen Tag zuvor hatte sie süße Walderdbeeren gefunden.

Venor ließ den Hasen ausbluten und zog ihm mit geschickten Bewegungen das Fell ab, bevor er die Bauchhöhle öffnete und sie ausnahm. Das Fleisch rieb er mit Salz und Gewürzen ein und legte es auf den Rost, den er über das Feuer hängte. Innerhalb kürzester Zeit zog ein appetitanregender Bratenduft über den Lagerplatz.

Der Fallensteller grinste, als Rodica genüsslich die Luft durch die Nase einsog. »Fleisch braten darf man auch nur, wenn niemand in der Nähe ist. Der Geruch nach Braten ist schlimmer als Rauchgeruch.«

Sie lachte. »Das ist der Grund, warum ich meinen Fisch trockne und nicht brate. Ich habe zwar Zunder dabei, aber zu viel Angst, dass der Feuerschein und der Geruch jemanden auf meine Fährte lockt.«

»Das ist vernünftig.« Venor nickte beifällig. »Ich gebe dir nachher ein wenig von meinen Räucherfleischvorräten mit, ich habe genug. Ist zwar nicht dasselbe wie ein guter Braten, aber immerhin.«

»Das würdest du tun? Danke, Venor!«

»Ceridwen, meine Frau, würde es mir nie verzeihen, wenn ich einer Frau, die guter Hoffnung ist, nicht helfe.« Venor drehte die Fleischstücke auf dem Rost um. »Wohin willst du eigentlich?«

Rodica seufzte. Sie musste ihn anlügen, denn sie konnte nicht sagen, wie er reagieren würde, wüsste er, dass der Vater ihres ungeborenen Kindes ein Vampir war und sie zu den Ewigen wollte. Vielleicht hassten die Menschen die Ewigen genauso, wie es die Vampire taten. Sie erinnerte sich an den Mann und die Frau zu Beginn ihrer Reise. »Ich suche einen Weiler. Dort leben Verwandte. Der Weiler soll dort liegen, wo der Fluss in die westlichen Grasländer fließt.«

»Hm«, machte Venor. »Es gibt ein paar Weiler dort. Weißt du mehr über diesen speziellen Weiler?«

»Mir wurde gesagt, dass eine Art … Kloster in der Nähe ist«, sagte Rodica, immer noch zögerlich, das Wort ›Ewige‹ auszusprechen.

»Kloster? Also, ein Kloster gibt es da nicht.« Er runzelte die Stirn. »Vielleicht meinte derjenige, mit dem du gesprochen hast, den Bund der Ewigen?«

Rodicas Herz begann, aufgeregt zu klopfen. »Er sagte etwas von einem Bund, ja. Ich dachte, das sei ein Orden, mit einem Kloster.«

»Nicht direkt, obwohl die Ewigen angeblich leben wie im Kloster. Ich bin eine ganze Reihe von Wintern nicht mehr in der Gegend am Fluss gewesen. Wenn sich nichts geändert hat, dann musst du dich, wenn du die Berge verlässt, entlang des südlichsten Arms des Flusses weiterbewegen. Das Haus der Ewigen befindet sich eine Tagesreise vor dem Weiler, auf einer Anhöhe über dem Fluss. Der Weiler liegt an einigen Stromschnellen. Falls er noch da ist.«

»Falls er noch da ist?«, wiederholte sie verwirrt.

»Ja, die Überfälle der Vampire sind über die letzten Winter erheblich mehr geworden. Die Menschen verlassen ihre Weiler und ziehen entweder in die Städte oder bilden wandernde Siedlungen.«

»Was sind ›wandernde Siedlungen‹?« Der Mann und die Frau hatten diesen Begriff ebenfalls benutzt.

»Siedlungsstellen, die nur für kurze Zeit bestehen. Die Siedler bleiben lange genug, um die Ernte einzubringen und zu überwintern. Dann ziehen sie weiter. Das macht es den Vampiren schwer, sie aufzuspüren. Und wenn man sich nah an die Grasländer hält, dann hat man fast nichts zu befürchten, da die Vampire sich dort nicht vor der Sonne schützen können.«

Sie schwiegen eine ganze Weile, bis Venor das Fleisch vom Rost nahm und ein großes Stück abschnitt, das er ihr auf einem Blechteller reichte. »Hier, iss.«

Der Hasenbraten war köstlich. Der Fallensteller schmunzelte, als sie entzückt die Augen verdrehte. »Ich werde Ceridwen erzählen, wie es dir geschmeckt hat. Sie behauptet immer, dass ich das Fleisch zu lange brate.«

»Es ist genau richtig.« Rodica nahm einen weiteren Bissen. »Wie lange, glaubst du, ist es noch von hier bis zu dem Weiler?«

»Nun, ich würde sagen, da du den Weg meidest, wirst du ein wenig länger als die zehn Tagesmärsche, die es normal dauern würde, benötigen. Vielleicht fünfzehn Tagesmärsche?« Er schwieg einen Augenblick, dann fragte er: »Was machst du, falls es den Weiler nicht mehr gibt?«

Rodica konnte ihm nicht sagen, dass ihr der Weiler gleich war. »Er muss einfach noch da sein«, sagte sie.

»Nun, es gibt ein kleines Dorf zwei Tagesmärsche südlich von dem Weiler. Falls alle Stricke reißen.«

»Ich hoffe, dass es dazu nicht kommt. Aber alles ist besser, als im Gebirge zu sein.«

»Da hast du recht!« Während er sprach, schnitt Venor sich sein Fleisch in mundgerechte Stücke. »Als Sklave zu leben, kann ich mir nicht vorstellen! War das schlimm?«

Sie dachte nach, bevor sie antwortete. »Nun, die meisten der Vampire haben mich gut behandelt. Ich … ich bin nur an einen Vampir … eine Vampirin geraten, die grausam war.« Sie zeigte ihm ihr vernarbtes Handgelenk.

Venor zischte einen Fluch. »Kein Wunder, dass du dein Kind da nicht bekommen wolltest.«

Rodica nickte langsam. »Ja. Wie gesagt, die meisten haben uns gut behandelt. Wir hatten ein Dach über dem Kopf und reichlich zu essen. Aber wir waren nicht frei.« Es war Maksim, der aus ihr sprach. Beinahe hätte sie zärtlich gelächelt. Es verging nicht ein Tag ihrer Reise, an dem sie nicht an ihn dachte. Ihn vermisste. »Ich habe mir die Menschen, denen ich begegnet bin, aus der Ferne angesehen. Sie sahen schlecht aus, litten Hunger. Einem Paar waren die Vorräte ausgegangen. Manchmal habe ich mich gefragt, ob die so viel besser dran sind als Sklaven.«

»Möglicherweise nicht. Die Menschen aus dem Niemandsland, die versuchen, über das Gebirge in die nördlichen Städte zu gelangen, sind meist verzweifelt. Ich glaube, viele überleben die Wanderung nicht. Nicht unbedingt wegen der Vampire, sondern weil sie verhungern.«

»Aber wieso gehen sie nicht in die blaue Stadt? Da müssen sie das Gebirge nicht überqueren. In den Grasländern gibt es keine Vampire.«

»Nein, das nicht. Aber es gibt Wegelagerer. Und man muss sich auskennen. Es gibt Sümpfe. Und wenn man die gemeistert hat, muss man wissen, wie man sich auf den riesigen Ebenen, die überall gleich aussehen, orientiert. Das können viele nicht. Es ist einfacher, das Gebirge zu queren. Man folgt dem Fluss bis zu seiner Quelle und geht von dort strikt nach Norden. Es gibt da einen Gipfel, der aussieht wie ein Bärenkopf, zu dem muss man gelangen. Jenseits dieses Gipfels beginnt der Abstieg in die nördlichen Grasländer. Die Wege sind ausgetreten und einfach zu erkennen. Natürlich gibt es Wegelagerer, aber viele denken, dass es einfacher ist. Vor allen Dingen, wenn man bei Tage reist und sich des Nachts vor den Vampiren versteckt.«

»Ich habe dieses Paar, dem die Vorräte ausgegangen sind, belauscht. Die haben genau das getan. Aber sie hatten den Fluss verloren und von dem, was sie sagten, schien es, als versteckten sie sich ausgerechnet in Höhlen vor Vampiren.«

Venor schnaubte abfällig. »Es würde mich nicht wundern, wenn die inzwischen versklavt sind.«

»Sind sie«, sagte Rodica düster. »Nachdem ich sie belauscht hatte, sind sie weitermarschiert. Es war schon Nacht und sie haben sich laut gestritten. Dann habe ich Pferde und Männerstimmen gehört. Die Frau hat laut geschrien.« Sie schüttelte sich bei der Erinnerung an jene Nacht. »Ich nehme an, sie haben sie mitgenommen.«

»Sich nachts im Stammesgebiet laut zu streiten, ist an Dummheit nicht zu überbieten.« Venor reichte ihr noch ein Stück Fleisch. »Hier, nimm. Ich habe reichlich.«

»Danke. Es ist eine Fügung der Götter, dass ich dir begegnet bin!«

»Es klingt danach, dass du auch ohne mich gut zurechtkommst. Wenn du magst, dann übernachte hier.«

»Das Angebot nehme ich gerne an. Lass mich dir als Gegenleistung einen Tee aus den Kräutern kochen, die hier wachsen. Er wird dir schmecken.«

Rodica verließ Venors Lager am nächsten Morgen. Der Fallensteller beschrieb ihr den Weg zu dem Weiler, den sie vorgeblich zum Ziel hatte, und die Lage des Hauses der Ewigen. Dann verabschiedeten sie sich herzlich. Trotz der anstrengenden Kletterei über die Felsen war sie guten Mutes. Sie hatte einen ordentlichen Vorrat an Räucherfleisch dabei. Es waren nur noch etwa fünfzehn Tagesmärsche bis zu den Ewigen.

Die Felsenlandschaft fand ein Ende, als die Bäume höher und die Felsbrocken seltener wurden. Wieder nutzte sie Wildpfade, die Venor ihr genannt hatte, und umging den Weg am Fluss. Als der Fluss sich einige Tage später in mehrere Arme teilte, war sie froh, dass sie sich schon im Gebirge auf die südliche Seite des Stromes begeben hatte. Sie hätte ihn hier nicht mehr überqueren können, da er zu breit geworden war. Umzukehren und nach einer Furt zu suchen, hätte wertvolle Zeit gekostet und sie zurück ins Stammesgebiet gebracht. Jetzt war es ein Einfaches, dem südlichsten Flussarm zu folgen. Einen Weg gab es zwar nicht, aber der Wald war licht, sodass sie schnell vorankam.

Als sie eines späten Morgens eine Flussbiegung hinter sich gebracht hatte, sah sie eine bewaldete Anhöhe. Da oben musste das Haus der Ewigen liegen! Sie würde es nicht sehen können, hatte Venor gesagt, weil es zwischen Bäumen versteckt lag, aber seine Beschreibung passte auf den Hügel.

Rodica rannte fast, musste dann aber langsamer gehen, weil sie durch das Kind zu schwerfällig geworden war. Es war gut, dass ihre Wanderung ein Ende fand. Das Wissen, dass sie sich dem Ziel, der Rettung, näherte, hatte ihr Auftrieb gegeben, aber in den letzten Tagen spürte sie immer häufiger, wie ihre Kraft nachließ und ihr das Laufen schwerer fiel als noch vor einem Mond.

Sie keuchte, als sie unter Bäumen den Hügel hinauflief. Obstbäume, wie sie erkannte, an denen erste grüne Früchte hingen, Äpfel, Birnen, Pflaumen. Dann ein verwilderter Garten. Und endlich stand sie vor einer Mauer. Sie legte die Hand auf die Steine und hätte vor Erleichterung beinahe geweint. Sie war angekommen!

Um das Tor zu finden, wanderte sie an der Mauer entlang. Bis auf den Gesang der Vögel war es still. Sie hätte das Wiehern von Pferden, Hundegebell und das Meckern von Ziegen erwartet. Rufe, Gelächter.

Sie kam zum Torbogen. Ein Tor gab es nicht. Zwischen den Steinen des Weges, der durch den Bogen lief, wuchsen Gras und Wildblumen. Das Kopfsteinpflaster des Hofs war überwachsen, die Fachwerkhäuser, die von der Mauer geschützt wurden, Ruinen mit eingefallenen Strohdächern und windschief dastehenden Balken, die in den von Federwolken bedeckten Himmel ragten. Krähen flogen laut krächzend von der Mauer, dem einzig nicht zerstörten Bauwerk, auf.

Sie stand erst nur da, hatte Schwierigkeiten zu erfassen, was sie sah.

Das Haus des Bundes der Ewigen war eine Ruine. Sie ging langsam, schwerfällig, zu den Häusern, trat in eines ein. Wasser stand auf dem steinernen Boden und an einem Fenster wuchs eine Schlingpflanze hinein. Möbel gab es keine, selbst alte, zerbrochene nicht. Hinten im Haus fand sie einen steinernen Herd, in dem lange kein Feuer mehr gebrannt hatte. Wie betäubt ging sie in das nächste Gebäude, das einmal eine Halle gewesen war und jetzt nur noch aus Außenwänden bestand. Das Strohdach hatte sich auf dem Boden verteilt und Gräser wuchsen aus ihm. Die Stallungen und Schuppen waren zerstört, genau wie eine Hütte, von der eine gemauerte rußgeschwärzte Feuerstelle vermuten ließ, dass sie eine Schmiede gewesen war. Alles leer. Ihre Beine gaben nach und sie sank auf die Feuerstelle. Die Ewigen waren fort.

Sie blieb über Nacht in den Ruinen. Hier unterzuschlüpfen erschien ihr genauso richtig oder falsch, wie sich einen Baum zum Übernachten zu suchen. Venor hatte gesagt, dass es in dieser Gegend kaum Vampire gab. Und selbst wenn. Es war ihr gleich. All die Zeit, seit sie von ihrem Kind wusste, bis zu ihrer Ankunft in den Ruinen, hatte sie das Haus des Bundes der Ewigen als Rettung vor Augen gehabt. Hatte gedacht, dass ihr Kind und sie hier Schutz fanden. Jetzt sah es aus, als ob sie in der Wildnis niederkommen würde und keinen Ort hatte, wo sie den Winter verbringen konnte, geschweige denn in der Lage war, sich Vorräte anzulegen. Sie hatte ihr Kind schützen wollen und nun war es genauso in Gefahr zu sterben wie auf D’Aryun. Was sollte sie machen?

Einen wilden Augenblick lang stellte sie sich vor zu bleiben. Es gab Obstbäume und den verwilderten Garten. Sie konnte Gemüse anbauen und ernten. Fallen stellen. Vorräte anlegen.

Sie lachte laut auf. Es war Sommer. Der Garten war nicht bestellt worden. Falls dort Gemüse wuchs, wäre das reiner Zufall. Ob es für einen Winter reichte, war fraglich. Obst war genug da. Die Bäume trugen reichlich. Aber sie würde die Arbeiten allein machen müssen. Das Laufen war schon jetzt beschwerlich, von Unkraut ausrupfen oder Äpfel ernten konnte nicht die Rede sein. In einem Mond würde sie sich kaum noch bewegen können und kurz vor der Niederkunft stehen. Dann all dies allein und mit einem gerade geborenen Kind bewältigen? Vielleicht.

Aber wer wusste schon, ob nicht Fremde hierherkamen. Venor kannte das Haus der Ewigen. Andere würden es ebenfalls kennen. Nicht alle würden so freundlich sein wie der Fallensteller. Sie und ihr Kind wären diesen Leuten ausgeliefert. Nein, schon allein deswegen konnte sie nicht hierbleiben. Es war zu gefährlich.

Was dann?

Den Weiler, einen Tagesmarsch von hier, aufsuchen?

Oder das Dorf, zwei Tagesmärsche südlich davon?

Ihr würde nichts anderes übrig bleiben.

Unvergängliches Blut - Sammelband

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