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Kapitel 28

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Am nächsten Tag machte sie sich auf. Sie wollte es in dem Weiler versuchen, bevor sie sich in Richtung des Dorfes wandte. An einem der Orte musste es einfach möglich sein zu bleiben!

Sie folgte einem Pfad, der am Fluss entlanglief. Wie immer hielt sie nach Reisenden Ausschau, tat dies aber mit weniger Überzeugung als noch in den Bergen. Sie würde dies alles allein kaum durchstehen können und Fremden Vertrauen schenken müssen. Wie den Menschen in dem Weiler. So, wie sie darauf vertraut hatte, dass die Ewigen ihr helfen würden.

Sie seufzte. Wenigstens war es angenehm, auf dem Pfad zu laufen. Es gab keine Felsen, die es zu überwinden galt, und keine Steigungen, die wertvolle Kraft kosteten. Trotzdem spürte sie die Schwere des Kindes in sich, mehr als sie dies noch am Tag zuvor getan hatte.

Bald wichen die Bäume zurück und hohe Gräser rückten dicht an den Pfad, bildeten einen grünen Tunnel über ihrem Kopf, wenn sie sich im Wind bewegten. Rodica wurde unruhig, denn sie konnte nicht sehen, ob ihr jemand entgegenkam oder folgte. Doch sie blieb weiterhin allein.

Als der Tag sich dem Ende zuneigte, war sie immer noch von Gräsern umgeben. Von dem Weiler war nichts zu sehen, doch da sie wegen ihres geschwollenen Leibs recht langsam ging, nahm sie an, dass sie ihn am Folgetag erreichen würde. Sie bahnte sich einen Weg in die Gräser und breitete den Umhang auf der Erde aus. Zum ersten Mal würde sie schutzlos übernachten, ohne Felsen oder ein dorniges Dickicht um sich oder geborgen in der Krone eines Baumes. Sie konnte nicht die Kraft aufbringen, sich noch weiter vom Pfad zu entfernen. Sie war zu müde.

Erschöpft sank sie nieder, schloss die Augen und lauschte aus alter Gewohnheit den Lauten des Abends, Vögeln, dem Rascheln der Gräser, einem Plätschern im Fluss, wo ein Fisch die Wasseroberfläche durchbrach, um sich eine Fliege zu schnappen, Stimmen.

Sie zuckte zusammen. Der Wind trug Stimmen zu ihr. Sie war wohl doch schon an dem Weiler angelangt! Mühsam rappelte sie sich auf, nahm den Umhang und ging zum Pfad zurück. Das waren ganz bestimmt Stimmen.

Langsam ging sie weiter. Die Stimmen wurden lauter.

An der nächsten Biegung des Weges stieß sie beinahe mit den beiden Fremden zusammen, blieb genau wie sie stehen. Die Frau hatte Falten im sonnengebräunten Gesicht und schwarze von grauen Strähnen durchzogene Haare, die zu einem unordentlichen Knoten gebunden waren. Der Mann, vielleicht sieben oder acht Winter älter als Rodica, trug seine dunklen Haare lang. Beide waren bekleidet mit Hosen und Hemden aus Wolle und trugen Reisebündel auf dem Rücken. Ihre Hände lagen an den Knäufen der kurzen Schwerter, die in ihren Ledergürteln steckten, bereit, die Waffen zu ziehen.

»Sei gegrüßt«, sagte die Frau schließlich.

»Sei gegrüßt«, erwiderte Rodica leise.

Der junge Mann senkte leicht den Kopf.

»Bist du allein unterwegs?«, fragte die Frau.

Rodica nickte.

Die Frau starrte sie kurz an. Dann sagte sie: »Ich heiße Khatuna. Das ist mein Junge, Olwenus.«

»Ich bin Rodica.«

»Wohin willst du, Rodica?«

»Ich … ich will zu dem Weiler, der hier in der Nähe liegt. Kommt ihr von dort?«

»Der Weiler unten an den Stromschnellen?« Der junge Mann, Olwenus, runzelte die Stirn. »Der ist doch nur noch eine Wüstung. Die Bewohner sind schon vor einigen Wintern weggegangen.«

Das durfte nicht wahr sein! »Sie … sind fort?«

»Ja.« Khatuna musterte sie scharf. »Wusstest du das nicht? Woher kommst du?«

»Aus … aus den Bergen.« Rodica nahm einen tiefen Atemzug, um vor den beiden Fremden nicht in Tränen auszubrechen.

»Aus den Bergen? Bist du vor den Vampiren geflohen?«

Rodica nickte schwach.

»Hm«, machte Khatuna. »Und wo ist der Vater deines Kindes?«

»Er … er war ein Soldat«, antwortete Rodica ausweichend. Genauso wenig wie sie Venor die Wahrheit hatte sagen können, konnte sie diese beiden wissen lassen, dass der Vater ihres Kindes ein Vampir war. Maksim war ein Krieger, insofern log sie nicht, wenn sie von einem Soldaten sprach, selbst wenn sie mit dem Wort ›war‹ den Eindruck erweckte, dass es ihn nicht mehr gab.

»Wo war er Soldat? In einer der Städte?«

Rodica wurde es unheimlich zumute. Ihr Lügengerüst wurde mit jeder Antwort komplizierter. »In Insan«, sagte sie, sich an den Namen erinnernd, den der Mann und die Frau im Gebirge genannt hatten.

»Dann hast du die Berge durchquert?«, mischte Olwenus sich ein.

»Ja.«

»Und du bist tatsächlich den Vampiren entgangen?«, fragte Khatuna misstrauisch.

Rodica ließ den Kopf hängen. Khatuna würde ihr nicht glauben, falls sie dies bejahte. Also griff sie zu der Version der Geschichte, die sie Venor erzählt hatte. »Das habe ich versucht. Ich … ich bin ganz allein. Aber ich habe einen Onkel und eine Tante, von denen es hieß, sie lebten in diesem Weiler. Zu denen wollte ich. Dann haben mich Vampire aufgegriffen. Als ich kurz darauf feststellte, dass ich guter Hoffnung war, bin ich geflohen. Ich … ich wollte nicht, dass mein Kind versklavt wird.«

»Hm«, machte Khatuna wieder. »Wie hast du das geschafft?«

»Ich war zur Feldarbeit eingeteilt.« Was diesen Teil anging, konnte sie die Wahrheit sagen. »Wir wurden gut bewacht, aber ich habe einen Wolkenbruch ausgenutzt. Es war dunkel und durch den Regen sah man die Hand vor Augen nicht. Ich bin in einem Bach gewatet, damit die Hunde meine Spur verlieren, und bin dann auf einen Baum geklettert, habe dort den Rest der Nacht verbracht. Sie sind mir nahe gekommen, aber haben mich nicht gefunden. In der folgenden Nacht habe ich sie noch einmal von Weitem gehört, dann nicht mehr.«

Khatuna nickte langsam. »Einen Fehler, den viele Sklaven auf der Flucht begehen, ist, schnell so weit wie möglich kommen zu wollen. Wir haben auf unseren Streifzügen einmal jemanden getroffen, der es ähnlich wie du gemacht hat. Auch er hat sich in der Höhle des Löwen versteckt, einem Heuschober auf dem Land der Vampirfamilie, die ihn versklavt hatte, bevor er weiter floh. Damit rechnen die Vampire in der Regel nicht.« Sie kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Also hast du jetzt, wo die Menschen den Weiler unten am Fluss verlassen haben, niemanden mehr?«

»Überall sind nur Ruinen!«, brach es aus Rodica heraus. »Ganz gleich, wohin ich mich wende, es gibt keine Menschen mehr. Nur Ruinen!« Entsetzt bemerkte sie, wie ihr die Tränen hinunterliefen.

»Ja, viele Dörfer sind verlassen, seit die Vampire ihre Überfälle verstärkt haben«, sagte Khatuna. »Hier in der Gegend wirst du keine mehr finden.«

»Aber woher kommt ihr dann?«

Khatunas Blick wurde wachsam. »Wir sind Fährtensucher. Aus einer wandernden Siedlung.«

Dumpf erinnerte sich Rodica an Venors Erklärung. Diese Menschen zogen umher, um den Vampiren zu entgehen. »Und was sucht ihr hier, wenn es doch keine Weiler mehr gibt?«

»Spuren von Vampiren. Wir müssen unsere Leute warnen, falls sie uns zu nahe kommen.«

»Die letzten Vampire habe ich vor ungefähr anderthalb Monden gesehen, im Gebirge«, sagte Rodica und wischte sich die Tränen weg. »Sie waren auf dem Weg ins Niemandsland.«

Khatuna und Olwenus tauschten einen raschen Blick. »Weißt du vielleicht, wo sie im Niemandsland hinwollten?«, fragte Olwenus.

Rodica krauste die Stirn. »Nein. Aber sie nannten eine Höhle, die Jasa … Yara …«

»Yarasa-Höhle?«

»Ja, genau die. Und sagten dann etwas von sieben oder acht Tagesritten, die sie von da aus ins Niemandsland benötigten.«

Auf den Gesichtern der Fährtensucher spiegelte sich Erleichterung. »Die Yarasa-Höhle liegt nördlich des Qanaxini-Flusses«, erklärte Khatuna. »Wenn die Vampire von da aus ins Niemandsland gezogen sind, müssen sie sich nach Norden gewandt haben. Aber es ist gut zu wissen, dass Vampire unterwegs sind. Vielen Dank, dass du uns auf sie hingewiesen hast.«

Rodica lächelte schüchtern. »Nun ja, danach habe ich lange Zeit niemanden mehr gesehen. Erst vor einigen Tagen bin ich einem Fallensteller aus Quadin begegnet.«

»Ach, ein Fallensteller aus Quadin? Wie hieß er?«

»Venor. Er zog in die Berge hinauf, zurück nach Quadin.«

Ein plötzliches Lächeln erhellte Khatunas Gesicht. »Venor! Er ist ein guter Mann. Wir treffen ihn ab und zu auf unseren Streifzügen.«

Ein Schrecken durchfuhr Rodica. Sie konnte nur hoffen, dass, falls Khatuna Venor wieder einmal sehen sollte, sich die beiden nicht in allen Einzelheiten über sie austauschten. Venor wusste nichts von einem Soldaten in Insan oder dass sie vorgeblich aus der Stadt kam. Es tat ihr leid, ihn belogen zu haben und auch diesen beiden nicht die Wahrheit sagen zu können, aber es blieb ihr nichts anderes übrig. »Das ist er«, sagte sie.

»Wo hast du ihn getroffen?«

»In einer Felsenwüste, einige Tagesmärsche, bevor der Fluss das Gebirge verlässt.«

»Da stellt Venor gerne Fallen auf. Die Vampire reisen in der Regel am Fluss und kommen selten da rauf«, sagte Khatuna.

»Das stimmt. Ich bin zwar dem Fluss gefolgt, habe mich aber stets abseits gehalten, um den Vampiren zu entgehen.«

»Dann wirst du lang unterwegs gewesen sein«, warf Olwenus ein. »Man reist so zwar sicherer, aber auch langsamer.«

»Ja, ich bin jetzt zweieinhalb Monde lang gewandert.«

Olwenus pfiff anerkennend durch die Zähne. »Wie hast du dich versorgt? Hattest du Proviant?«

»Vor meiner Flucht hatte ich einen Vorrat angelegt. Als der zur Neige ging, habe ich geangelt und mich von Beeren ernährt. Venor hat mir noch Räucherfleisch gegeben.« Sie lächelte wehmütig. Die Begegnung mit dem Fallensteller schien weit zurückzuliegen, dabei waren es nur wenige Tage. »Und ich habe ihm Kräuter für einen Tee gezeigt, der ihm schmeckte.«

Khatuna warf ihrem Sohn einen Blick zu. Der zuckte mit den Achseln. »Wenn du möchtest, dann kannst du dich uns anschließen. Wir sind auf dem Weg zurück zu unserer Siedlung. Du könntest mit den Ältesten sprechen und sie fragen, ob du bei uns bleiben kannst. Die Entscheidung darüber liegt natürlich bei ihnen. Aber ich möchte dich in deinem Zustand ungern hier zurücklassen.«

Ungläubig starrte Rodica die Fährtensucherin an. Sie konnte vielleicht in der wandernden Siedlung bleiben? »Das … das würdet ihr wirklich tun?«

»Du scheinst eine vernünftige junge Frau zu sein, die mit dem harten Leben im Niemandsland zurechtkommen wird, da bin ich mir sicher. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du für die Siedlung eine Belastung sein wirst.«

Sie war – fast – gerettet! Doch Rodica schluckte, denn ihr schlechtes Gewissen meldete sich zurück. Sie hatte Khatuna und Olwenus angelogen. Aber sie rief sich zur Ordnung. Ja, falls man ihr gestattete zu bleiben, dann würde sie in der Siedlung kräftig mit anpacken und ihr Kind später auch. Man sah Ewigen nicht an, dass sie von Vampiren abstammten. Ihr Kind wäre ein Kind wie jedes andere. Sie hätte alle Zeit der Welt, sich etwas anderes zu überlegen, wenn es erst geboren war. »Ich komme gerne mit«, sagte sie leise. »Und danke euch aus ganzem Herzen.«

Der Marsch zur wandernden Siedlung dauerte vier Tage. Das Land war nur leicht hügelig und so konnte Rodica trotz ihrer Schwerfälligkeit gut mithalten, denn die Fährtensucher legten ein strammes Tempo vor. Noch an demselben Abend gingen sie den Pfad, den Rodica den Fluss hinuntergekommen war, hoch und verbrachten die Nacht auf einer versteckten Lichtung zwischen Haselbäumen. Am nächsten Tag kamen sie an dem Hügel vorbei, auf dem die Ruinen des Hauses der Ewigen lagen. Rodica erwähnte, dass sie dort übernachtet hatte.

Olwenus verzog das Gesicht und spuckte auf die Erde. »Bastarde von Blutsaugern! Den Göttern sei Dank sind sie nicht mehr da!«

»Blödsinn!«, fuhr Khatuna ihren Sohn an. »Die Ewigen haben den Menschen immer gegen die Vampire beigestanden!«

»Ich habe gehört, dass sie die Menschen an die Vampire verraten!«

»Das ist Unsinn. Vampire jagen Ewige genauso, wie sie Menschen jagen.«

Olwenus knurrte noch etwas, wagte es aber nicht, seiner Mutter zu widersprechen. Rodica, die die Auseinandersetzung schweigend verfolgt hatte, fühlte sich bestätigt, dass sie über den Vater ihres Kindes gelogen hatte. Es gab Menschen, die die Ewigen hassten. Einen fürchterlichen Moment stellte sie sich vor, dass ihr Kind irgendein Kennzeichen haben würde, das es als Ewigen brandmarkte. Doch nein, beruhigte sie sich, die Ewigen sahen wie Menschen aus, nur ihr Blut war giftig für Vampire. Ihr Kind würde in der Siedlung nicht auffallen.

Kurze Zeit später verließen sie den Pfad am Fluss. Zu ihrer Linken wurde der bisher lichte Wald zu einem undurchdringlichen Dickicht aus hohen Bäumen, die dicht mit Lianen und Moosen bewachsen waren. Zu ihrer Rechten lagen die Grasländer, die aussahen wie in Rodicas frühesten Erinnerungen, der Wanderung mit ihren Eltern, kurz bevor sie starben: Ebenen mit hohen Gräsern, über die der Wind fegte.

Nachdem sie den Rändern der Urwälder weitere drei Tage gefolgt waren, bogen sie eines Nachmittags in den Wald ab. Ein kaum sichtbarer Pfad schlängelte sich durch das Dickicht und öffnete sich unvermittelt auf eine weitläufige Lichtung, auf der rings um einen kleinen Weiher eine Vielzahl von runden Hütten errichtet worden war. Sie bestanden aus geflochtenen Schilfmatten. Die Eingänge waren mit Fellen verhangen und vor einigen Hütten hatte man Beete angelegt. Am anderen Ende der Lichtung gab es einen Zaun, hinter dem Pferde, Ziegen und Schafe weideten.

Rodica blieb stehen. Sie hatte lange nicht mehr so viele Menschen gesehen. Ein paar Alte, die die Köpfe vor einer der Hütten zusammensteckten. Spielende Kinder. Männer und Frauen, die von einem Feld zu kommen schienen, Hacken und Spaten geschultert.

»Das ist Rodica«, unterbrach Khatunas Stimme ihre Beobachtungen.

Die Bewohner der Siedlung versammelten sich um sie. Ein kleiner Junge versteckte sich hinter den Röcken seiner Mutter und starrte sie aus großen runden Augen an.

»Willkommen, Rodica.« Das war einer der Alten, die miteinander gesprochen hatten. Sein Haar und der Bart waren grau und das faltige Gesicht von der Sonne braun gebrannt. »Ich bin Aldo, der Dorfälteste.«

»Danke für das Willkommen, Aldo«, sagte Rodica scheu. Sie wusste nicht, wohin sie schauen sollte, schien man sie doch aus jeder Richtung neugierig zu betrachten.

»Ich habe Rodica angeboten, dass sie bei uns um Aufnahme bitten kann«, fuhr Khatuna fort. »Sie wollte zu dem Weiler beim Haus der Ewigen, zu ihren Verwandten, aber da ist ja niemand mehr. Sie wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte.«

Aldo musterte sie. »Wusstest du nicht, dass es den Weiler nicht mehr gibt?«, fragte er.

Rodica schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Komm.« Er wies auf eine der Hütten. »Lass uns reden. Khatuna, gibt es etwas, was wir noch heute besprechen müssen oder reicht morgen?«

»Morgen reicht vollkommen. Wir sind nicht in unmittelbarer Gefahr.« Khatuna grinste. »Ich würde sowieso gern erst einmal etwas essen. Und Olwenus will nach seinem Kleinen sehen.«

»Gut. Dann sprechen wir morgen. Komm, Rodica.«

Aldos Hütte war spärlich eingerichtet. In der Mitte des runden Raums lag eine Feuerstelle, neben der der Älteste Kessel, einen Bratrost und Geschirr gestapelt hatte. Eine grob gezimmerte Kiste enthielt Vorräte, Gemüse aus dem Beet vor der Tür, Brot und Kräuterbündel. Es gab einen niedrigen Tisch, einige Schemel und eine Schlafstätte. Auf dem Tisch lag ein Pergament, eine Karte ähnlich denen, die Maksim in seinem Raum aufbewahrte. An den Wänden aus Schilfgeflecht hingen Kleidung und unter dem Dach Räucherfleisch.

Aldo bat sie, sich an den Tisch zu setzen, und schob die Karte zur Seite. Während er einen Krug mit Dickmilch, Brot, Räucherfleisch, Teller, Becher und Messer vor sie stellte, erzählte er, dass die Siedler sich stets versteckte Lichtungen wie diese aussuchten, um ihre Hütten zu errichten. Wenn sie solche Waldwiesen auf ihren Erkundungen fanden, merkten sich die Fährtensucher sie und Aldo trug sie in seine Karten ein. So konnte man, wenn man gezwungen war, die Siedlung zu verlegen, sofort einen neuen Siedlungsort bestimmen. »In den letzten fünf Wintern mussten wir erst einmal vor Vampiren fliehen«, sagte er stolz. »Unsere Verstecke sind also gut.«

Dann setzte er sich und bat sie, zu essen. Er selbst schenkte sich nur Dickmilch ein und schien zufrieden, sie bei ihrer Mahlzeit zu beobachten.

»Also«, sagte er, als sie das Brot und das Fleisch verschlungen hatte, »wo kommst du her, Rodica?«

»Aus den Bergen.«

»Du warst eine Sklavin?«

Sie nickte. »Ja.«

Er sah sie lange an, bevor er fortfuhr. »Was ist mit dem Vater deines Kindes? Wieso ist er nicht bei dir? Hat er dich verlassen?« Sein Ton ließ keinen Zweifel daran, was er von Männern hielt, die sich aus dem Staub machten, nachdem sie Frauen geschwängert hatten.

Sie wollte ihm die Lüge von dem Soldaten aus Insan erzählen, sie wollte es wirklich. Aber sein freundliches Gesicht und die Weisheit in seinen Zügen ließen sie innehalten. Sie spürte den Kloß in ihrem Hals und die Tränen, die wieder flossen, ohne dass sie etwas dagegen unternehmen konnte.

»Nein«, schluchzte sie. Maksim hätte sie nie verlassen! Er hätte ihr beigestanden! »Ich … ich ‒.« Sie konnte nicht weitersprechen.

»Du hast ihn verlassen«, sagte der Älteste leise.

Sie nickte tränenüberströmt. »Er weiß nichts von dem Kind.«

»Warum nicht?«

»Sie hätten es getötet.« Sie sagte es einfach so.

»Er ist also ein Vampir.«

Rodica senkte schluchzend den Kopf. Jetzt war es raus. Sie wollte mit den Lügen aufhören. Wenn sie sie verjagten, so sei es. Aber sie konnte Maksim nicht mehr verleugnen. »Ja. Wir haben uns geliebt. Wir lieben uns«, verbesserte sie sich und wischte die Tränen weg. »Als ich feststellte, dass ich guter Hoffnung war, habe ich es ihm nicht gesagt. Unser Kind würde nach den Gesetzen der Vampire getötet werden. Es … es würde ihn auch vieles kosten, falls das Kind dort geboren werden würde. Also bin ich geflohen.«

»Wohin wolltest du gehen?«

»Zum Haus der Ewigen. Aber als ich ankam, waren dort nur noch Ruinen. Ich habe mich dann auf den Weg zum nächsten Weiler gemacht. Und Khatuna und Olwenus getroffen.«

»Was hast du Khatuna und Olwenus über deinen Zustand gesagt?«

»Bis auf die Tatsache, dass der Vater meines Kindes ein Vampir ist, die Wahrheit. Ich habe gesagt, dass der Vater ein Soldat aus Insan war.«

»Eine Erklärung so gut wie jede andere.« Er räusperte sich. »Wenn du möchtest, Rodica, dann bleib bei uns. Helfende Hände sind immer willkommen. Du verstehst dich auf Feldarbeit?«

Überrascht hob sie den Kopf und konnte ihr Glück im ersten Augenblick nicht fassen. »Ja, natürlich! Ich danke dir! Aber … es macht dir nichts aus, dass mein Kind ein Ewiger ist?« Sie musste an das denken, was Olwenus bei den Ruinen gesagt hatte.

»Nein. Ewige sind für mich wie Menschen. Sicher, sie erben die Unsterblichkeit ihres vampirischen Elternteils und ihr Blut tötet Vampire, aber das sind auch schon die einzigen Merkmale, die sie von den Menschen unterscheiden. Es gibt allerdings Menschen hier, die Ewige verachten oder Angst vor ihnen haben, einfach weil sie von Vampiren abstammen. Sie könnten fordern, dass wir dich verjagen. Ich glaube, wir sollten daher dabeibleiben, dass der Vater des Kindes ein Soldat war. Der verstorben ist.«

Rodica sah ihn wortlos an. Dann erhob sie sich schwerfällig, ging zu ihm und legte ihm die Arme um den Hals. »Ich danke dir«, flüsterte sie und küsste ihn auf die Wange.

»Du machst einen alten Mann ganz verlegen!«, protestierte er und tätschelte ihr unbeholfen den Rücken. »Komm, es gibt da eine Hütte, die leersteht. Der alte Sabas ist letzten Mond gestorben. Du kannst die Hütte haben.«

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