Читать книгу Túatha Dé Danann. Sternenheim - Sean Connell - Страница 8

2 Die Wandernden Kirchen

Оглавление

Als der Tod kam, entsetzlich und finster in Gestalt einer riesigen, weit in den Himmel reichenden Welle, beruhigte sich Cornelis. Selbst das kleine Fischerboot und die kalten, schwarzen Brecher, im Kammbereich immer noch weiß und schaumstrotzend, schienen für einen Moment in ihren Bewegungen innezuhalten. In dem Jungen aus Bandahui erstarb jede Hoffnung. Hier draußen im Mahlstrom, im schwarzen Gedärm eines erbarmungslosen Ozeans, wurde ihm plötzlich klar: Er stand dem biblischen Leviathan gegenüber, einem Naturereignis, dem er nichts entgegenzusetzen hatte, dem er sich nicht entziehen konnte. Es war eine Wand aus schwarzem Wasser, so hoch, dass sie den ganzen Himmel ausfüllte, um ihn, den naiven Jungen vom Land, zu zerschmettern und in die Tiefe zu reißen.

Doch nichts davon geschah.

Ein goldenes Licht erhellte plötzlich das Meer, als wäre ein riesiger Stern zwischen Boot und Welle aufgegangen, und tauchte alles in gleißendes Weiß. Cornelis’ Augen begannen zu tränen und er musste sie mit der Hand bedecken, um überhaupt sehen zu können.

Mit offenem Mund starrte er über die See. Eine menschengroße, goldene Gestalt stürzte aus großer Höhe in die Tiefe und teilte mit ausgebreiteten Armen die Riesenwelle. In einem furchtbaren Getöse fielen die Wellenkämme seitlich in sich zusammen und prallten donnernd und schäumend auf das aufgewühlte Meer. Das Fischerboot begann wild zu schaukeln; Sekundenbruchteile später war das Heck im Freien, strebte himmelwärts, der kleine Außenbordmotor jaulte, rotierte für einen kurzen Moment in der Luft, und Cornelis klammerte sich verzweifelt an den Mast, als das Gefährt mit einem gewaltigen Ruck mit dem Bug voraus in die Tiefe stürzte. Der Aufprall war hart und der gesamte Ozean schien über ihn hereinzubrechen, aber das Boot blieb heil, und kurz darauf konnte der Junge wieder den Himmel sehen, während er wie verrückt nach Luft rang. Das Meer beruhigte sich etwas.

Die Gestalt des Goldenen erschien nun mit einem Mal steuerbords und blickte den Jungen mit seinem augenlosen Gesicht an. Cornelis starrte zurück und war angesichts des lebenden Gottes viel zu perplex, um einen klaren Gedanken zu fassen. Der ehemalige Ältere schien ihm etwas mitteilen zu wollen, eine Botschaft oder eine Warnung, doch anstatt zu sprechen, begann er sich in der Luft zu drehen. Immer schneller rotierte er um seine Achse, erhob sich wie von Geisterhand in den finsteren Sturmhimmel und entschwand nach einer Weile den Blicken des verdutzten Jungen.

Cornelis sank erschöpft zu Boden und presste seine Stirn gegen die Planken. Er schloss die Augen und spürte, wie er am ganzen Leib unkontrolliert zu zittern begann. Alle Kraft hatte ihn verlassen und eine erlösende Bewusstlosigkeit nahm ihn auf. So bemerkte er nicht, wie sich ganz in seiner Nähe ein metallenes Unterseeboot aus den Fluten der See erhob und Kurs in seine Richtung nahm.

Aurelius, der untersetzte Maschinist der Bruderschaft der Archivare, war der Erste, der etwas sah. Er hatte nach längerer Zeit der Untätigkeit das Periskop ausgefahren und justierte nun fieberhaft an den Drehrädchen für die Schärfe, bis er die Wellenkronen klar vor sich sehen konnte.

„Was macht er da?“, keifte der Unternehmer, Herr von Harttland, und Eigentümer des U-Boots, das durch die raue See des Südmeeres schipperte. Er drehte sich hilfesuchend zu den anderen um. „Ich habe ihm nicht erlaubt, irgendetwas zu berühren. He, lass die Finger von den Geräten!“

Aurelius ignorierte ihn. Der mächtigste Mann von Kabelstadt, ein riesiger, kahlköpfiger Koloss mit einem beeindruckenden Leibesumfang, der selbst Aurelius im Vergleich dünn erscheinen ließ, war jetzt nur mehr ein Maulheld, weiter nichts. Ein Gefangener an Bord seines eigenen Schiffes.

Aurelius drehte das Periskop langsam um seine Achse.

„Hmm …“, machte er dabei. „Hm, hmm …“

„Siehst du ihn?“, fragte Michael Altfeld. Die Stimme des Älteren, der den Umgang mit Schwertern, präziser gesagt Katana, beherrschte wie kein Anderer, klang angespannt. Bange Sekunden vergingen, während das Periskop und der dicke Junge sich unmerklich weiterdrehten. Aurelius schüttelte immer wieder den Kopf, sagte aber nichts.

Sie waren auf der Suche nach Cornelis, dem Schüler des getöteten Meister Aki. Der Junge hatte sich, unvorsichtigerweise wie es schien, allein auf die geheimnisvolle Insel Tír na nÓg im Südmeer begeben, um das schwerwiegende Schisma der Bruderschaft der Archivare zu lösen.

Eigentlich hatten seine ehemaligen Begleiter gehofft, ihn noch rechtzeitig in Porta Pueritia, dem einzigen Hafen des Eilands, abpassen zu können, aber dort hatte man ihnen nur mehr die Geschichte eines blonden Jungen aufgetischt, der verzweifelt ein Boot gesucht hatte, um inmitten des schlimmsten Sturms aller Zeiten nach Südland zu schippern. Und ein alter Fischer hatte bei dem Leben seiner einzigen Tochter geschworen, dass genau derselbe Junge sein einziges Boot gestohlen habe, und dass der altersschwache Kutter – zehn zu eins gewettet – niemals den Wahnsinn eines Entropischen Sturms überlebt haben konnte, selbst wenn alle Götter von Nord- und Südland gemeinsam beschützend an der Seite des Knaben gestanden und das Meer beruhigt hätten.

Wenn es sich bei diesem blonden Jungen wirklich um Cornelis handelte, so hatte der Ältere Michael Altfeld wenig später mit bedeutungsschwerer Stimme seinen Begleitern erklärt, dann wäre er wohl just in diesem Augenblick immer noch auf offener See – sollte er überhaupt noch am Leben sein, was einem Wunder gleichkäme, denn bis vor Kurzem war das Südmeer noch ein schreckliches Tollhaus gewesen, das sich nur langsam beruhigte – und sie täten gut daran, sich verdammt noch mal zu eilen.

„Hören Sie, Altfeld, das ist doch scheiße …“ Der Unternehmer wandte sich an den Älteren und seine kalten Augen blitzten vor Wut. „Ein Fischerboot auf hoher See zu finden, ist selbst an guten Tagen schon schwierig, bei diesem Wetter aber völlig unmöglich! Nehmen wir Kurs auf Porta Aqua oder Non’Tur, solange der Diesel noch reicht.“

„Seien Sie endlich still“, gab Altfeld zurück. Er stand, schlank und groß gewachsen wie ein altertümlicher Held, mit seinen beiden Katana in den Händen, zwischen Kommandostuhl und Periskop und drehte sich langsam zu der blonden Frau herum, die sich bislang schweigend im Hintergrund gehalten hatte. Er gab ihr ein Zeichen.

Sie nickte und der Unternehmer krallte sich daraufhin in den Lehnen seines Kommandostuhls fest. „Das können Sie nicht machen, Altfeld. Sagen Sie dieser Schlampe … sie wird es wohl nicht wagen …“

Colombina war neben den Unternehmer getreten und griff nach den riesigen Oberarmen des Mannes. Auf den ersten Blick erschien es unmöglich, ja fast absurd, dass es ihr gelingen würde, dieses riesige Stück Fleisch auch nur einen einzigen Millimeter zu bewegen, doch ihr Griff war wie eine Stahlklammer und der Unternehmer schrie auf, als sie mühelos seinen Arm verdrehte.

Colombina, so schön sie auch anzusehen war, war keine echte Frau.

Gehärteter Stahl ersetzte bei ihr die normale Knochenmatrix, und der Herr von Harttland erinnerte sich jetzt vermutlich schmerzhaft daran, dass unter der organischen Hülle ein hoch entwickelter Roboter des Älteren Jerry Marrks steckte. Langsam drehte Colombina dem Unternehmer den Arm auf den Rücken. Sein Gesicht wurde puterrot und ein unansehnlicher Speichelfaden tropfte von seiner Unterlippe.

„Hee …“ Aurelius fuchtelte wild mit den Armen und hielt so das Maschinenmädchen davon ab, dem Unternehmer etwas wirklich Schlimmes anzutun. „Ich kann etwas sehen! Ich glaube, es ist ein Boot …“

Altfeld drängte das Mitglied der Bruderschaft der Archivare rasch zur Seite und griff selbst nach dem Periskop. Er drehte es nach links und rechts, während seine Augen fieberhaft versuchten, sich an die verminderte Sicht bei sturmgepeitschter See zu gewöhnen. Nach ein paar Sekunden hatte er jedoch das Objekt, das der junge Archivar gesichtet hatte, ebenfalls im Visier.

Er drehte sich herum.

„Auftauchen!“, befahl er.

„Sind Sie verrückt …?“, entfuhr es dem Unternehmer, der trotz der Bedrohung durch das Maschinenmädchen nichts von seiner ungehobelten Art verloren hatte.

„Auftauchen!“

„Ich weigere mich …“

Colombina machte eine kurze Bewegung und der Unternehmer schrie vor Schmerz auf. „Schon gut, schon gut … ich tue, was immer Sie wollen …“

Colombina ließ ihn los und er fiel keuchend in seinen Kommandostuhl zurück. Nach einigen Augenblicken des Jammerns zog er die beweglichen Bildschirmarmaturen zu sich heran und hämmerte darauf herum. Druckluft schoss hörbar in die Wassertanks. Das U-Boot tauchte auf.

„Wenn Sie jetzt auf die Scheißidee kommen sollten, die Luke über unseren Köpfen zu öffnen, dann sind wir geliefert“, rief er an Altfeld gewandt. „Bei diesem Seegang wäre das glatter Selbstmord!“

Der Ältere winkte ab. „Lassen Sie das meine Sorge sein. Tun Sie einfach nur, was ich von Ihnen verlange.“

„Sie erbärmlicher, blöder …“, giftete der Unternehmer und verschränkte die Arme vor der Brust.

Colombina verabreichte ihm emotionslos eine Ohrfeige und zog ihn aus dem Kommandostuhl.

„Übernimm die Armaturen“, befahl Michael Altfeld an das Maschinenmädchen gewandt. „Wir können uns nicht auf ihn verlassen. Kommst du mit der Technik des U-Boots klar?“

Colombina blickte auf die Seitenlehnen des Kommandostuhls. Überall waren winzige Bildschirme mit virtuellen Tasten und Diagrammen zu sehen. Sie nickte. „Technologie aus Kabelstadt. Primitiv.“

Michael Altfeld nickte ihr zu. „Sobald wir die Wasseroberfläche durchbrochen haben, öffne bitte die Einstiegsluke.“

Als Cornelis wieder zu sich kam, fühlte er einen schrecklichen Verlust, als wäre etwas äußerst Wertvolles, das er besessen hatte, von ihm gegangen. Doch er konnte sich nicht mehr daran erinnern, was es war. Er fiel hinaus in die kalte, fröstelnde Wirklichkeit und blinzelte zitternd in das grelle Licht einer Deckenlampe.

Er schrie.

Er verspürte Angst. Schreckliche, nackte Angst.

„Cornelis!“

Irgendjemand schüttelte ihn. Eine vertraute Stimme drang an sein Ohr. Seine Augen waren offen, doch er konnte nichts sehen. Er richtete sich auf, obwohl ihm furchtbar schwindelig war.

„Cornelis!“

Er wollte nichts hören, wollte nur zurück in die rotorganische Wärme seines Traums, aus dem er gerade gefallen war.

Er blinzelte erneut.

Aurelius …? War das etwa Aurelius gewesen, der ihn gerufen hatte?

Sein Herz machte einen Sprung.

Aber ja, es war Aurelius!

Und links und rechts von ihm standen Michael Altfeld und Colombina.

Verwirrt blickte er sich um. Ein seltsamer Raum aus Metall umgab ihn und die seltsame Liege, auf die man ihn gebettet hatte, vibrierte sanft.

Seine Augen huschten hierhin und dahin. Überall befanden sich Anzeigen, Hebel, Schalter und Dampfventile. Bunte Lämpchen blinkten. Alles rings um ihn herum schien so, als befände es sich in Bewegung.

„Wo … wo bin ich hier?“

Michael Altfeld sprach als Erster. Sein schmales Gesicht, die langen, schwarzen Haare, die dunklen Augen und das markante Kinn verliehen ihm etwas Abenteuerliches. Seine Stimme klang dunkel und voll wie die eines Geschichtenerzählers. „Du befindest dich an Bord eines U-Bootes. In Sicherheit. Ruh dich aus, wir bringen dich in friedlichere Gewässer.“

Cornelis nickte. Er war so müde, so erschöpft. Wie sollte er in diesem Zustand mit ihnen sprechen, ihnen alles erklären?

Aber es half nichts. Sie mussten es erfahren. Sofort.

„Bernadette …“, stammelte er schließlich. „Sie haben sie getötet …“

Altfeld blickte verwirrt zu Aurelius und Colombina.

„Nyail …“, fuhr Cornelis fort, während heiße Tränen über seine Wangen liefen. „Der Gesandte des Abgründigen Gottes hat sie getötet … und sie anschließend in den Urdbrunnen geworfen, um den Goldenen hervorzulocken.“

„Was redest du da?“ Altfeld griff nach seinen Schultern, packte sie schmerzhaft. „Cornelis, was genau ist auf Tír na nÓg passiert? Meinst du etwa Bernadette la Halle? Bist du ihr begegnet?“

Cornelis nickte. „Meine Mutter …“

„Deine Mutter …?“, entfuhr es Aurelius. „Die Ältere ist deine Mutter? Was soll das heißen? Ich dachte immer, deine Mutter sei bei deiner Geburt in Bandahui gestorben?“

Cornelis schüttelte den Kopf. „Bernadette … sie ist meine echte Mutter.“ Dann befiel ihn eine tiefe, bleierne Müdigkeit und er stürzte erneut in Dunkelheit.

Die Küste war ganz unvermittelt vor ihnen aufgetaucht, eine feine Linie in Grün- und Brauntönen; ein erdiges Etwas, über dem die heiße Luft flimmerte; ein Etwas, das nur langsam an Form und Höhe gewann und sich schwerfällig aus dem Südmeer erhob, aber dabei dennoch seltsam undefiniert und karstig blieb, mit scharfkantigen Klippen und spitzen Felsnadeln; Land, das darauf zu warten schien, den Menschen den Zutritt zum Landesinneren zu verwehren.

Die ersten Siedlungen, die schließlich in Sicht kamen – primitiv umzäunte Ackerfelder oberhalb der Klippen, rostige Wellblechhütten und kleine, aus grobem Stein zusammengesetzte Häuser, offensichtlich eilig als architektonische Notdurft errichtet –, vermehrten sich im Laufe ihrer Fahrt entlang der Küste zu mittelgroßen Kolchosen und kleinen Städtchen. Schlicht blieben sie bis zuletzt, während das U-Boot des Unternehmers aufgetaucht an ihnen vorbeischipperte, nüchtern funktional mit sich schnell drehenden Windrädern und Sonnenkollektoren auf den flachen Dächern. Allmählich hatten sie sich jedoch entlang des Ufers verdichtet und bald schon waren sie Teil eines größeren Ganzen, wie Cornelis überrascht feststellte. Gepflegte Parks und Cafés unterbrachen die nüchternen Fassadenreihen der Siedlungen. Licht und pastellfarbenes Grün spielten bald eine größere Rolle – unmerklich zunächst, doch bald schon unübersehbar – und jetzt war deutlich zu erkennen, dass sie sich einer großen Stadt näherten. Filigrane Türme erhoben sich vorsichtig in den Himmel, und bunte Reklametafeln, die im Dunst einer niemals schlafenden Hafenstadt aufreizend leuchteten und blinkten, kündeten von Zivilisation. Alles war hier anders als in Nordland, dachte Cornelis. Die Farben, der Baustil, der wilde, aromatische Geruch der kleinwüchsigen Bäume, die die Straßen säumten. Und bald schon würden sie dieses fremde Land betreten.

Zwei Stunden später hatten sie im Hafen von Porta Aqua festgemacht und das U-Boot des Unternehmers verlassen. Den Herrn von Kabelstadt hatten sie mit seinem U-Boot ziehen lassen, auch wenn diese Entscheidung nicht einstimmig gefällt worden war. Doch der Unternehmer war eine schwer kalkulierbare Größe und man war sich einig, dass seine Gegenwart für alle Beteiligten das größere Problem darstellte als seine Abwesenheit. Mochte er zurück nach Nordland gehen und seine Häscher in Harttland mobilisieren, hier auf dem Südkontinent würde er nur wenig ausrichten können und bald schon würden sich die Spuren der kleinen Gruppe ohnehin verlieren.

„Es war dein spezieller Wunsch, hierher zu kommen, Cornelis aus Bandahui“, sagte Michael Altfeld, während sie über den Hafen gingen. Er musterte den Jungen mit ernstem Blick. „Was willst du tun, jetzt wo du diesen neuen Kontinent betreten hast?“

„Ich muss Nyail finden …“, presste Cornelis hervor und schwieg dann. Jedes weitere Wort, so glaubte er, ließe ihn wanken.

Altfeld, der Porta Aqua wie seine Westentasche zu kennen schien und auch den südländischen Dialekt fehlerfrei beherrschte, führte die kleine Gruppe kurz darauf durch die geschäftige Innenstadt, bis sie tief in einem Labyrinth von verwinkelten Gassen innehielten und in die gähnende Dunkelheit einer großen Herberge starrten. Der Ältere orderte Zimmer, Essen und Getränke und bezahlte alles bar mit Münzen, die scheinbar auch auf dem Südkontinent Gültigkeit zu haben schienen.

„Das muss fürs Erste reichen.“ Altfeld schenkte seinen Begleitern ein aufmunterndes Lächeln und warf sich auf ein Bett in einem der Räume, die sie angemietet hatten. „Morgen ziehen wir weiter. Wir bleiben nicht länger als eine Nacht am gleichen Ort. Wer weiß, was der Unternehmer vorhat. Wir können ihm nicht trauen.“

„Warum haben wir ihn dann ziehen lassen?“, fragte Aurelius überrascht. „Ich dachte, das wäre die beste Entscheidung gewesen?“

„Hättest du ihn etwa mitnehmen wollen …?“ Der Ältere warf dem Maschinisten einen undefinierbaren Blick zu. „Die Ereignisse der letzten Tage waren schlimm, zugegeben. Wir sind alle etwas aufgekratzt. Voller Misstrauen und Angst sogar, was nur verständlich ist. Und ja, der Unternehmer ist kein Freund, aber auch kein Gefangener. Lassen wir ihn ziehen, das ist das Beste. Aber bleiben wir dennoch wachsam. Wenn wir uns unauffällig verhalten, wenn wir unauffällig reisen, wird er uns nur schwer finden, sollte er überhaupt noch ein Interesse an uns haben. Wir sollten uns jetzt entspannen und uns auf uns selbst konzentrieren, unsere Kräfte sammeln. Vor allem Cornelis muss sich erholen. Ihm sitzt der Schock über den schrecklichen Verlust von Bernadette und Meister Aki noch tief in den Knochen.“

Die anderen nickten wortlos.

Altfeld fuhr fort: „Der alte Mann, Aki, hat heldenhaft versucht, den Metamorphen, der ihnen gefolgt war, am Ende zu töten, doch die Kreatur hat sich als stärker erwiesen. Und dann haben die Mu ihm zu allem Überfluss auch noch das Gehirn aus dem Schädel entfernt. Cornelis’ Beschreibung des gemeinen Mordes an Bernadette la Halle durch Nyail, dem Diener des Abgründigen Gottes, setzt dem Ganzen die Krone auf. Diese Wunden werden Zeit brauchen, um zu heilen.“ Er seufzte. „Ach ja, und was aus Raggah und Hayo geworden ist, wissen wir auch nicht. Doch lasst den Kopf nicht hängen. Es ist noch nicht vorbei, wir sind nicht geschlagen. Denn wenn es stimmt, was Cornelis uns bereits geschildert hat, dann ist unser Gegenspieler, der Abgründige Gott, immer noch in einem verpuppten Stadium. Nyail wird mit ihm untertauchen müssen, bis er in seiner wahren Gestalt in Erscheinung treten kann.“ Altfeld blickte seine Begleiter der Reihe nach an. „Das ist unsere große Chance. Ist Cú Chulainn erst einmal in seiner vollendeten Form zurückgekehrt, dann wird seine Macht schier grenzenlos sein. Er wird die Túatha Dé Danann aus den Schatten nach Nord- und Südland zurückführen und sie werden uns alle vernichten. Morgen oder übermorgen, wenn wir ausgeruht sind, werden wir herausfinden müssen, wohin das Luftschiff aus Tír na nÓg geflogen ist. Sein Kurs kann über Nor-Ras-Mar, die Weiße Wüste oder über Ost Quitzaurien geführt haben. Die Flugsicherung von Porta Aqua muss Aufzeichnungen darüber haben.“

„Was ist mit Cornelis? Welche Rolle spielt er eigentlich in dieser Geschichte?“, rief Aurelius. „Was, wenn er nicht der Auserwählte ist? Was dann? Was, wenn er uns nicht retten kann?“

Altfeld seufzte. „Ehrlich gesagt, hege keine große Hoffnung auf Rettung, mein lieber Aurelius. Wie wir wissen, steht die Welt vor ihrer Auflösung. Sie verdampft in zunehmender Entropie. Dummerweise gibt es keinen Weg raus aus dieser Singularität, zumindest nicht ohne die Gesetze der Physik zu verletzen. Transformation wäre eine Möglichkeit. Leider kenne ich keinen Weg Ramnaroughenergien in derart großen Mengen zu erzeugen, um alle Bewohner des Landes in gottgleiche Wesen wie Juri-Hiro zu verwandeln. Das allerdings wäre der einzige mir bekannte Weg, die Schöpfungskuhle wieder zu verlassen. Die Welt, in der wir uns hier befinden, ist kein gewöhnlicher Ort und der Schleier, der die Welten trennt, ist undurchdringbar, selbst wenn Juri uns helfen würde, was er nicht tun wird. Es war ja immerhin sein Traum, hier zu sein. Er wird seine Vision nicht aufgeben. Und Bernadette, seine Gefährtin, die uns vielleicht hätte helfen können, ist leider tot.“ Er machte eine Pause. Dann fuhr er mit leiser Stimme fort: „Sie glaubte daran, dass Cornelis uns retten kann. Doch das Wie und Wann blieb sie uns leider schuldig.“

„Sie sagte, ich müsse der Spur des Grals folgen … was immer das auch bedeuten mag“, warf Cornelis ein. „Mein Weg führt mich nach Sternenheim. Das ist auch das Ziel des Abgründigen Gottes, wenn die Worte, die er zu seinem Diener gesprochen hat und die ich mit eigenen Ohren gehört habe, der Wahrheit entsprechen.“ Cornelis senkte den Blick. Dann schluckte er. „Ich will den Tod von Bernadette rächen. Das ist alles. Wenn damit die Welt gerettet werden kann, fein. Aber der Weg des Grals ist nicht meiner. Ich werde auch nicht der Spur von Jerry Marrks folgen. Es tut mir leid.“ Er blickte alle der Reihe nach an, sein Kinn angriffslustig nach vorne gereckt, als würde er Widerworte oder Ablehnung erwarten, doch alle nickten schweigend.

„Gut. Dann werden wir zunächst dem Abgründigen Gott und seinem Adlatus folgen, bis wir beide zur Strecke gebracht haben“, sagte Altfeld. „Was danach geschieht, wird zur gegebenen Zeit neu verhandelt werden.“

Ellin, der Anunnakifürst, war seit ihrer Ankunft auf Südland sehr nachdenklich geworden. NI.BI.RU, die Heimat, schien mit einem Mal ferner denn je, nur noch ein merkwürdig abstrakter Begriff in einer alten Legende. Die Anunnaki hatten niemals eine Vergangenheit besessen, denn die Kenntnis über ihren Ursprung war nichts weiter als ein paar Verse in einem Gedicht. Jetzt, so schien es, hatte sein Volk nicht einmal mehr eine Zukunft.

Die Entropie, die bereits über dem Südmeer tobte und in Kürze vermutlich das ganze Nordland zerstören würde, war eine schrecklich gefräßige Plage, eine Plage, die dem gesamten nördlichen Kontinent bestenfalls Wochen, vielleicht aber auch nur Tage an Aufschub gewähren würde. Ellin und sein Bruder Valaan hatten in verhängnisvoller Weise auf den Limbus und die innere Insel Axis Mundi gesetzt, einem geheimnisvollen Ort auf der ebenso geheimnisvollen Insel Tír na nÓg. Sie vermuteten dort einen Durchgang nach NI.BI.RU, jenem sagenumwobenen Ort der Glückseligkeit.

Doch nach dem Fall des Ramnaroughschildes, von dem Cornelis in den vergangenen Stunden berichtet hatte, war dem Anunnaki klar geworden, dass der Limbus nur eine trügerische Hoffnung gewesen war. Der Urdbrunnen führte offenbar nicht in die Freiheit, sondern einzig und allein hinunter in das Nachtland. Nach Dumnon. Und im Reich des Abgründigen Gottes waren die Städte Magog und Gog bereits der Auslöschung anheim gefallen.

Der Anunnaki räusperte sich. Er hatte eine Entscheidung getroffen. „Ich werde dich begleiten, Cornelis aus Bandahui. Selbstverständlich nur, wenn du es möchtest. All mein Hoffen, NI.BI.RU zu erreichen, ist inzwischen dahin. Ich habe keine Ziele mehr, habe alles aus den Augen verloren, was einst wichtig gewesen war.“ Er warf Michael Altfeld einen abschätzenden Blick zu, als fürchtete er einen Einwand, und ergänzte mit matter Stimme: „Obwohl ich bezweifle, dass ich über mein Schicksal selbst bestimmen kann.“

Altfeld zuckte die Achseln. „Von mir aus … ich werde Euch nicht aufhalten, Anunnakifürst.“

Aurelius meldete sich zu Wort und sagte mit stockender Stimme: „Ich glaube, der Anunnaki ist gefährlich … wir können ihm nicht trauen. Wenn er bei uns bleibt, droht uns Gefahr … lassen wir ihn zurück, können wir nicht ausschließen, dass er uns heimlich folgt …“

um euch alle zu töten?“ Ellin schüttelte den Kopf. „Nein, es würde mir wohl kaum gelingen. Aber ich verstehe Eure Bedenken, Aurelius aus Corpus Mortui.“ Er wandte sich um und sah Cornelis auffordernd an. „Es ist deine Entscheidung.“

Der Junge nickte zögerlich. Er erinnerte sich jetzt wieder an seine erste Begegnung mit dem Volk der Anunnaki in Station Sonnenallee, als Ellins Bruder, der Krüppel Valaan, versucht hatte, der unter dem Bann eines Steppogos stehenden Raggah eine weitere Puppe mit neuen Anweisungen unterzujubeln. Es hatte sich herausgestellt, dass er und Meister Aki Opfer eines heimtückischen Hinterhalts hätten werden sollen, bei dem die Anunnaki in den Besitz eines Schlüssel zu gelangen versuchten, mit dem man die Insel Tír na nÓg hätte betreten können. Glücklicherweise hatte Meister Aki das Spiel durchschaut, und Cornelis hatte Raggah kurz drauf aus dem Bann der furchtbaren Steppogo-Puppe befreien können. Obwohl Ellin nicht persönlich bei diesem Zwischenfall zugegen gewesen war, lag es auf der Hand, dass Valaan im Auftrag seines Bruders gehandelt hatte. Außerdem hatte Aurelius berichtet, dass es Ellin gewesen war, der während der Schlacht um Wiesental versucht hatte, Cornelis in seine Gewalt zu bringen. Trotz allem war der Junge bereit, dem Anunnaki eine zweite Chance zu geben. Die Dinge hatten sich eben geändert. Tír na nÓg hatte sich aus Cornelis’ Sicht als bedeutungslos herausgestellt und er bezweifelte, ob die Insel nach dem Fall des Ramnaroughschilds überhaupt noch irgendeine weitergehende politische Bedeutung besaß. Ebenso hatte die voranschreitende Entropie alle Strategien jener Herrscher Nordlands, die als Erste das Eiland für sich zu annektieren gedachten, zunichte gemacht.

Durchaus möglich, überlegte Cornelis, dass Ellin wirklich einen Neuanfang wagen will. Warum ihm nicht eine Chance geben?

Laut sagte er: „Ich bin einverstanden, Ellin aus dem Anunnaki-Territorium.“ Dann stand er auf und trat hinaus auf den weiten Balkon des Herbergszimmers, der durch wild rankende Weinreben weitgehend vor der Straße verborgen lag.

Nach einer Weile folgten ihm Aurelius, Ellin und Colombina. Altfeld war hinunter ins Gasthaus geeilt und kam mit zwei großen Karaffen Bier, einem Laib Brot und kaltem Braten zurück, sodass sie kurz darauf unter freiem Himmel zu Tisch saßen und speisten, bis die Bäuche voll und die Köpfe schwer waren.

Colombina erklärte sich schließlich bereit, die Nacht über Wache zu halten. Niemand wusste, welche Gefahren ihnen drohten, doch alle waren sich darin einig, dass sie ein wenig Ruhe brauchten, um ihre beschwerliche Reise fortzusetzen, und so waren sie froh über das Maschinenmädchen, das keinen Schlaf benötigte.

Der nächste Morgen begann mit ungewöhnlichen Nachrichten. In den Theologischen Zonen von Porta Aqua, jenen abgegrenzten Gebieten der Stadt, in denen es frei gestattet war, Glaubenshandlungen jeder Art auszuüben, hatten Mönche begonnen, die jahrhundertealten Anker der Wandernden Kirchen aus dem betonierten Straßenbelag zu hämmern. Eine ganze Schar Schaulustiger hatte sich versammelt, um sie bei diesem seltsamen Treiben zu beobachten. Die Gotteshäuser der Gemeinschaft der Wandernden Kirchen der letzten Offenbarung verfügten über gigantische Holzräder an den Flanken, aber noch nie hatte irgendwer sie in Bewegung gesehen. Nun schien es, als würde genau das bald geschehen.

Die Kunde von diesen merkwürdigen Geschehnissen verbreitete sich in Windeseile in ganz Porta Aqua, und Cornelis und seine Begleiter erfuhren davon beim Frühstück in einer Schenke.

„Das kann nur eines bedeuten“, erklärte Michael Altfeld. „Sie haben von der Befreiung des Goldenen aus dem Urdbrunnen erfahren. Das hat sie aufgeschreckt.“

„Was ist diese letzte Offenbarung, an die die Leute glauben?“ Ellin griff nach der tönernen Karaffe und schenkte sich kalten Tee in einen Krug ein.

„Eine alte Legende. Aus der Zeit kurz nach der Katastrophe. In der letzten Offenbarung kehrt der Goldene zurück auf die Welt und kündet von der entscheidenden Schlacht gegen die Túatha Dé Danann.“

„Die Túatha Dé Danann?“ Ellin musterte den Älteren spöttisch. Dann lachte er. „Das klingt doch eigentlich nach Ammenmärchen.“

Altfeld nickte säuerlich. „In Südland nennt man es Theologie. Diese Legende ist hier jedenfalls weit verbreitet.“

„Und jetzt hauen die ab, stimmt’s?“ Aurelius gestikulierte mit einem Brötchen in der einen und mit einer rotbraunen Wurst in der anderen Hand. „Ich … ich meine … die Kirchen … nicht die Túatha Dé Danann.“

Altfeld schüttelte den Kopf. „Ganz im Gegenteil. Die Mönche suchen geradezu den Kampf. Es sind Kriegsmönche. Sie lichten die schweren Anker ihrer Kirchen und ziehen an den Ort der letzten Auseinandersetzung, der, wenn man der Legende Glauben schenken will, tief im Süden liegen muss.“

„Und wo genau findet diese letzte Auseinandersetzung statt?“

„Nun, das werden wir vielleicht bald herausfinden.“ Altfeld griff nach dem Brötchenkorb. „Ich denke, es wäre eine gute Gelegenheit, sich der Gemeinschaft der Wandernden Kirchen anzuschließen; vorausgesetzt natürlich, sie reisen tatsächlich in den Süden. Auf diese Art und Weise könnten wir immerhin völlig unbemerkt bis nach Sternenheim gelangen. An den Ort, an dem Cornelis den Abgründigen Gott vermutet.“

Colombina, die still neben dem Tisch gestanden hatte, meldete sich jetzt zu Wort. „Es gibt schnellere Transportmittel als diese Wandernden Kirchen. Außerdem würde ich sie kaum als unauffällig bezeichnen.“

Altfeld widersprach: „Die Wandernden Kirchen sind zu auffällig, als dass man uns dort suchen würde – und wie du richtig bemerkt hast, sind sie darüber hinaus sehr langsam. Aber genau deswegen sind sie ein absolut ideales Transportmittel, wenn du mich fragst. Niemand wird uns dort vermuten.“

„Meine Reise nach Sternenheim hat nicht ewig Zeit“, brummte Cornelis.

„Oh, wenn es dir um schnelle Rache geht … nun … Rache sollte nicht von Eile, sondern von guter Planung geprägt sein, mein junger Freund.“

Valaan starrte wütend auf die Flagge – ein im Sprung befindliches, goldenes Raubtier auf dunkelblauem Untergrund. Das Emblem von König-Erich-Land. Man hatte sie wohl erst vor Kurzem in den Boden von Tír na nÓg gerammt. Ein Affront für alle anderen Anwesenden. Im Hintergrund befanden sich ein aus einfachem Gestein errichtetes Haus und westlich davon ein zerstörter Brunnen. Kalter Wind wehte von den fernen Rändern des To-mega-Therion-Kraters heran, ungewöhnlich für einen Sommer, der noch in voller Blüte stand.

Hoch am blauen Himmel kreisten Luftschiffe in unterschiedlichen Farben und Formen wie Seevögel über frischem Aas. Die Kommandoschiffe der nördlichen Hemisphäre. Valaan, der neue alte Fürst der Anunnaki, wurde von seiner Leibgarde – zwölf kampferprobten Kriegern in schwerem Kriegsharnisch – begleitet. Mehr Schutz hielt er für übertrieben, weniger wäre ein Zeichen von Schwäche gewesen.

Esged von Harttland, oberster Geschäftsführer der Truppen und stellvertretender Staatsführer sowie regierender Gesellschafter von Kabelstadt, stand reglos in seiner halborganischen Panzerung direkt neben ihm. Auch er starrte auf die Flagge. Genauso wie Rasmoe aus dem Nord-Territorium, seit Rolf Santans Tod der Erste Mann im Eisstaat, der seine wettergegerbten Hände auf den Schaft seiner übergroßen Streitaxt gelegt hatte und ansonsten beharrlich schwieg. Er hatte zwar nicht das politische Gewicht des kürzlich verstorbenen Älteren, aber an Statur und Kraft konnte er es durchaus mit ihm aufnehmen.

Die Fomoraig hatten ihre riesenhaften Führer Indech und Octriuil entsandt, die vor dem Haus wild auf- und abstampften, als wären sie schwachsinnig oder von einem seltsamen Leiden erfasst. Bläuliche Flammen züngelten aus ihren offenen Mündern, ihre Gesichter waren schwarz vor Ruß, die Augen pupillenloses Weiß. Ihr Anblick war unheimlich, ihr Geruch nach verbranntem Fleisch schrecklich.

Zwei blasse, blonde Gestalten, gekleidet in teures Tuch – royales Rot auf weißem Grund, durchwoben von zahllosen Goldapplikationen und eingearbeiteten Edelsteinen – standen abseits, umgeben von einer Gruppe gepanzerter Soldaten in funkelndem Silber, und ihre blasierten Gesichter waren ausdruckslos, fast schon gelangweilt. Es handelte sich um die beiden Veldener Bruderkönige Theobald und Theodor. Sie würdigten die Flagge keines Blickes.

Nach einer Weile öffnete sich die hölzerne Tür des Hauses und ein großer, breitschultriger Mann mit rotem Haupthaar stapfte heraus. Er schien ganz und gar nicht überrascht über die vielen Neuankömmlinge auf Tír na nÓg zu sein.

„Ahh … willkommen!“, rief er ihnen freundlich zu und breitete theatralisch seine Arme aus. „Wie ihr seht, haben wir bereits das Gebiet Axis Mundi in Besitz genommen. Aber das ist nur ein formaler Akt und tut jetzt nichts zur Sache.“ Er schenkte seinen Gästen ein gewinnendes Lächeln. „Bendhis Bhorm werde ich gemeinhin genannt, Reichsminister von König-Erich-Land und Sonderbevollmächtigter mit allen in dieser Angelegenheit relevanten Entscheidungsbefugnissen – gleichwohl mein Dienstherr, König Erich IV., selbst auf der Insel zugegen ist. Er erwartet euch, edle Herren, im Inneren des Hauses. Bitte folgt mir.“ Bhorm deutete eine höfliche Verbeugung an, dann eilte er zurück ins Haus und die Wartenden folgten ihm schweigend. Sie alle waren gekommen, um Heil für sich und ihr Volk zu finden. Sie würden erst gehen, wenn sie es gefunden hatten. Doch nach den Schlachten der vergangenen Tage und Wochen schwiegen jetzt die Waffen. Nach der Schlacht um Wiesental waren die Kriegsparteien des Nordens angesichts des gefallenen Ramnaroughschildes um die Insel Tír na nÓg zur Besinnung gekommen. Wenn sie weiter stritten und sich nicht einigten, würden womöglich die Südländer die Insel erobern. Das schienen selbst die tumben Fomoraig zu begreifen.

Das Steinhaus war im Inneren berstend voll mit Waffen und Soldaten aus König-Erich-Land; die Männer des Königs standen Spalier mit gezückten Waffen. Bhorm eilte an ihnen vorbei und winkte die Gäste rasch hinunter in den nach Moder und Verfall riechenden Keller. Nacheinander stiegen sie polternd in die Tiefe. Schließlich betraten sie einen großen Raum, dessen Umrisse von zwei schwach flackernden Immerfeuern erhellt wurden. In der Mitte thronte ein bis zur Decke reichender Kopf aus goldenem Stein auf dem nackten, gepressten Boden. Seine Umrisse zerflossen im Licht der Immerfeuer zu einer geisterhaften Erscheinung.

„Was soll das?“, rief Valaan, als er den Steinkopf erblickte. Der Anunnaki gestikulierte mit seinen stählernen Prothesen. „Deswegen haben wir uns hier auf Axis Mundi eingefunden? Haben Sie den Verstand verloren, Bendhis Bhorm?“

„Nein, das hat er nicht“, erwiderte eine Gestalt, die sich bis zu diesem Augenblick im Schatten des riesigen Kopfes verborgen gehalten hatte. Sie trat nach vorn ins Licht.

„König Erich …“, entfuhr es König Theobald.

Erich IV. nickte zufrieden, doch sein ungepflegtes, langes, schwarzes Haar fiel ihm wirr in die Stirn, sodass niemand einen genauen Blick auf seine Augen werfen konnte.

„Ganz recht“, sagte er mit Genugtuung. „König Erich höchstpersönlich. Und ich bin hier, um Antworten auf die Fragen zu geben, die uns alle so lange schon beschäftigen.“

Was genau meint Ihr damit?“ König Theodor war nach vorne getreten. Sein Blick wich nicht von dem riesigen, goldenen Kopf in der Mitte des Raumes. „Was für Antworten sollen das sein?“

„Antworten auf Fragen unserer Herkunft und unserer Zukunft. Antworten über die Quelle jener Macht, die all das hier erschaffen hat. Antworten auf die letzten Fragen unserer Existenz.“

„Wir sind nicht an mystischen Dingen interessiert“, sagte Esged von Harttland und lächelte säuerlich, „… eher an Technologie.“

„… oder an Waffen“, knurrte der Fomoraig Indech.

„Und wo genau“, König Theodor baute sich vor König Erich auf und machte eine weit ausholende Handbewegung, „… sollen diese Antworten in diesem Keller zu finden sein? Es ist niemand hier, der uns Antworten geben kann. Abgesehen von uns und Euch ist der Raum leer. Erklärt Euch, König Erich. Unsere Zeit ist begrenzt.“

„Genauso begrenzt wie Euer Horizont“, konterte Erich und ignorierte die Veldener Soldaten, die bei diesem Ausspruch zu den Waffen griffen. Er deutete mit der ausgestreckten Hand auf den riesigen Steinkopf neben sich. „Das hier ist die Antwort auf all unsere Fragen. Dieser steinerne Kopf kann sprechen und sein Wissen ist unendlich.“

Am Abend vor ihrem Aufbruch nach Süden – Altfeld und Colombina hatten die nächsten Schritte der Gruppe stundenlang geplant und organisiert – sprach Cornelis endlich mit Aurelius. Sie saßen alleine auf der winzigen Hochterrasse einer Herberge direkt über dem geschäftigen Hafen und blickten hinaus auf die unter der Hitze schwitzenden Dächer der niemals schlafenden Stadt Porta Aqua. Cornelis hielt das Schwert der Túatha Dé Danann auf dem Schoß und betrachtete die aus Holz und Leder bestehende Scheide, die Michael Altfeld ihm in einem kleinen Waffengeschäft an der Ecke besorgt hatte. Sie war schlicht, aber gut verarbeitet und würde ihren Zweck erfüllen.

„Ich kann immer noch nicht glauben, dass du hier bist“, sagte Cornelis nach einer Weile.

„Mir geht’s genauso“, antwortete Aurelius und es fiel ihm sichtlich schwer, die richtigen Worte zu finden. Verlegen schwieg er daraufhin. Cornelis fand dieses Verhalten ganz und gar untypisch für den ansonsten so lauten und ausgelassenen Freund aus Corpus Mortui. Was war nur mit ihm? Was bedrückte ihn?

Sie hatten je eine Weinkaraffe und kristallreine Gläser vom Tresen unten in der Bar mit nach oben genommen und schenkten sich nun ein.

Cornelis musterte Aurelius dabei. Seine groben Hände, sein gewölbter Wanst unter der ledernen Weste, das weiche Mondgesicht, umgeben von schwarzen Locken und wässrig blauen Augen – all das erinnerte ihn an ihre unbeschwerte Zeit im Inneren des Weinbergs.

„Hayo und ich haben solche Angst gehabt, als wir sahen, wie der Metamorph in dein Haus in Bandahui eingedrungen ist“, sagte Aurelius in diesem Augenblick und reichte Cornelis ein Glas Wein, „sodass wir einfach nicht anders konnten, als dieser Kreatur zu folgen, um dich und Meister Aki zu warnen.“

„Er war hinter dem Meister her“, erklärte Cornelis fast beschwichtigend. Er erinnerte sich deutlich an die Ereignisse in Wiesental, aber es war ihm, als würden alle starken Emotionen, die er eigentlich dabei verspüren müsste, herausgefiltert. „Die Kreatur hatte ihn den ganzen Weg von Kautoganka bis nach Sommertal verfolgt, um den gestohlenen Schlüssel zu seinem Herrn zurückzubringen.“ Er zuckte die Achseln und setzte ein schiefes Lächeln auf. „Aber stattdessen hat er mich getötet.“

Aurelius trank hastig einen Schluck Wein, anstatt zu antworten. Nur seine Augen verrieten seine Empörung. Plötzlich stellte er sein Glas zur Seite und sagte: „Oh, aber das stimmt nicht, Cornelis. Er hat ja nicht nur dich getötet. Hast du schon vergessen, was Michael Altfeld gesagt hat? Der Meister ist tot! Der Metamorph hat zuerst dich und dann Aki getötet. Hat ihm seinen Brustkorb zertrümmert, ihn regelrecht ausgeweidet und später haben auch noch diese kleinen Wesen sein Gehirn gestohlen …“ Aurelius konnte die Tränen nicht verhindern.

Cornelis nickte. Die kleinen Wesen. Die Mu. Altfeld hatte sie in seiner Darstellung der Geschehnisse nicht unerwähnt gelassen. Sie hatten dem Meister wohl mit derselben gläsernen Apparatur das Gehirn abgesaugt, wie sie es auch bei den Gefallenen im Labyrinthos Dang Lang getan hatten; Cornelis selbst war Zeuge eines derartigen Eingriffs gewesen. Er blickte beschämt zur Seite und schwieg. Welche Stärke er auch immer nach seiner Wiedergeburt in Magog auf der Unterseite der Welt verspürt haben mochte, sie war verschwunden, und in diesem Augenblick fühlte er sich nur noch unsicher und leer. Er konnte weder seinen Freund trösten, der ihm weinend gegenübersaß, noch seine eigenen Gefühle für den verstorbenen Meister ergründen.

„Aurelius …“, stammelte er schließlich.

Doch der Maschinist reagierte nicht. Zu schlimm mochten seine eigenen Erinnerungen an Tod und Blut sein, dachte Cornelis entsetzt, zu tief der Verlust geliebter Menschen wie Professor Aulus, Meister Yaacov oder Meister Aki. Cornelis musterte seinen Freund neugierig. Würde er wieder zu sich selbst finden? Aurelius’ bleiches Gesicht färbte sich rot und nach einer Weile versiegten auch die meisten Tränen. Etwas von seinem alten Selbstvertrauen schien tatsächlich zurückzukehren.

„Cornelis, bitte, sag mir nur eins … bist du wirklich der Auserwählte? Wirst du uns alle retten?“

Cornelis schüttelte langsam den Kopf. „Ich weiß es nicht. Bernadette sagte, die Dinge seien nicht so, wie Meister Aki und Meister Yaacov sie sich vorgestellt haben. Aki glaubte, ich sei auserwählt worden, das Ramnaroughfeld zu durchschreiten – nur zu durchschreiten wohlgemerkt –, aber da irrte er sich. Ich tat viel mehr als das … Ich deaktivierte es und zerstörte damit die letzte Zuflucht der Älteren auf Tír na nÓg. Niemand von den Archivaren hatte letztlich die Wahrheit gekannt, verstehst du? Außer vielleicht Dr. Bartalomäus. Aber auch das bezweifle ich. Denn eigentlich war alles ganz allein Bernadettes Plan gewesen. Meine Mutter wollte Juri-Hiro Ramnarough aus dem Urdbrunnen befreien und wählte für sich den Freitod, und ich … ich war bloß ihr … billiger Handlanger. Aber eins ist auch klar: Die Bruderschaft und die Herrscher Nordlands werden auf Tír na nÓg keine Antworten mehr auf ihre Fragen finden. Niemand von ihnen ahnt, dass die Insel bedeutungslos ist und keine Geheimnisse birgt. Das Schisma, das unsere Bruderschaft nach wie vor spaltet, wird noch lange weiterbestehen. Vielleicht sollte ich heimkehren und ihnen verkünden, dass diese Welt in Wirklichkeit gar nicht die Erde ist, und dass jedes Nachdenken darüber, wer oder was die schreckliche Katastrophe vor tausend Jahren ausgelöst hat, gar nicht die Frage ist. Aber das kann ich nicht, verstehst du? Meister Aki ist tot. Außerdem wird es bald kein Nordland mehr geben, zu dem man zurückkehren kann.“

Aurelius wischte sich die letzten Tränen aus dem Gesicht. Er nickte stumm.

Cornelis fuhr mit belegter Stimme fort: „Wir sind an einem düsteren Ort, Aurelius, im Inneren einer Singularität. Und so wie es aussieht, ist diese Singularität gerade dabei zu verdampfen. Alles wird sich auflösen und es bleibt nicht mehr allzu viel Zeit. Und dann … dann ist da noch etwas anderes, das mich hindert heimzugehen … etwas, das ich tun muss, verstehst du? Meine Mutter … meine echte Mutter … Bernadette … ich habe mitangesehen, was Nyail ihr angetan hat. Und dafür will ich Rache nehmen!“

„Sie … sie wusste im Voraus, was geschehen würde, nicht wahr?“

Cornelis nickte. Jetzt war es an ihm, Tränen zu verspüren. „Sie konnte in die Zukunft blicken wie die Espermane oder die Anansi.“ Er schluckte hart. „Sie sah ihren eigenen Tod, wusste, was Nyail ihr antun wollte, und hat es dennoch nicht verhindert. Ja, es stimmt.“ Cornelis straffte sich und fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen. „Mein Weg führt mich nach Süden, Aurelius. Nach Sternenheim. Altfeld hat es schon angedeutet. Aber ich habe ehrlich gesagt nicht die geringste Ahnung, was dort passieren wird. Nur eins ist sicher: Ich werde nicht nach Corpus Mortui zurückkehren.“

Aurelius schenkte Wein nach und sie tranken stumm, während ihre Gedanken an unterschiedliche Orte drifteten.

„Sternenheim …“, flüsterte Aurelius nach einer Weile. „Dort werden wir hoffentlich auf Jerry Marrks treffen. Auf den Gral. Ich …“

„Wir sind seelenlose Wesen, Aurelius! Maschinen aus Fleisch und Blut, genau wie Colombina … nur anders eben“, unterbrach ihn Cornelis. „Das hat mir meine Mutter erklärt. Wir brauchen Jerry Marrks nicht. Wir brauchen keinen Gral. Es gibt keine Welt jenseits des Todes. Kein Heil, keine Auferstehung. Nur das Nichts, Aurelius, nur das Nichts! Und es wird uns bald schon ereilen. Das ist das Geheimnis der Älteren, der wahre Grund für ihre Unsterblichkeit: Sie haben Angst vor dem Nichts.“

„Dann kannst du uns nicht retten?“

„Die Legenden sagen, der Gral sei der Schlüssel zur Vollkommenheit. Durch ihn erlangen die Menschen ihre Seelen zurück. Die Seelen, die man ihnen gestohlen hat.“ Der Junge nippte an seinem Wein. „Aber es ist nur eine alte Legende. Nichts weiter … und doch … Altfeld hat von Meister Aki ein seltsames Foto überreicht bekommen. Darauf war eine Frau zu sehen. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass der Raub unserer Seelen und Jerrys Suche nach dem Gral mit dieser Frau auf dem Foto zusammenhängen.“

„Glaubst du, Jerry Marrks hat den Gral inzwischen gefunden?“

„Er folgte zumindest einigen vielversprechenden Hinweisen, wenn man Colombina Glauben schenken will … vermutlich ist er deswegen so überhastet aus dem Goldenen Turm im Einsamen See aufgebrochen.“ Cornelis zuckte die Achseln. „Nicht meine Angelegenheit, Aurelius. Auch wenn es noch so faszinierend erscheinen mag, seine Hoffnungen auf alte Legenden zu setzen. Ich für meinen Fall will nur Nyail und den Abgründigen Gott finden. Nur das ist wichtig.“

Aurelius blinzelte. „Aber wenn wir den Gral nicht finden …“, sagte er und schien Cornelis’ letzte Worte überhört zu haben, „… wenn wir unsere Seelen nicht zurückerhalten, werden wir dann eines endgültigen Todes sterben?“

„Wie gesagt, wir sind nur Maschinen, Aurelius. Leben oder Tod – es ist doch vollkommen bedeutungslos.“

„Und was ist mit diesem … Gott? Diesem Abgründigen Gott? Dieser Kreatur aus dem Urdbrunnen? Was ist das für ein Wesen? Kann er nicht die Welt retten? Will er nicht weiterexistieren?“

„Der Abgründige Gott?“ Cornelis zuckte die Achseln. „Wer weiß.“

„Was wirst du tun, wenn du ihn gefunden hast?“

Einer plötzlichen Eingebung folgend zog Cornelis die kleine, weiße, zusammengeklappte Plastiktafel aus seiner Hosentasche. Es handelte sich um ein magisches Kartendeck, das er von Noxius, dem Espermanen, erhalten hatte. Er klappte das Deck auf. Zu beiden Seiten materialisierten sich zwei dreidimensionale Bilder über den Plastikflächen. Sie drehten sich langsam um ihre eigene Achse.

„Was ist das?“, fragte Aurelius erstaunt.

„Das Kartendeck der Weisheit. Der alte Espermane Noxius hat es mir in König-Erich-Land geschenkt. Es zeigt Visionen der Zukunft, wenn man weiß, wie sie zu deuten sind.“

„Und … was siehst du?“

Cornelis schwieg und starrte auf die sich langsam drehenden, farbigen, dreidimensionalen Abbildungen. Nach einer Weile sagte er: „Keine Ahnung. Raggah ist nicht hier, um die Bilder zu deuten.“ Er klappte das Deck wieder zusammen und starrte auf die unter ihm liegenden Dächer der Stadt. „Sie fehlt mir.“

Túatha Dé Danann. Sternenheim

Подняться наверх