Читать книгу Túatha Dé Danann. Sternenheim - Sean Connell - Страница 9
3 Das Internat
ОглавлениеAschemelierter Himmel. Regen. Als Ed Mirko mit seiner kleinen Einheit am Tatort erschien, konnte er den Ärger fast schon riechen: Schwer gepanzerte Polizeibeamte aus dem Inneren Sektor blockierten mit Sturmgewehren und Elektrolanzen die Zufahrtswege zum ehrwürdigen Internat für Höhere Töchter. Mit lauten Rufen wiesen sie besorgte Eltern und Anwohner an, sich von der Absperrung fernzuhalten.
Ed Mirko war es nicht gewohnt, im eigenen Bezirk durch andere Beamte behindert zu werden. Er bahnte sich wortlos einen Weg durch die Reihen der Männer aus dem Zentrum. Nur einen winzigen Augenblick später erwachten die Elektrolanzen zum Leben. Das Geräusch von knisterndem Strom erfüllte die Luft. Doch ehe es zu einer Auseinandersetzung kommen konnte, schwang die Tür eines Pförtnerhäuschens auf und eine leicht untersetzte Gestalt trat maulend ins Freie. Ein Mann – sein Name prangte in kleinen Lettern auf einem Abzeichen an seiner Brust: Etzo Minkertmann, stellvertretender Einsatzleiter der Ereschkigalkommission des Inneren Sektors – eilte ihnen mit säuerlicher Miene entgegen.
„Mirko …“, rief er mit einer sich überschlagenden Stimme. „Kommen Sie gar nicht erst auf die Idee … Das ist unser Fall.“
„Wo ist Hayciano?“
„Drinnen.“ Mirkos Gegenüber seufzte und deutete auf das Hauptgebäude der Schule. „Hayciano ist drinnen.“
Mirko wollte sich bereits an ihm vorbeischieben, aber der kleine Bürokrat hob abwehrend die Hand. Seine Mundwinkel zuckten. „Tut mir leid, Mirko. Sie können nicht rein.“ Ein letztes, verzweifeltes Aufbäumen, aber es klang nicht mehr so kraftvoll und bestimmt wie eben.
Mirko sah ihn kalt an. „Mein Sektor, Minkertmann. Gehen Sie zur Seite.“ Ed Mirko war groß, breitschultrig, dunkelhaarig und besaß dieses klassische Gesicht, das man von alten Statuen her kannte. Minkertmann hingegen war klein, rundlich, fast kahl, ein typischer Beamter aus dem Stadtzentrum, mit schlaffen, pockennarbigen Pausbacken, als hätte besonders hartnäckige Akne ihn entstellt. Er hatte gute Verbindungen zur Regierung, wie man in Polizeikreisen munkelte. Und Hayciano war Minkertmanns cholerischer Chef, aus dessen Schatten zu treten der Bürokrat bis heute nicht geschafft hatte.
„Machen Sie es nicht schwerer, als es schon ist, Mirko. Ihr Eindringen hier wird ein juristisches Nachspiel haben. Beten wir, dass es nicht auch noch ein von der Presse hochgepeitschtes Politikum wird. Das wäre das Letzte, was wir im Augenblick brauchen könnten.“ Er kratzte sich am kahlen Schädel, als wäre ihm irgendetwas Wichtiges entfallen. Dann sagte er: „Sie wissen, dass die Kanzlerin höchstpersönlich ein Interesse daran hat, dass diese Sache aufgeklärt wird. Professionell … ohne Aufsehen zu erregen. Aber ihr dämlichen Provinzpisser seid so versessen auf eure lokalen Privilegien … mir kommt das kalte Kotzen! Doch diesmal nicht, Mirko. Sektorenpolizei ist in diesem Fall außen vor, verstanden? Befehl von ganz oben. Das ist unser Ding.“
Ed Mirko lächelte, beugte sich vor und flüsterte so leise, dass es nur Minkertmann hören konnte: „Wissen Sie was, Minkertmann? Ich gebe Ihnen jetzt einen guten Rat: Hauen Sie ab, bevor es gleich richtig ungemütlich wird.“
Mirko berührte den schwarz schimmernden Helm auf seinem Kopf und das transparente Sichtvisier wurde dunkel. Bläuliche Einsatz-LEDs flammten an seiner gepanzerten Dienstuniform auf. Er ging in den Kampfmodus. Zwei seiner Begleiter richteten unterdessen ihre Multikaliberpistolen auf Minkertmann, während die anderen ihre Waffen auf Minkertmanns Männer richteten, damit diese nicht auf dumme Ideen kamen. Die Situation drohte dennoch zu eskalieren, denn von den Absperrungen stürmten jetzt schwer bewaffnete Männer aus dem Inneren Sektor heran. Minkertmann blickte sich hilfesuchend zu ihnen um, aber er konnte sie hinter Mirkos hochgewachsenen Begleitern nicht sehen.
„Also gut, also gut … gehen Sie rein, Mirko. Aber Hayciano wird Ihnen den Arsch aufreißen, glauben Sie es mir, Sie kleiner Scheißer!“
Mirko grinste und gab seinen Männern ein Zeichen. Die Waffen verschwanden wieder in ihren Halftern. Dann ließ er den Bürokraten wortlos stehen und schritt in das Innere des riesigen Backsteingebäudes.
Internat für Höhere Töchter war, weithin sichtbar, in feinen Lettern in Stein gemeißelt über der Eingangshalle zu lesen. Eine Eliteschule. Alles, was im Nordwesten Sternenheims Rang und Namen hatte, schickte seinen Nachwuchs in die Obhut dieses Hauses, das in Mirkos Augen eigentlich weniger einer Schule als vielmehr einer Festung glich. In den vierhundert Jahren ihres Bestehens hatte nichts Bedrohliches diese Mauern überwunden und niemals hatte ein Polizist einen Fuß in diese ehrwürdigen Hallen gesetzt. Und jetzt das: Hunderte von Schülerinnen, die zukünftige geistige Elite des Nordwestens, hatten sich in sabbernde Fleischhüllen ohne Verstand verwandelt.
Ausgetrunken.
Ausgetrunken von einer unheimlichen, bösartigen Macht, dachte Mirko. Ihre Hirne waren nichts weiter als Eiweißgrütze ohne höhere neuronale Aktivität.
Die Eingangshalle, gewöhnlich voller Lärm und Leben, war jetzt menschenleer. Die hohen Deckenlampen waren heruntergedreht. Nur schwaches, diffuses Licht flutete die Aula.
Mirko deutete mit knappen Gesten auf die verschiedenen Aufgänge und seine Männer teilten sich in Zweiergruppen auf.
„Prüft das Sekretariat und die Lehrerzimmer und vergesst die Bibliothek nicht. Ich schnappe mir Hayciano persönlich. Wenn ich ihn gefunden habe, gebe ich euch ein Standortsignal.“
Mirko eilte mit weitausholenden Schritten durch die große Halle zum Audimax. Er wusste, dass Hayciano selbstdarstellerische Inszenierungen liebte, und kein Ort in dieser Schule war besser dafür geeignet als das Audimax. Ein idealer Circus Maximus für ein narzisstisches Ego wie der Leiter dieser Kommission es hatte. Irgendein Idiot ganz weit oben im Hauptquartier war wohl der Ansicht gewesen, dass ausgerechnet Hayciano der beste Mann für diesen Fall sei. Am Ende des Ganges standen die beiden Flügeltüren des Audimax’ weit offen. Zwei der Einsatzkräfte mit aktivierten Elektrolanzen bewachten sie. Eine Vielzahl Wichtigtuer mit Funksendern am Helm ging leise vor sich hin murmelnd an ihm vorüber. Manche von ihnen trugen reglose Mädchen hinein und bahrten vorsichtig ihre schlaffen Körper im kreisförmigen Rund des Vorlesungssaals auf. Mirko nickte den Wachen zu und trat vollkommen unbehelligt ein. Überall waren Scheinwerfer postiert und tauchten den großen Saal in gleißendes Licht.
Bebrillte Forensiker mit Lupenaufsätzen huschten in weißen Kitteln durch die dichten Sitzreihen, bückten sich hin und wieder mit Pinzetten und kleinen Plastiktütchen in den Händen und sammelten Blutabstriche, Haare und sonstige Beweismittel ein. Moderne Kaffeesatzleser. Mirko empfand nur Verachtung für sie.
„Die Mädchen leben noch“, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihm. „Ihre Vitalfunktionen sind in Ordnung. Es geht ihnen den Umständen entsprechend gut, nur in ihren Köpfen … na ja, wie soll ich es sagen … da ist leider kein Funken Verstand mehr übrig.“
Es war Hayciano. Er stand dort direkt neben ihm, ebenso groß und schlank wie Mirko selbst, aber braungebrannt und die mittellangen, blonden Haare schwungvoll nach hinten gekämmt. Er sah aus wie ein Zuhälter.
„Kommt jetzt die alte Ereschkigalgeschichte?“, gab Mirko mit bissigem Unterton zurück.
Hayciano lächelte. „Wie schlau Sie doch sind, Mirko. Stimmt genau. Die Bestie hat wieder einmal zugeschlagen. In Ihrem Sektor. Doch diesmal sind wir ihr dicht auf den Fersen.“
„Tut mir leid, Hayciano – ich glaube, diesmal täuschen Sie sich. Das hier ist die gleiche Geschichte wie im Schlachthaus letzte Woche. Und das war erwiesenermaßen nicht Ereschkigal.“
Hayciano zog überrascht eine Augenbraue nach oben. „Haben Sie irgendwie ein Problem damit, dass wir in Ihrem Sektor ermitteln? Macht Sie das so stinkig, dass Sie mir jetzt am liebsten einen Eimer voll Scheiße umhängen wollen? Was soll dieser Quatsch mit dem Schlachthaus?“
Mirko nickte. „Ich glaube einfach nicht, dass diese Tat hier auf das Konto von Ereschkigal geht, das ist alles, Hayciano. Und meine Leute glauben es auch nicht. Das hier ist ein neuer Täter, ein Trittbrettfahrer. Nicht Ereschkigal.“
Hayciano lachte und deutete hinüber zu den Schülerinnen. „Sehen Sie sich die Mädchen da unten an. Die haben alle nur noch so viel Hirn wie ein Butterbrot. Wer, frage ich Sie, kann so etwas machen? Wer außer … Ereschkigal?“
Mirko trat näher an Hayciano heran. So nahe, dass er sogar seinen schalen Atem riechen konnte. „Wenn ich beweisen kann, dass dies die Tat eines Anderen ist, dann hat diese Sonderkommission keinen Auftrag mehr. Dann können Sie Ihre Koffer packen und zurück ins Zentrum kriechen.“
Zwischen den verschiedenen Polizeisektoren in Sternenheim herrschte traditionell schon eine starke Rivalität, aber nur das Zentrum, der Innere Sektor, durfte überall in Sternenheim ermitteln. Das war bei den anderen Sektoren nicht gern gesehen.
„Schwachsinn, Mirko. Es gibt keinen Trittbrettfahrer. Sie haben ihn erfunden. Er existiert nur in Ihrer Phantasie.“
„Ach, ja? Ich habe einen Antrag auf eine richterliche Verfügung in meiner Tasche, Hayciano. Wenn ich beweisen kann, dass diese Tat in dieser Schuleinrichtung auf das Konto eines anderen Täters geht als Ereschkigal, dann ist das hier für Sie vorüber. Aus und vorbei.“
Hayciano machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ja, ja. Nur zu … Sie werden nichts finden, was auf einen anderen Täter hindeutet. Aber es wird mir eine Freude sein, zu sehen, wie Sie sich in ganz Sternenheim lächerlich machen.“
Mirko ging wortlos an Hayciano vorbei, doch der Leiter der Sonderkommission ergriff ihn am Arm und hielt ihn kurz zurück. „Noch was, Mirko …“, flüsterte er ihm ins Ohr. „Fummeln Sie mir nicht zu toll an den Mädchen da unten rum. Die sollen schließlich unbefleckt ihren Eltern übergeben werden.“
„Wenn ich mir so dein überaus missgelauntes Gesicht anschaue, dann fürchte ich, dass du noch nicht allzu viel in dieser Internatsangelegenheit herausgefunden hast“, sagte Lou Mirko, Eds Vater, und seine wulstige Unterlippe bebte dabei, als würde er gleich anfangen zu lachen. Sie saßen in der spartanischen Küche über dem Theater und tranken Wein.
„Verdammt noch mal …, Ed, sieh dich doch mal an. Du bist nur noch ein Schatten deiner Selbst. Ich habe dich nie gebeten, Polizist zu werden, wie du weißt. Ich wollte, dass du dich vielmehr für die Kunst entscheidest; du warst immerhin ein verdammt begabter, junger Mann. Deine Mutter, oh, versteh mich bitte nicht falsch, sie ist natürlich immer anderer Ansicht gewesen, aber ihr Faible für Uniformen, für all diesen Scheiß … für Prinzipien, für Recht und Ordnung, das hat dich mehr beeinflusst, als es sollte.“ Lou winkte ab. „Zugegebenermaßen habe ich mich nicht wirklich um deine Erziehung gekümmert, du weißt ja, wie es mit deiner Mutter so war … Widerstand zwecklos. Sie hätte es nicht zugelassen, dass ich mich in ihre Entscheidungen einmische. Nun, wenn ich dich jetzt so ansehe, dann glaube ich, ich hätte mich mehr über ihre Prinzipien und Hirngespinste hinwegsetzen müssen.“
Ed Mirko musterte seinen Vater. Er sah das gleiche lange und kantige Gesicht, die gleichen schweren Augen – aber trotz aller Ähnlichkeit war sein Vater niemals ein Vorbild für ihn gewesen und würde es auch nie sein. Er war vielmehr ein furchtbar anachronistisches Wesen; ein Überbleibsel aus einer längst vergangenen Kindheit, in der Auftritte in geflickten Gauklerkostümen auf grell beleuchteten Bühnendielen an der Tagesordnung gewesen waren; ein Künstler, ein Mondbewohner; einer, der der Realität von Anfang an Lebewohl gesagt hatte und stattdessen im Reich der Feen lebte. Lou war verträumt, wenn er lächelte, und melancholisch verklärt, wenn er der Wirklichkeit ins Auge zu blicken hatte.
Die Polizei, jener Hort kalter Bürokratie, in der Verbrechen und Gewalt verwaltet wurden, bedeutete für ihn schlicht und einfach die Negation all seiner Werte. Es gab wohl nur wenig, was Lou mehr enttäuscht hatte als die Entscheidung seines Sohnes, Polizist zu werden. Ed wusste das. Lou hatte den Tod seiner Frau nie überwunden, und dass Mäii Mirko nicht mehr unter ihnen weilte, war vor allem die Schuld der Behörde. Die meiste Zeit über war sie mit extrem gefährlichen Einsätzen betraut gewesen. Einsätze, die selbst vielen männlichen Kollegen als zu riskant erschienen waren. Hätte sie sich nur weiterhin für den Innendienst entschieden, so wie am Anfang ihrer Berufslaufbahn, hatte Lou oft geklagt, dann wäre sie vielleicht noch am Leben. Doch sie war eine überdurchschnittlich gute Ermittlerin und ihre Quote war außerordentlich hoch, sodass man auf ihren Spürsinn nicht hatte verzichten können. Für Ed und das ganze Polizeirevier blieb Mäii eine Heldin, für Lou war sie nur mehr eine kleine, schwarze Urne über der Küchenablage.
In Pflichterfüllung gestorben stand in der kurzen Pressemitteilung, aber diese Worte waren für den alten Mann nichts weiter als schmerzhafte Schläge ins Gesicht gewesen. Dass sein einziger Sohn die Schauspielerei aufgegeben hatte und der toten Mutter in den Polizeidienst gefolgt war, hatte ihm schließlich den Rest gegeben.
„Mach dir keine Sorgen um mich, Vater. Es läuft ganz gut …“, murmelte Ed und hob das halbleere Weinglas. Er nippte daran und starrte aus dem Fenster. Ein rechteckiges Feld voller Finsternis, in dem nichts zu sehen war. „Wir kommen ganz gut voran. Es gibt einige Hinweise, dass es sich bei den Mädchen und dem Schlachthof-Fall um den gleichen Täter handelt. Und damit meine ich nicht Ereschkigal.“
Lou runzelte die Stirn. „Warum hörst du nicht endlich auf, dich zum Affen zu machen? Die Beschreibung des Tathergangs und die Art der Vorgehensweise passen doch genau zu Ereschkigal …“ Er schüttelte den Kopf. „Warum willst du das denn nicht einsehen? Kämpfe nicht gegen Windmühlen, Junge. Es sieht nicht danach aus, als gäbe es noch einen anderen Täter.“
„In dem Fall müsste ich wohl Hayciano den Arsch küssen“, räumte Ed kurz angebunden ein. Sein Vater war seit jeher davon überzeugt, dass Ed sich lächerlich machte. Heute schien er den endgültigen Beweis dafür bekommen zu haben. Und verdammt noch mal, vielleicht hatte er sogar recht. Vielleicht war es tatsächlich Ereschkigal gewesen und er saß einem Hirngespinst auf. Die Begegnung mit Hayciano im Audimax war zunächst zufriedenstellend verlaufen. Ed hatte seinen Leuten das Standortsignal übermittelt und sie waren alle nach und nach ins Audimax geeilt, um ihm diskret die Ergebnisse ihrer Spurensuche mitzuteilen. Unter allen Umständen Fakten sammeln, war Mirkos Devise und seine Leute waren fleißig gewesen. Jede noch so kleine Information konnte ihnen dabei helfen, Hayciano und seinen Speichellecker Minkertmann wieder nach Hause zu schicken.
„Im Waschkeller ist die Nordwand eingebrochen“, hatte ihm einer seiner fähigsten Leute, Nermin Vilhova, mitgeteilt. „Wir haben die gleichen Schleimspuren entdeckt wie im Schlachthaus.“
„Gute Arbeit, Nerm. Das ist der Hinweis, den ich mir erhofft habe. Verteilt euch wieder unauffällig im Gebäude. Sucht weiter. Wir treffen uns in einer Stunde im Untergeschoss. Sonst noch was?“
Yan Solski mit seiner kaum gebändigten Zottelmähne und seiner großen Nase beugte sich zu ihm vor. „Schleimspuren finden sich auch in den Gängen zu den Mädchenzimmern, ebenso in einigen Räumen der Lehrer und in den Toiletten.“
„Was haben Haycianos Männer dazu gesagt?“, wollte Mirko wissen.
Solski schüttelte den Kopf. Seine Augen blitzten. „Sie haben sie entweder nicht bemerkt oder glatt ignoriert. Ich denke, die sind mit den vielen Mädchen erst einmal vollauf beschäftigt.“
Eine Stunde später hatten sie sich im weitläufigen Keller des Internats eingefunden.
„Wie lange haben wir, bis Haycianos Leute hier sind?“, fragte Ed. „Sind sie euch gefolgt?“
„Fünf … zehn Minuten vielleicht“, vermutete Vilhova. „Ja, sie haben uns die ganze Zeit im Auge behalten. Ahnten wohl, dass wir auf etwas Bestimmtes aus sind. Wir konnten sie kaum abschütteln. Aber dann sind wir schnell über die Lieferantenzugänge in den Keller entschwunden. Ich denke, wir haben genug Zeit für eine kurze Durchsuchung, ehe sie hier auftauchen werden. Bag, Noran, Krest und Mulik, nehmt euch die Ostseite vor – Gert, Yan und Ripp, die Westseite. In fünfzehn Minuten treffen wir uns wieder hier.“
Die Männer nickten und eilten davon.
„Wie sieht es aus Ed? Schauen wir uns den Durchbruch an?“ Vilhova winkte, ließ aber seinem Chef den Vortritt. Der Nebenraum, der sich jetzt vor ihnen weitete, erwies sich als ein langer, rechteckiger Saal, von oben bis unten gekachelt in glänzendem Weiß.
Der Ort, an dem sich die Mädchen geduscht haben, dachte Mirko überrascht. Wie schlicht.
An den Wänden waren in gewissen Abständen Duschstrahler montiert. Gekrümmte Messingrohre mit einfachem Auslass. Kein Luxus, lautete eines der ungeschriebenen Gesetze des Hauses.
Im fahlen Schein der kalten Neonröhren sah Mirko am Ende des Raums das klaffende Loch: Große Teile der Nordwand waren verschwunden und lagen als Schutt auf dem Schachbrettmuster des Fußbodens. Die Luft war immer noch durchsiebt von feinem Staub. Ed zückte seine Kamera und machte einige Orientierungsaufnahmen. „Interessant …“, murmelte er.
„Hier, Ed …“, rief Vilhova, nachdem er sich umgesehen hatte. „Sieh dir das mal an …“
Mirko stieg vorsichtig über zwei, drei herausgebrochene Backsteine und trat zu seinem Kollegen. Vilhova deutete mit dem Finger auf den Fußboden. „Sieht aus wie Blut.“
Ed beugte sich vor, kniff die Augen zusammen und versuchte die Flecken genauer in Augenschein zu nehmen, aber Vilhova hielt ihn zurück. „Nein … nicht. Ich glaube, es bewegt sich.“
Mirko biss sich auf die Unterlippe. Das hatte es beim Fall im Schlachthaus nicht gegeben. Ein kurzer Anflug von Panik erfasste ihn. War das hier doch das Werk von Ereschkigal?
Vilhova klappte das Sichtvisier seines Datenhelmes herunter und starrte auf die Inlet-Displays. „Es ist tatsächlich Blut. Ziemlich dunkel, fast schwarz … aber kein Grund zur Sorge Ed … nur Blut.“
Mirko aktivierte den Sprechfunk. „Ripp, hier Ed. Wir sind am Wanddurchbruch. Wir brauchen dich. Beweissicherung.“
Jetzt würden es Hayciano und seine Leute nicht mehr schwer haben ihren Standort zu ermitteln, denn alle lauschten dem gleichen Frequenzband. Aber Ed brauchte Ripp. Ohne eine fachgerechte Fernanalyse wollte er die Flüssigkeit nicht näher in Augenschein nehmen.
Ripp und seine zwei Begleiter erschienen kurz darauf. Sie montierten flink drei schwarze Teleskopstangen zu einem Dreibein. Anschließend legte Ripp ein vage an ein Gewehr erinnerndes Gerät darauf und arretierte es mit einem Gewinde an der Unterseite. Dann richtete er die Mündung genau auf den Punkt, auf den Vilhova deutete. Ripp klappte ein buntes Kontrollpaneel seitlich am Gewehr auf. Bunte Lichter blinkten. Mirko war wie jedes Mal irritiert. Zentrumstechnologie. Geräte dieser Art wurden in geheimen Fabriken des Inneren Sektors gefertigt, so wie die ganze übrige Polizeiausrüstung auch. Niemand im Nordwestsektor wusste, wie diese Dinge funktionierten, denn das Wissen darüber war streng geheim, aber das Gerät, das Ripp jetzt so flink bediente und das selbstverständlich, wie Mirko jetzt beobachtete, mehrfach verplombt war, lieferte sensationelle Ergebnisse. Das allein zählte.
„Da ist ein schwach gekrümmtes Entropiefeld“, entfuhr es Ripp. „Das dürfte auch der Grund dafür sein, warum sich das Blut bewegt. Was immer es ist, es muss aus den Entropischen Zonen kommen.“
„Sieht nicht unbedingt nach Ereschkigal aus, würde ich sagen“, überlegte Vilhova laut und klappte seinen Helm zurück. „Ed?“
„Auf jeden Fall stammt es vom Täter. Er muss sich verletzt haben, als er hier durch die Mauer ins Gebäude eingedrungen ist. Wir benötigen eine Probe davon, dann sehen wir weiter …“
Ripp schien nicht überzeugt. „Soll das dort wirklich Blut sein? Welche Kreatur hinterlässt denn Blut mit solchen Eigenschaften, wenn nicht ein Schattengänger?“
„Also, Leute … ich bin kein Wissenschaftler und von Schattengängern verstehe ich nichts, aber spontan würde ich auf Ereschkigal tippen“, murmelte Yan nachdenklich und räusperte sich, als die anderen ihn überrascht anstarrten. Dann zuckte er die Schultern. „Ich glaube zumindest, Ripp hat recht. Das ist bestimmt kein menschliches Blut.“
„Die Indizien sprechen für mich zumindest für den Täter im Schlachthaus“, konterte Mirko kühl. „Die ganze Vorgehensweise ist ähnlich.“
„Tz, tz … Sie können es wohl nicht lassen, Mirko, was? Diese Blutprobe, die Sie mir freundlicherweise jetzt überlassen werden, meine Herren, ist auf jeden Fall für unsere Ermittlungen von größter Wichtigkeit.“ Hayciano stand hinter ihnen und lächelte.
„Diese richterliche Verfügung, mit der du ihm gedroht hast – die ist doch nur heiße Luft, nicht wahr?“, riss Lou ihn aus seinen Gedanken.
Ed starrte seinen Vater verwundert an. „Wie meinst du das?“
„Als du Hayciano angedroht hast, dass er seine Koffer packen soll … glaubst du das wirklich? Ist es dir ernst damit, einen Krieg mit dem Inneren Sektor anzufangen?“
„Vater …“ Ed fühlte sich plötzlich müde. „Warum reden wir nicht über irgendetwas Anderes?“ Er griff nach der geöffneten Weinflasche. „Was macht denn dein neues Stück? Dein Bühnenbild erinnert mich an früher … pompös und ausdrucksstark. Ich habe einige deiner Schauspieler mit Kostümen im Hof gesehen. Wird wohl eine große Nummer, was?“
„Du zielst jetzt auf meine Eitelkeit. Ich habe dich durchschaut, mein Lieber … Aber ja … es wird eine große Nummer. Weißt du, ich habe in den letzten Jahren Aufzeichnungen einer alten Legende ausgegraben. Etwas Wunderbares. Wahre Dichtkunst. Fast zweitausend Jahre alt.“ Lou grinste wie ein Kind und Hayciano, Ereschkigal und der Polizeidienst schienen mit einem Mal vergessen. „Es ist die Geschichte vom Heiligen Gral, einem seltsamen Kelch, um den sich viele Legenden ranken. Ich verquicke sie zu einer völlig neuen Vision, einer noch nie erzählten Geschichte, und hoffe so, das Prospero wieder vollzukriegen. Die Menschen in dieser Stadt leiden nämlich unter der Trennung von der alten Welt, der Erde vor To mega Therion.“
„Ich weiß nicht …“
„Es ist ein Mysterium, Ed. Ein Traumgespinst am Rande der Wahrnehmung … Etwas, das tief in uns verborgen schlummert. Ja, so muss es sein … eine Erinnerung an die Präzeit. Der Gral, so die Botschaft des Stückes, wird die Menschen wieder mit der alten Welt vereinen. Sie wieder glücklich machen. Die Menschen von Sternenheim brauchen solche Geschichten.“ Lou seufzte. „Selbst die Agenturen sagen, dass damit was zu reißen ist. Wäre schön, wenn es ein bisschen Geld rein brächte … Weißt du, wir haben einiges zu renovieren im Prospero. Das Foyer, die Vorhänge, die Seilzüge. Seitdem deine Mutter nicht mehr am Leben ist, haben sich unsere Einkünfte halbiert … und in den letzten Jahren blieben immer mehr Gäste dem Theater fern. Es ist nicht so gut gelaufen … Die Mitarbeiter sind unerbittlich. Sie wollen immer mehr Geld, seitdem sie gewerkschaftlich organisiert sind. Und dann haben sie im Industriehafen und in Kikus diese neuen Häuser mit den riesigen Bühnen hochgezogen, du hast sie bestimmt gesehen … doppelt und dreimal so groß wie das Prospero. Was soll ich sagen …? Seitdem ist alles anders geworden, es geht fast nur noch bergab.“
Ed war erstaunt. „Du bist pleite? Warum hast du nichts gesagt?“
„Ich bitte dich, was hätte ich sagen sollen? Du bist Polizist. Du verstehst nichts vom Theatergeschäft. Polizisten sind Geister, die von der Welt der Kunst nicht berührt werden.“ Er lachte kurz über sein kleines Bonmot. Dann hielt er inne, holte kurz Atem und sagte: „Was hätte ich auch sagen sollen? Bitte verhafte jemanden für mich und zwinge ihn, an den Aufführungen teilzunehmen, damit es wieder in der Kasse klingelt? Ich habe von dir niemals Hilfe erwartet. Nicht für die Unternehmungen eines alten Narren.“
„Lou … Ich bin kein Geist. Und bitte … denke nicht schlecht über die Polizei. Mutter hätte nicht gewollt, dass du so etwas sagst.“ Ed schüttelte den Kopf. „Sie hat ihren Beruf geliebt. Und ich liebe ihn auch. Trotzdem hättest du etwas sagen müssen. Ich hätte etwas für dich tun können.“
Lou hob sein Weinglas. Drehte es langsam im Licht der Küchenlampe. Er starrte hinein, als gelänge es ihm, darin Wahrheit zu entdecken.
Wie oft hat er sich schon nachgeschenkt, fragte sich Ed plötzlich. Wie lange ertränkt er die Tatsache, dass das Prospero vor dem Aus steht, im Alkohol?
„Das sind Angelegenheiten eines Künstlers … nicht eines Polizisten.“
Ed trank aus und stand auf. „ Wie du meinst, Vater. Ich weiß, was du sagen willst. Es ist immer das Gleiche. Es ist letztendlich alles meine Schuld, nicht wahr? Ich habe meine Existenz als Schauspieler weggeworfen. Habe aufgehört, an deine Ideale, an dein Theater und an deine Kunst zu glauben. Ich war so vielversprechend als Kind … Die Zuschauer liebten mich, ein Wunderkind geradezu … Beinahe jedenfalls – nur dass ich es selbst leider nie so gesehen habe. Aber damals wollte ich dir unbedingt gefallen. Erst nach Mutters Tod habe ich zu mir selbst gefunden.“
„Nein, warte …“ Lou hob abwehrend die Hände.
„Ist schon gut. Es war ein langer Tag … du weißt ja: Ich bin Polizist. Warst ja lange selbst mit einer Polizistin verheiratet. Vielen Dank noch für den Wein, Lou. Es war schön, dich mal wieder gesehen zu haben.“
Die vergangenen Jahre hatten eine Mauer zwischen ihnen errichtet, die einzureißen vermutlich mehr Stärke erforderte, als er oder der alte Mann aufzubringen vermochten.
Lou seufzte, rang sich ein Lächeln ab und umklammerte sein Manuskript, als wäre es das Letzte, was ihm von allen Dingen noch geblieben war, während er seinen Sohn zur Tür begleitete. „Gute Nacht, Ed.“
„Gute Nacht, Vater.“