Читать книгу Schweizerische Demokratie - Sean Mueller - Страница 11

Оглавление

Kapitel 3: Das Volk

«Wenn Sie in der Politik etwas gesagt haben wollen, fragen Sie einen Mann. Wenn Sie etwas getan haben wollen, eine Frau.»

Margaret Thatcher, britische Premierministerin

«Es gibt wohl ausser der Schweiz kein Land in der Welt, das eine so sonderbare Mischung wahrer Natur und menschlicher Industrie darböte.»

Jean-Jacques Rousseau, Philosoph

A. Wer ist das Volk?

«Alle staatliche Macht geht vom Volke aus» – dieser Satz drückt einen Kerngehalt von Konstitutionalismus und Demokratie gleichzeitig aus: Jede politische Herrschaft beruht auf dauerhaften Einrichtungen und auf Entscheidungen, die sich durch den Willen des Volkes zu legitimieren haben. Doch wer ist das Volk? Die formale Antwort ist einfach: alle Stimm- und Wahlberechtigten. Wer aber konkret das Recht hat, an der Demokratie teilzunehmen, war gleichzeitig eine theoretische Streitfrage wie auch ein ständiger Konflikt in der realen Demokratie. Die europäischen Theoretiker liberaler Demokratie des 19. Jahrhunderts sahen die Demokratie als Einrichtung zum Schutz des aufstrebenden Bürgertums. So rechtfertigten sie die realen Beschränkungen des Zensus, der das Wahlrecht nur dem wirtschaftlich selbständigen, verheirateten und männlichen Familienoberhaupt gewährte. Fielen die politischen Rechte auch den Lohnabhängigen zu, so würden diese die Vermögenden enteignen und die «Demokratie als Schutz des Bürgertums» wäre gefährdet. John Stuart Mill war einer der Ersten, die, mit dieser Antwort unzufrieden, als liberale Theoretiker eine Ausweitung hin zum allgemeinen Erwachsenenwahlrecht forderten – freilich mit der interessanten Differenzierung nach geistigem Vermögen: Die gut Ausgebildeten hätten ein mehrfaches, die gering Gebildeten ein einfaches Wahlrecht gehabt (Macpherson 1983). Heute sieht die Demokratietheorie in der geschichtlichen Auseinandersetzung vom beschränkten zum allgemeinen Erwachsenenwahlrecht einen der bedeutsamsten Prozesse politischer wie gesellschaftlicher Demokratisierung. Das Prinzip der «Inclusion», von dem der amerikanische Theoretiker Robert Dahl (1989:119 ff.) spricht, hat sich gegen alle Formen des Zensus durchgesetzt und die Diskriminierungen von Geschlecht, Religion oder Hautfarbe hinter sich gelassen. Dieser geschichtliche Prozess ist jedoch keineswegs abgeschlossen: Noch sind in den meisten Demokratien jene Personen von der Teilhabe ausgeschlossen, die zwar als Einwohner Steuern bezahlen und die meisten zivilen Rechte geniessen, jedoch als Ausländer die Staatsbürgerschaft nicht besitzen. Gleichzeitig wollen viele im Ausland ansässigen Staatsbürger ihre politischen Rechte und Pflichten in ihrer ursprünglichen Heimat wahrnehmen. Und schliesslich könnte man sich auch denken, dass eines Tages zwar nicht Unmündige selbst, aber Eltern stellvertretend für ihre Kinder ein Wahl- und Stimmrecht ausüben, bevor diese mündig sind.1

In der Schweiz sind gegenüber dieser allgemeinen Entwicklung vier Punkte zu nennen: Erstens hat sich hier das allgemeine Männerstimmrecht sehr früh durchgesetzt. Die Einschränkungen des Zensus waren relativ selten. Zweitens finden wir einen Pionierkanton des Ausländerstimmrechts, nämlich Neuenburg, der den Ausländern bereits 1849 ein beschränktes Stimm- und Wahlrecht verlieh. Im Gegensatz zu anderen Innovationen hat sich diese Einrichtung aber nicht auf dem föderalistischen Weg verbreiten können. Drittens erfolgte die Einführung des Frauenstimmrechts auf nationaler Ebene im Jahre 1971 sehr spät. Viertens war die Schweiz lange Zeit ein Auswanderungsland. 2015 waren von den fast 750 000 Auslandschweizern rund ein Fünftel (142 000) in einem kommunalen Stimmregister eingetragen und beteiligen sich, als «fünfte Schweiz», am politischen Prozess ihrer Heimat. Zum ersten Mal gelang zudem einem von ihnen, Tim Guldimann (SP), die Wahl in den Nationalrat. Die Punkte zum Ausländer- und zum Frauenstimmrecht sollen kurz kommentiert werden.

1. Ausländerstimmrecht

Wenn Neuenburg den Ausländern bereits 1849 das Stimm- und Wahlrecht in kommunalen Angelegenheiten gab, so hat das seine historische Bewandtnis. Der Bund stipulierte die Niederlassungsfreiheit und die Pflicht, Bürgern aus andern Kantonen die politischen Rechte in Bundesangelegenheiten zu gewähren. Dies wurde nicht überall begrüsst, zumal die Beziehungen zwischen einzelnen Kantonen auch von gegenseitigen Animositäten geprägt waren. Das Argument der Neuenburger lautete nun: Wenn der Bund verlangt, dass kantonsfremden Bürgern politische Rechte gewährt werden müssen, dann ist es nur billig, solche den Ausländern im eigenen Kanton ebenfalls zu geben. Das anfänglich auf die Gemeindeebene beschränkte Stimm- und Wahlrecht für Ausländer wurde 2001 auf die kantonale Ebene ausgeweitet (APS 2000:24). Das Beispiel hat keine Schule gemacht. Zwar gewährt auch der Kanton Jura jenen Ausländerinnen, die seit zehn Jahren in der Schweiz leben und mindestens ein Jahr im Kanton ansässig sind, ein kantonales und kommunales Stimm- und Wahlrecht. Die Kantone Waadt (2002), Genf (2005; nur aktiv) und Freiburg (2006) haben das Stimm- und Wahlrecht für alle Gemeinden eingeführt. Den Gemeinden der Kantone Graubünden (2004), Basel-Stadt (2005) oder Appenzell Ausserrhoden (1995) erlaubt die Verfassung, das kommunale Stimm- und Wahlrecht für Ausländer einzuführen. Die drei Appenzeller Gemeinden Wald (1999), Speicher (2002) und Trogen (2004) haben davon als Erste in der Deutschschweiz Gebrauch gemacht. In den meisten Kantonen und Gemeinden scheiterten Vorstösse zum Stimm- und Wahlrecht für Ausländer jedoch wiederholt im Parlament oder in Volksabstimmungen. Vorlagen des Bundes, die Einbürgerung für Ausländer der zweiten oder dritten Generation stark zu erleichtern und sie auf diese Weise politisch zu integrieren, hatten erst 2017 (Teil-)Erfolg. Hingegen gibt es in der ganzen Schweiz Kirchgemeinden beider Konfessionen, die das Ausländerstimmrecht kennen.

In der Schweiz – mit einem Ausländeranteil von rund 25 Prozent – wäre das Ausländerstimmrecht von besonderer Relevanz. Befürworter bemängeln, dass heute ein erheblicher Bevölkerungsanteil, der bedeutende Leistungen in Wirtschaft und Gesellschaft erbringt, von der politischen Partizipation ausgeschlossen ist. Die heutige Rechtslage ist zudem in einem wichtigen Punkt inkonsistent: Ausländer in der Schweiz zahlen hier Steuern, haben aber kein Stimm- und Wahlrecht; Auslandschweizerinnen dagegen wählen und stimmen, bezahlen aber hierzulande keine Steuern. Das Ausländerstimmrecht wäre auch ein Schritt aktiver Integrationspolitik, an der die Stimmbürgerschaft ein Interesse haben könnte, weil sie der demografischen Alterung des Stimmvolks entgegenwirkt. Offensichtlich überwiegen aber die Bedenken in der Stimmbürgerschaft diese Vorteile. Die Skepsis kann anscheinend auch durch die politologischen Befunde nicht zerstreut werden, wonach das Ausländerstimmrecht keine Veränderungen der parteipolitischen Gewichte bewirkt (Cueni/Fleury 1994:175–183).

2. Frauenstimmrecht

Der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 ging ein langer und schwieriger Prozess voraus. Erste Versuche zur Einführung auf kantonaler Ebene scheiterten 1920/21 in Neuenburg, Basel, Glarus, Zürich, Genf und St. Gallen. 1929 wurde eine mit einer Viertelmillion Unterschriften versehene Petition für ein eidgenössisches Frauenstimmrecht eingereicht. Bundesrat und Parlament reagierten nicht. Erst 1959 kam es zur ersten Bundesvorlage. Die Männer lehnten im Verhältnis 2:1 ab. Im gleichen Urnengang genehmigten allerdings drei Kantone – Basel, Genf und Waadt – sowie eine Reihe von Gemeinden die politische Gleichstellung der Frau. Dies, und die Einführung in weiteren Kantonen, bereitete den Boden für die zweite eidgenössische Abstimmung: 1971 war die politische Gleichberechtigung der Frau erreicht.

Tabelle 3.1: Einführung des Frauenstimmrechts in 21 Ländern

LandJahrLandJahrLandJahr
Spanien1869/1931Österreich1918Italien1946
Finnland1906Irland1918/1922Frankreich1946
Australien1908Niederlande1919Japan1947
Luxemburg1912Deutschland1919Belgien1948
Norwegen1913USA1920Griechenland1952
Island1915Schweden1921Schweiz1971
Dänemark1918Grossbritannien1928Portugal1974

Quelle: Nohlen (1990:33)

Für diesen langen Prozess und seinen späten Erfolg werden unterschiedliche Gründe geltend gemacht. Historikerinnen zeigen, dass es in der Schweiz frühe Frauenbewegungen gab, die aber nach den Rückschlägen in den 1920er-Jahren viel von ihrem Mut verloren hatten, das Frauenstimmrecht überhaupt zu verlangen (Mesmer 1988; Hardmeier 1997). Es sei dahingestellt, ob die schweizerische Gesellschaft in den 1950er-Jahren – verschont von den Sozialkatastrophen der Weltkriege – insgesamt konservativer war als andere, aber in Frauenfragen mag das sicherlich der Fall gewesen sein.2 Als Iris von Roten 1958 ihr Buch «Frauen im Laufgitter» publizierte – ein kritischer und umfassender Bericht zur ökonomischen, politischen und sozialen Benachteiligung der Frau in der Schweiz – wurde das Werk zunächst von der Presse als skandalös zerrissen und die Autorin dann totgeschwiegen.3 Erst 1991 erlebte das Buch eine zweite Entdeckung und wurde als das schweizerische Pendant zu Simone de Beauvoirs «Le deuxième sexe» (1949) oder Betty Friedans «The Feminine Mystique» (1963) gepriesen.

Aus politologisch-theoretischer Sicht, so unsere Hypothese, gab es einen zusätzlichen und bedeutenden Faktor, nämlich das Erfordernis der direktdemokratischen Abstimmung. Das fundamentale Problem der demokratischen Einführung des Frauenstimmrechts lag überall darin, dass zur Entscheidung dieser Frage nur die Männer stimmberechtigt waren. Nirgendwo sonst auf der Welt aber wurde das Frauenstimmrecht durch einen direktdemokratischen Entscheid herbeigeführt. Dieser Umstand führte zu einer grundlegend anderen Entscheidungssituation als in repräsentativen Demokratien.

In Repräsentativsystemen gab es inhärente Anreize für die politische Elite, das Frauenstimmrecht einzuführen: Wer dies mit Erfolg versuchte, hatte eine gute Chance, die nächsten Wahlen – mit den Frauen – zu gewinnen. Die einzige Hürde war, dass die Männer mehrheitlich gegen das Frauenstimmrecht sein konnten – wie in der Schweiz. Diese war in repräsentativen Systemen allerdings gut zu überspringen: Die Partei, die das Frauenstimmrecht wollte, machte in ihrer Wahlplattform die übrigen Punkte ihres Programms so attraktiv, dass sie trotzdem von einer Mehrheit gewählt wurde, die ein saures neben vielen süssen Bonbons in Kauf nahm. Man kann dies theoretisch als «Positiv-Summen-Spiel» bezeichnen: eine Situation, bei der alle Beteiligten etwas gewinnen.

In der direkten Demokratie dagegen gab es kaum einen Anreiz für eine Parlamentsmehrheit, durch die Einführung des Frauenstimmrechts eine folgende Wahl zu gewinnen, denn Wahlen haben grundsätzlich eine geringere Bedeutung. Die direkte Demokratie bot auch keine Möglichkeit, den abstimmenden Männern den Verlust ihres Privilegs durch ein Kompensationsgeschäft zu versüssen; anders als Wahlprogramme erlaubt die Volksabstimmung zu einem einzigen Thema keine Kompensationsgeschäfte. Theoretisch war dies also ein Null-Summen-Spiel: Die eine Seite verlor (ihr Machtprivileg), was die andere Seite gewann (die politischen Rechte). So blieben als Ausweg nur die langfristige Überzeugungsarbeit, die zunehmende «Normalität» des Frauenstimmrechts in mehreren Kantonen und vielen Gemeinden sowie der allgemeine Wandel gesellschaftlicher Anschauungen über das Verhältnis von Frau und Mann.4 Dabei hat der Föderalismus eine zwiespältige Rolle gespielt. Einerseits erlaubte er die fortbestehende Benachteiligung von Frauen in den Territorien konservativer Gesellschaft (Ballmer-Cao 2009), andererseits war er eben hilfreich zur Bildung von Brückenköpfen eines politischen Wandels von unten, der erdauert werden musste.

2016 lag der Frauenanteil im Nationalrat mit 32 Prozent trotz später Einführung des Stimm- und Wahlrechts über dem OSZE-Durchschnitt (26 %) aber unter dem der Nachbarländer Frankreich (36 %), Italien (31 %), Österreich (31 %) und Deutschland (37 %).5 Gesetzliche Massnahmen wie die Festlegung von Mindestquoten für die Vertretung der Frauen in den Bundesbehörden waren politisch chancenlos: Eine entsprechende Volksinitiative scheiterte 2000 deutlich in der Volksabstimmung (APS 2000: 32–33). So bleiben Bemühungen zur Erhöhung des Frauenanteils im Wesentlichen eine Aufgabe der politischen Parteien. Bei der Linken und den Grünen, welche konsequent Frauenförderung betreiben, erreichen Frauen nicht selten paritätische Vertretung – in der nationalrätlichen Fraktion der SP stellen sie seit Oktober 2015 sogar die Mehrheit. Waren direkte Demokratie und beschränkter Parteienwettbewerb der Einführung der politischen Rechte der Frauen eher hinderlich, so begünstigt umgekehrt das Proporzwahlrecht den Einzug der Frauen in die Politik, vor allem in Wahlkreisen mit grösserer Sitzzahl, wie folgende Tabelle zeigt. Der Frauenanteil ist tendenziell höher in den proportional bestellten Parlamenten als in den Exekutiven, für die zumeist nach dem Majorzprinzip gewählt wird. Sodann ist bei Majorzwahlen mit kurzfristig starken Veränderungen zu rechnen. So waren 2003 23,9 Prozent der Ständeräte Frauen, dagegen fand sich im Bundesrat nur ein einziges weibliches Mitglied (14,3 Prozent). Dafür erreichten die Frauen 2010 mit der Wahl Simonetta Sommarugas (SP) in den Bundesrat das erste Mal – und auch nur für kurze Zeit – eine Mehrheit im 7-köpfigen Gremium: Dies ein Vierteljahrhundert, nachdem 1984 mit Elisabeth Kopp die erste Frau in den Bundesrat gewählt worden war.

Tabelle 3.2: Frauenrepräsentation in den Behörden von Bund, Kantonen und Gemeinden (Stand: 24. April 2016)

BehördeZahl der SitzeFrauenanteil
Bundesrat728,6 %
Nationalrat20032,0 %
Ständerat4615,2 %
Kantonsregierungen15224,0 %
Kantonale Parlamente260925,6 %
Exekutiven zehn Städte (2015)6227,4 %
Parlamente zehn Städte (2015)77650,1 %

Quellen: BFS (2016a), eigene Berechnungen. Zu den Städten zählen wir Zürich, Genf, Basel, Lausanne, Bern, Winterthur, Luzern, St. Gallen, Lugano und Biel/Bienne (>50 000 Einwohner).

B. Die Wählerschaft

1. Politische Kultur: Einige Einstellungen und Werthaltungen im internationalen Vergleich

Unter politischer Kultur kann die Gesamtheit der Werthaltungen, Einstellungen und im weiteren Sinne auch der Verhaltensbereitschaft der Bürgerschaft zur Politik und zu ihrem politischen System verstanden werden.6 Es gibt wenig systematische Untersuchungen, die zeigen könnten, wie sich das Demokratie- und Politikverständnis in der Schweiz von demjenigen anderer Länder unterscheidet.7 Umfrageergebnisse aus dem European Social Survey (2014), in welchem die sozialen und politischen Einstellungen der Bevölkerung aus über 20 europäischen Staaten untersucht werden, zeigen einige interessante Unterschiede gegenüber zwei Nachbarn der Schweiz sowie Schweden.

Zunächst fällt die hohe Zufriedenheit der Schweizerinnen und Schweizer mit der Demokratie auf (84 Prozent). Das sind deutlich mehr als in Deutschland, Frankreich und sogar Schweden. Auch in konkreteren Fragen erscheint das Vertrauensfundament schweizerischer Demokratie vergleichsweise gross: Bürgerinnen und Bürger setzen hohes Vertrauen in Polizei, Gerichte und Parlament. Selbst das Vertrauen in eine internationale Organisation wie die UNO ist in der Schweiz leicht höher als in den zwei Nachbarländern, aber tiefer als in Schweden. Allerdings bekunden Schweizerinnen und Schweizer kein deutlich höheres Interesse für Politik. Auch die Verbundenheit mit einer politischen Partei ist in der Schweiz nicht stärker verbreitet als in Frankreich und Deutschland. Hingegen unterscheiden sich die Länder in Umverteilungsfragen, wo sich die grundsätzliche Staatsskepsis der Schweizerinnen und Schweizer zeigt. Bei Betrachtung der generellen Wertorientierung fällt auf, dass in der Schweiz die politische Mitte relativ gross ist und dass die rechte Grundorientierung doppelt so stark verbreitet ist wie in Deutschland. Gleichzeitig finden sich in der Schweiz am wenigsten Bürgerinnen und Bürger mit linker Grundorientierung.

Tabelle 3.3: Politische Einstellung, Werthaltungen und politische Kultur: Vergleichsdaten aus der Schweiz, Deutschland, Frankreich und Schweden (in Prozent)

SchweizDeutschlandFrankreichSchweden
Allgemeine Einstellung
ziemlich/sehr an Politik interessiert61674568
Zufriedenheit mit Demokratie84583275
Viel Vertrauen in Parlament66452666
Viel Vertrauen in politische Parteien4323944
Viel Vertrauen in PolitikerInnen4824943
Viel Vertrauen in Gerichtssystem72584869
Viel Vertrauen in die Polizei82756577
Viel Vertrauen in die UNO48374468
Parteiverbundenheit, Wertorientierungen und politische Ideologie
ParteisympathisantInnen56585377
Wertorientierung Links (0–3)20292528
Wertorientierung Mitte (4-6)57594841
Wertorientierung Rechts (7–10)24122731
Regierung sollte Einkommensunterschiede reduzieren59737067
Wegen der Zuwanderer lässt es sich schlechter leben1520237

Quellen: Ehrler et al. 2016, ESS 2014, eigene Berechnungen

Allerdings kann man in der Schweiz nicht von einer homogenen politischen Kultur sprechen. Die Sprachräume spielen eine wichtige Rolle. Anhand des Abstimmungsverhaltens in den Fragen des Umweltschutzes, der Öffnung der Schweiz sowie zur Wirtschafts- und Sozialpolitik lassen sich drei unterschiedliche Profile bilden, die man als jeweils eigenständige politische Kultur der Landesteile bezeichnen kann. Auf die Deutschschweiz passen am besten die Attribute wirtschafts- und sozialpolitisch rechts, umweltfreundlich und konservativ-geschlossen. Die italienische Schweiz steht für linke, umweltfreundliche und eher konservativ-geschlossene Anschauungen, die Romandie wiederum stimmt links, zieht individuelle Freiheiten dem Umweltschutz vor und will eine offene Schweiz (Linder et al. 2008:41ff.).

Umfragen deuten in den meisten OECD-Staaten auf ein längerfristig sinkendes Vertrauen in die Politik, in Regierungen und Parlamente. Während die Ansprüche an den Staat steigen, sinkt die Bereitschaft zur politischen Teilnahme. Es wäre indessen verfehlt, solche Trends zu Systemkrisen hochzustilisieren. Zwar sprach man auch in der Schweiz in den sechziger Jahren von der «Vermassungskrise» der Demokratie, nach 1968 von den Legitimations- und Regierbarkeitskrisen des Staats, zehn Jahre später von der Parteienkrise und der Revolution durch soziale Bewegungen und Postmoderne. In den 1990er-Jahren machte die «Krise des Nationalstaats» in der Globalisierungsdebatte Furore. Die seit 2008 noch unbewältigte internationale Finanzkrise schliesslich ist von der dreifachen Frage beherrscht, erstens, wie weit Staaten (und damit die Steuerzahler) für den hinterlassenen Schuldenberg aufkommen müssen, zweitens, ob sie den globalen Finanzkapitalismus in vernünftige Bahnen zu lenken imstande sind und drittens, ob in diesen Bemühungen Demokratie überhaupt noch eine Rolle zu spielen vermag.

2. Politische Teilnahme

Im Gegensatz zum hohen Vertrauen, das die schweizerische Demokratie geniesst, sind Teilnahmebereitschaft und effektive Teilnahme ihrer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger an den Wahlen gering. Wie folgende Grafik zeigt, nimmt heute weniger als die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger an eidgenössischen Wahlen teil. Lange war der Trend der Wahlbeteiligung sinkend – und zwar seit der Einführung des Proporzwahlrechts. Seit Ende der 1990er-Jahre hat sich die Entwicklung jedoch stabilisiert.

Grafik 3.1: Beteiligung an eidgenössischen Volksabstimmungen und Nationalratswahlen, 1919–2015 (in Prozent)


Quelle: BFS (2016a), eigene Berechnungen. Für die Volksabstimmungen wurden Durchschnittswerte über drei (bis 1930) bzw. vier (ab 1931) Kalenderjahre berechnet, zum Beispiel 2011 bis 2015. Letze Periode bis und mit September 2016.

Das Sinken der Wahlbeteiligung ist keine schweizerische Besonderheit; sie hat in den letzten 40 Jahren in geringerem Ausmass auch in anderen Ländern stattgefunden, z. B. in Finnland, den Niederlanden oder den USA. Die Forschung nennt dafür vor allem gesellschaftliche Gründe: Im Zuge des Wertewandels und der Individualisierung löst sich die einzelne Person aus gesellschaftlichen Bindungen. Politische Teilnahme ist vor allem bei den Jüngeren kaum mehr eingebettet in frühere Formen einer Vereinskultur oder des Kirchenbesuchs. Im Übrigen kann die Mitgliedschaft in Vereinen die Bereitschaft zu politischem Engagement sowohl fördern wie auch hemmen. Beide Effekte sind jedoch schwach; insofern können zivilgesellschaftliche Organisationen nur beschränkt als «Schule der Demokratie» angesehen werden (von Erlach 2006). Die Bindungen an eine politische Partei lockern sich. Teilnahme an Wahlen wird nicht mehr als staatsbürgerliche Pflicht aufgefasst, sondern als Option, ein Recht, das man ausüben kann oder nicht. Die «Selects»-Untersuchungen zu den eidgenössischen Wahlen zeigen, dass vor allem noch jene zur Urne gehen, die sich über ein ausgeprägtes politisches Interesse, über grössere politische Kenntnisse und die Identifikation mit einer politischen Partei ausweisen können. Neben diesen politisch-psychologische Faktoren ist auch die Schichtzugehörigkeit von Bedeutung: Unterschichtsangehörige wählen seltener.

Erklärungsbedürftig bleibt aber der beträchtliche Niveauunterschied: Warum liegt die Wahlbeteiligung in der Schweiz heute knapp 20 Prozentpunkte tiefer als im OECD-Durchschnitt, wie Grafik 3.2 zeigt? Dafür werden vor allem institutionelle Gründe angeführt.8 Schweizerische Wahlen sind weniger bedeutsam als Wahlen in einer parlamentarischen Demokratie: Es findet kein Machtwechsel zwischen Regierung und Opposition statt; der Parteienwettbewerb ist begrenzt. Wahlen sind auch entlastet von vielen politischen Konflikten um Sachfragen, die bei anderer Gelegenheit an Volksabstimmungen direkt entschieden werden. Schweizerische Parlamentswahlen sind darum sog. «low salience»-Wahlen, für die eine geringere Beteiligung zu erwarten ist, weil es um weniger geht (Klöti/Linder 1998:304). Derselbe Effekt lässt sich an den Wahlen ins Europäische Parlament feststellen, die, weil weniger bedeutsam für die Wählerschaft, eine erheblich geringere Beteiligung auszulösen vermögen als Landeswahlen in den einzelnen Staaten der EU. Weitere Plausibilität erhält die «low-salience»-These vor dem Hintergrund der Arbeiten des holländischen Wahlforschers Oppenhuis (1995:69 ff.). Dieser findet für die europäischen Parlamentswahlen ähnliche politisch-psychologische Faktoren der Teilnahmebereitschaft wie die Selects-Studien für die Schweiz, nämlich politisches Interesse und Parteinähe.

Vereinfacht lässt sich sagen, im Trend der seit dem Zweiten Weltkrieg tieferen Wahlbeteiligung drücke sich ein allgemeiner gesellschaftlicher Wandel aus, den die Schweiz mit anderen Industriegesellschaften teilt, während das tiefere Niveau gegenüber anderen Ländern vor allem auf die politisch-institutionelle Besonderheit einer geringen Bedeutung der Parlamentswahlen zurückzuführen ist. Zum jüngsten Wiederanstieg der Wahlbeteiligung seit 1995 hat laut Lutz (2008) die zunehmende Umstrittenheit der Bundesratswahlen im Parlament beigetragen, der mit der Abwahl amtierender Bundesräte (Ruth Metzler 2003 und Christoph Blocher 2007) eingesetzt hatte. Daneben sind seit der Jahrtausendwende ein deutlich gesteigerter Parteienwettbewerb und eine verstärkte politische Polarisierung zu verzeichnen, welche nicht nur den traditionellen Links-rechts-Gegensatz betreffen, sondern auch das bürgerliche Lager gespalten haben (Mueller et al. 2016). Dies alles begünstigt die Mobilisierung der Wählerschaft.

Grafik 3.2 Wahlbeteiligung bei den letzten Parlamentswahlen und Veränderung seit 1980


Quelle: IDEA (2016), Wahlen 2012–16 und 1979–83 (ohne CL, SI, CZ, SK, HU und EE)

Diese allgemeinen Regelmässigkeiten erklären freilich nicht, warum die Beteiligung in den einzelnen Kantonen um mehr als 40 Prozentpunkte variiert. So gingen bei den eidgenössischen Wahlen von 2015 in Schaffhausen 63 Prozent, in Appenzell Innerrhoden dagegen bloss 37 Prozent der Stimmberechtigten zur Urne.

Bühlmann und Freitag (2006) belegten anhand der Selects-Daten 2003, wie wichtig der kantonale Kontext für die Wahlbeteiligung in der Schweiz ist. Der Beteiligung förderlich sind neben der Wahlpflicht im Kanton Schaffhausen die politische Polarisierung und ein starker Parteienwettbewerb (Selb/Lachat 2004:11–12). Tiefste Beteiligungen gibt es in der Regel bei blossen Bestätigungswahlen, dem Extremfall einer «low salience»-Wahl, in denen wegen fehlender Konkurrenz durch andere Kandidaten keine echte Wahl zustande kommt. Das Schaffhauser Resultat zeigt umgekehrt den hohen Einfluss der Wahlpflicht, die nur noch in diesem Kanton praktiziert wird. Es wäre indessen verfehlt, die Wahlpflicht als alten Zopf abzutun: Wernli (1998:89) belegt, dass in diesem Kanton nicht nur die Wahlbeteiligung, sondern auch das politische Interesse, die politischen Kenntnisse und Parteibindungen grösser sind als in andern Kantonen. Schliesslich behaupten amerikanische Forscher aus dem Vergleich von US-Einzelstaaten, dass ein höheres Mass an direkter Demokratie auch die Wahlbeteiligung stimuliere. Diese These lässt sich für die Schweiz nicht bestätigen – im Gegenteil: Stadelmann-Steffen/Freitag (2009) zeigen im Kantonsvergleich, dass ein leichterer Zugang zur direkten Demokratie (geringere Hürden für Volksinitiativen) mit einer geringeren Wahlbeteiligung einhergeht. Das lässt sich so interpretieren, dass die Stimmbürgerschaft den Wahlen geringere Bedeutung zumisst, wenn sie erwarten kann, mit der direkten Demokratie einen höheren Einfluss auf die Sachentscheide ausüben zu können. Der empirische Befund stützt also die These eines «Trade-offs» zwischen Wahl- und Abstimmungsdemokratie (vgl. Kap. 11, Abschnitt C.2).

Aus den Befunden vergleichsweise tiefer Wahlbeteiligung darf allerdings nicht auf eine generell geringere und sinkende Partizipationsbereitschaft der Schweizerinnen und Schweizer geschlossen werden. Die politische Beteiligung an Aktionen sozialer Bewegungen ist seit den späten 1960er-Jahren stark angestiegen. Der aktive Teil der Bürgerschaft beteiligt sich nicht nur an Wahlen und Abstimmungen, sondern erweitert sein Repertoire durch andere Teilnahmeformen wie das Unterschreiben von Petitionen, das Mitmachen in neuen Bewegungen wie jener der Frauen oder des Friedens, in Umweltorganisationen, der Teilnahme an Demonstrationen oder Streiks, oder dem Boykott bestimmter Konsumgüter. Die Bereitschaft der Schweizerinnen und Schweizer, sich mit unkonventionellen Partizipationsformen (Dalton 2006) aktiv politisch zu beteiligen, ist dabei im europäischen Vergleich hoch, hängt jedoch in ähnlichem Masse wie die Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen vom allgemeinen politischen Interesse ab (Longchamp/Rousselot 2010).

Ähnliche Werte wie die Wahlbeteiligung weist die Stimmbeteiligung an eidgenössischen Volksabstimmungen aus (vgl. Grafik 3.1). Letztere erreichte in den 1970er-Jahren ihren ersten Tiefpunkt (unter 40 Prozent im Durchschnitt einer Legislatur), stieg dann aber wieder an und erreichte zur Jahrtausendwende sogar höhere Beteiligungswerte als in den Nationalratswahlen. Seit 2007 ist die Stimmbeteiligung allerdings wieder wesentlich tiefer als die nationale Wahlbeteiligung. Die längerfristigen Trends der Stimmbeteiligung sagen jedoch nur bedingt etwas über die Beteiligung an einzelnen Urnengängen aus. So oszillierte die Stimmbeteiligung 2003 zwischen 29 und 50 Prozent, und im Februar 2016 kam es gar zu einer überaus hohen Beteiligung von 64 Prozent. Dies rührt daher, dass die Stimmberechtigten nicht an allen Themen gleich interessiert sind. Sie beteiligen sich stärker, wenn sie sich von einem der Themen des Urnengangs besonders betroffen fühlen, dazu eine starke Meinung haben (Longchamp/Rousselot 2010) und/oder das Resultat als wichtig für die Schweiz betrachten.

3. Das Profil der schweizerischen Wählerschaft

a. Sozialstatistische Merkmale:

Als Erstes interessiert die Frage, wie weit sich Frauen und Männer, die verschiedenen Altersgruppen, Bildungs- oder Einkommensschichten einer bestimmten, bevorzugten Partei zuwenden. Dazu finden sich für alle eidgenössischen Wahlen seit 1995 Angaben in den «Selects»-Wahlstudien. Nachfolgend die Daten zu den Nationalratswahlen von 2015.

Die Parteienforschung konstatiert einen langfristigen Wandel der einstigen Milieuparteien hin zu Volksparteien, der sich im Zuge des strukturellen Wandels westlicher Gesellschaften und der zunehmenden Auflösung sozialer Milieus vollzog (Kirchheimer 1965). Diese Entwicklung fand in gewissem Masse auch in der Schweiz statt (anhand der CVP etwa: Altermatt 1989). Tabelle 3.4 zeigt aber, dass sich die Wählerschaft der grossen schweizerischen Parteien in soziodemografischer Hinsicht immer noch unterscheidet. Während die SVP mehrheitlich von Männern unterstützt wird, sehen sich Schweizerinnen eher von der SP und den Grünen vertreten. Altersunterschiede nach Parteipräferenzen gibt es nur geringe; die Wählerschaft der SVP hebt sich hier mit einem etwas grösseren Anteil älterer Bürger von den anderen Parteien ab. Deutlich sind die Unterschiede bezüglich des Bildungsgrades: SP und FDP teilen sich einen vergleichsweise grossen Anteil hoch gebildeter Wähler. Blickt man weiter nach rechts, wird ein grosses Bildungsgefälle ersichtlich: Die SVP-Wählerschaft lässt sich überwiegend bei den Leuten mit Berufslehre verorten. Den grössten Anteil an Wählern mit niedrigem und mittlerem Einkommen weist ebenfalls die SVP aus und nicht etwa die SP. Besser Situierte wählen am ehesten FDP. Wer aber sind die Nichtwähler, welche die Mehrheit der Stimmberechtigten ausmachen?

Tabelle 3.4: Sozialstatistische Merkmale der Wählerschaft der Nationalratswahlen 2015, Angaben in Prozent aller Wählenden pro Zeile

SVPFDPCVPSPGPSAndereAlle Wählenden
GeschlechtMänner32171117518100
Frauen26161221916100
Alter18–24 Jahre2514924919100
25–34 Jahre3212918821100
45–54 Jahre30161317717100
75 Jahre und älter31221118513100
Bildungsgradobl. Schule, Anlehre33122114515100
Berufslehre43131015316100
Tertiärausbildung21191221918100
Einkommenbis 4 00032121122617100
6001–80003113919919100
12 001 und mehr18271417717100
Religionprotestantisch3119417722100
katholisch28162416511100
konfessionslos27143261119100
Zivilstandverheiratet29171317519100
alleinstehend27137221021100

Quelle: Lutz 2016:12

Die Tabelle 3.5 bestätigt zunächst den bekannten Unterschied in den Altersgruppen: Generell ist die Bereitschaft, zur Wahl zu gehen, bei den Jüngeren geringer als bei den Älteren. Ebenso bemühen sich Frauen weniger an die Urne als Männer. Erheblich fallen die Differenzen bei den sozioökonomischen Merkmalen wie Bildung und Einkommen aus. Drei Viertel der Nichtwähler kommen aus unteren bis mittleren Einkommensschichten. Diese und die unteren bis mittleren Bildungsschichten bleiben weitaus häufiger der Urne fern, während Personen mit hoher Bildung oder hohem Einkommen ihr Stimmrecht sehr viel stärker ausüben. Diese sozialen Unterschiede der Wahlbeteiligung sind aus demokratietheoretischen Gründen problematisch, da die Präferenzen bedeutender Bevölkerungsschichten nicht zum Ausdruck kommen und weil sie das Wahl- und Abstimmungsergebnis situativ zu beeinflussen vermögen (Lutz 2004).

Tabelle 3.5: Sozialstatistische Merkmale der Nichtwähler 2015 im Vergleich zu den Wählern. Angaben in Prozent.

NichtwählerWählerAlle Befragten
GeschlechtFrauen575052
Männer425048
Alter18–44563441
45+446659
Bildungtief/mittel624953
hoch385147
Einkommentief/mittel776972
hoch233128

Quelle: Selects (2015); eigene Berechnungen

Trotz sozialstatistischer Gemeinsamkeiten stellt sich die schweigende Mehrheit der Nichtwähler nicht als monolithischer Block dar. Vielmehr lassen sich unterschiedlichste Motive und Beweggründe der Enthaltung feststellen. Diese reichen von allgemeinem Desinteresse über Politikverdrossenheit und sozialer Isolation bis hin zu Inkompetenz, bewusstem Protest und zur Hinwendung zu alternativen Partizipationsformen (Bühlmann et al. 2003; Lutz 2016:9–10).

Angesichts der langfristig zu erwartenden demografischen Überalterung wurden schon Befürchtungen laut, die Demokratie werde zur «Gerontokratie»: Der höhere Anteil älterer Stimmbürger könnte die Jüngeren ausbremsen, zumal sich Letztere weniger an Abstimmungen und Wahlen beteiligen. Möckli (2011) empfiehlt Entwarnung: Die Auswirkungen der demografischen Veränderung in Abstimmungen sind geringer als zumeist angenommen.

b. Allgemeinpolitische Orientierungen und die Bewertung politischer Ziele

Die Wählerschaft der verschiedenen Parteien unterscheidet sich nicht nur soziodemografisch, sondern auch hinsichtlich allgemeiner Werthaltung und Orientierung sowie in der Bewertung konkreter politischer Ziele.

Tabelle 3.6: Allgemeinpolitische Orientierung und Bewertung politischer Ziele durch die Wählerschaft der Regierungsparteien 2015, Angaben in Prozent der Befragten

SPCVPFDPSVPAlle Wähler
Allgemeinpolitische Orientierung
Links84168335
Mitte830161116
Rechts854758649
Bewertung allgemeiner politischer Ziele
höhere Sozialausgaben6025191432
Schweizer EU-Mitgliedschaft361615217
Gleiche Chancen für Schweizer & Ausländer7342432047
Umweltschutz vor Wirtschaftswachstum7650404057
Steuererhöhungen aufhöheren Einkommen8560405564
Für Atomenergie820293520
Bewertung konkreter politischer Ziele
Erhöhung Rentenalter Mann und Frau (z. B. 67)3136443034
Bundesunterstützung für ausserfamiliale Kinderbetreuung8258583761
Verbindliche EGMR-Urteile8464613162
Zweite Gotthard-Röhre5279828068
Ausstieg aus Atomenergie bis 20299070615372
Erleichterte Einbürgerung Ausländer der 3. Generation9471784674
Aufnahme UNO-Kontingentsflüchtlinge8456512055
Aufhebung Bankgeheimnis im Inland6835292744

Quelle: Selects (2015); eigene Berechnungen

Unter den vier Regierungsparteien ist der «alte» Links-rechts-Gegensatz als allgemeine politische Orientierung in der Wählerschaft durchaus präsent. Er bewirkte während Jahrzehnten eine polarisierte Lagerbildung mit den drei bürgerlichen Parteien auf der rechten und mit der linken SP (samt den Grünen) auf der anderen Seite. Bürgerliches und linkes Lager weisen einen geradezu spiegelbildlichen Anteil von Wählerinnen mit linker bzw. rechter politischer Orientierung aus. Die allgemeine Orientierung der Wähler verweist aber auch auf die Spaltung innerhalb des bürgerlichen Lagers: Seit den Wahlen 1995 sammelt die SVP das rechtskonservative Wählerpotenzial, während FDP und CVP, neu aber auch Grünliberale und die 2007 von der SVP abgespaltene BDP, von der bürgerlichen Mitte gewählt werden. Damit hat sich ein «tripolares System» herausgebildet. Dieses System eines Links-, eines Mitte- und eines Rechts-Lagers ist also nicht nur in den parteipolitischen Kontroversen und in der Auseinandersetzung der Parlamentsfraktionen zu beobachten, sondern findet seine Entsprechung auch in der Wählerschaft.

Freilich lassen sich in einzelnen Sachfragen sowohl bipolare wie auch tripolare Muster ermitteln. Tripolarität findet sich in Fragen der Aufnahme von UNO-Kontinentsflüchtlingen, der Verbindlichkeit von EGMR-Urteilen und bezüglich der Chancengleichheit von Ausländern und Schweizern. Hier unterscheiden sich die SP-Wähler am deutlichsten von denen der SVP, während sich FDP- und CVP-Wähler nahe beieinander aber etwa gleich weit von den beiden Polen entfernt finden. Das alte Links-rechts-Muster «SP gegen den Rest» findet sich am stärksten bei klassischen Wirtschaftsfragen wie höheren Sozialausgaben, stärkerer Besteuerung höherer Einkommen oder der Aufhebung des Bankgeheimnisses im Inland. Neuartige bipolare Muster ergeben sich bei einem geteilten Bürgerblock, zum Beispiel bei der Erhöhung des Rentenalters (einzig von FDP-Wählern etwas stärker befürwortet) oder der Nutzung der Atomenergie, Geldern für die ausserfamiliale Kinderbetreuung oder der erleichterten Einbürgerung von Ausländern der dritten Generation, wo die SVP isoliert ist. Aber auch die beiden Mitteparteien sind sich des Öftern uneinig, etwa beim Umweltschutz.

4. Motive des Wahlentscheids

Eine zentrale Hauptfrage politischen Verhaltens lautet: Welche Gründe veranlassen eine Wählerin, ihre Stimme für eine bestimmte Partei abzugeben?

1. Sozial-strukturelle Bindungen: Gemäss der ältesten Schule der internationalen Wahlforschung9 ist die Wählerin eingebunden in gesellschaftliche Organisationen, die ihre individuellen Interessen (z. B. als Unternehmerin, Arbeiterin, Bäuerin) auf politischer Ebene zuverlässig vertritt. Nach dieser Theorie bestimmen gesellschaftlicher Status oder die Zugehörigkeit zu einer Schicht auch den Wahlentscheid. Für den Einfluss der Sozialstruktur sprechen in der multikulturellen Schweiz heute vor allem die sprachregionalen Unterschiede des Wahl- und Abstimmungsverhaltens, die sich historisch nur langsam verändern (Linder/Zürcher/Bolliger 2008:21–65). Während der Mainstream der Umfrageforschung den sozial-strukturellen Merkmalen von Einkommen, Bildung oder Berufsstatus der einzelnen Wähler keine grosse Bedeutung zumisst, zeigt eine vertiefte Studie (Leimgruber 2007), dass der Stadt-Land-Gegensatz auch von sozialen Milieus geprägt ist. So stimmen z. B. Ärzte oder Juristen trotz gleicher Ausbildung in ländlichen Gebieten konservativer als ihre Berufskollegen in der Stadt. Der Effekt ist aber nicht allein einem vorbestehenden Milieu zuzuordnen. In der Entscheidung von Ärzten oder Juristen, in der Stadt oder auf dem Land tätig zu sein, drücken sich nicht zuletzt unterschiedliche Vorlieben für städtisches oder ländliches Sozialleben aus, die auch unterschiedliche politische Präferenzen einschliessen können. Die Stadt-Land-Migration führt damit auch zur Neubildung örtlich-sozialer Milieus. Der Einfluss des Elternhauses auf das Wahlverhalten ihrer Söhne und Töchter wurde erstmals von Linder (1998) untersucht. Die These, wonach der Wahlentscheid der Kinder in hohem Mass durch die politische Sozialisierung durch das Elternhaus mitbestimmt ist, wurde von Lutz (2009) bestätigt. Der Einfluss variiert freilich für verschiedene Parteien und hängt ab vom politischen Interesse im Elternhaus. Am stärksten ist der Einfluss in CVP-parteinahen Elternhäusern von Vätern auf ihre Söhne, und katholische Nachkommen bewahren ihre konservative Neigung häufiger als nicht katholische. Das Elternhaus, so Lutz, ist damit ein wichtiger Faktor für die Stabilität des Wahlverhaltens.

Richten wir den Blick nun auf den Wandel, so haben zwei der historisch bedeutsamsten sozial-strukturellen Bindungen mit der Veränderung der einstigen Milieuparteien zu Volksparteien an Bedeutung verloren. Die SP, einst Arbeiterpartei, vertritt zwar nach wie vor ein dezidiert linkes Programm, ist aber zu einer Partei gut ausgebildeter Berufe vor allem des service public geworden. Am stärksten von der Auflösung ihres einstigen Milieus ist die CVP betroffen. Ihre Mehrheitsstellung in den katholischen Landkantonen hat sie längst verloren, und die religiös ungebundene SVP macht ihr die einstige Stammwählerschaft streitig. Mit einem Katholikenanteil von rund 75 Prozent ist die CVP zwar nach wie vor eine Partei katholischer Wählerinnen und Wähler, aber eben keineswegs die Partei aller Katholiken.

2. Sozial-psychologische Faktoren: Zu diesen gehören das Interesse für Politik, Einstellungen zu bestimmten politischen Themen oder die Sympathie für eine bestimmte politische Partei oder Persönlichkeit. Nach Ansicht des sozial-psychologischen Ansatzes der sog. «Michigan-Schule» bilden sich solche Einstellungen im frühen Erwachsenenalter heraus und bleiben im späteren Leben zumeist konstant. Darum sieht diese Theorie das politische Verhalten weit weniger eingebunden in die vorgegebene Sozialstruktur. Für den Wahlentscheid der schweizerischen Wählerschaft nun erwiesen sich die sozial-psychologischen Faktoren als die einflussreichsten: Die Nähe zu einer politischen Partei bildet das gewichtigste Motiv für den Wahlentscheid. Das ist deshalb erstaunlich, weil die Parteibindungen der schweizerischen Wählerschaft in den letzten 30 Jahren einer starken Erosion ausgesetzt waren. Konnten sich 1971 noch 60 Prozent aller Wahlberechtigten mit einer bestimmten politischen Partei identifizieren, so sank dieser Anteil in den Wahlen von 2015 auf 42 Prozent (eigene Berechnungen basierend auf Selects 1971–2015).

Die internationale Wahlforschung behauptet seit Langem, dass Sachfragen bei der Parteiwahl dann eine Rolle spielen, wenn sie den Wählern gut bekannt sind, Probleme höchster Priorität ansprechen und stark polarisierend wirken (Campbell et al. 1960:170). Gilt das auch für die Schweiz, wo die Stimmbürgerschaft gesondert über Sachfragen abstimmen kann? Empirische Untersuchungen zeigen, dass Wahlen und Abstimmungen keineswegs zwei verschiedene Paar Schuhe sind; jedenfalls werden Wahlen durch die Referendumsdemokratie weniger entlastet, als man dies aufgrund institutioneller Überlegungen erwarten dürfte. So vermochte die SVP bei den vier zurückliegenden nationalen Wahlen mit ihrer pointierten Position gegen die europäische Integration ein zusätzliches Wählerpotenzial zu mobilisieren, während umgekehrt die integrationsfreundliche Wählerschaft bevorzugt FDP oder SP wählte (Kriesi 2005). Hier lässt sich durchaus von einem Realignment (der Neubildung von Parteibindungen) statt von einem Dealignment (deren Schwächung) sprechen, welches sich auf der Basis einer neuen Konfliktlinie pro/kontra aussenpolitische Öffnung vollzieht (Dalton 2006; Ladner 2006; Kriesi 2015).

Der Einfluss einer bestimmten Sachfrage auf den Wahlentscheid ist allerdings nicht konstant. So hat die Präferenz für oder gegen die Nutzung der Kernenergie den Wahlentscheid im Jahr 2003 viel stärker beeinflusst als bei den beiden Wahlen zuvor (Selb/Lachat 2004:24–25). Das stimmt überein mit Campbells These: Die Wahlen 2003 fanden nur wenige Monate nach zwei Volksabstimmungen über die Atomfrage statt, während 1995 und 1999 das Thema der Kernenergie nicht auf der politischen Traktandenliste stand. Die japanische Kernkraft-Katastrophe Fukushima im März 2011 dagegen scheint die Wählerinnen und Wähler bei den Parlamentswahlen des gleichen Jahres nicht besonders beeinflusst zu haben. Die Gründe dürften darin liegen, dass Bundesrat und Parlament schon vor den Wahlen erste Schritte für einen langfristigen Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen hatten und dass die Frage von den Parteien im Wahlkampf kaum thematisiert wurde. Umgekehrt nannten im Vorfeld der Wahlen 2015 44 % aller Wählerinnen die Migration als wichtigstes Problem – doppelt wo viele wie vor den vorherigen drei Wahlen und dreimal so viele wie bei anderen Themen (Lutz 2016:26).

3. Nutzenüberlegungen: Nach der ökonomischen Theorie der Politik (Downs 1957) bilden Nutzenüberlegungen das zentrale Motiv politischen Verhaltens. Schloeth (1998:161 ff.) fand allerdings wenige Anhaltspunkte für einen direkten Einfluss wirtschaftlicher Nutzenmotive auf den Wahlentscheid. Wer sich beispielsweise 1995 von der Beschäftigungs-Unsicherheit bedroht fühlte, wählte nicht stärker die SP als andere Parteien. Es gibt auch kaum Hinweise dafür, dass Arme anders– z. B. häufiger für die SP – wählen als die übrige Wählerschaft (Farago 1998:255 ff.). Dem ökonomischen Theorieansatz der Politik entsprechen indessen die strategischen Überlegungen der Wählerschaft: Um ihre Stimme in der Ständeratswahl nicht zu verschenken, bevorzugen die Wählerinnen und Wähler die chancenreichsten Kandidaten und Parteien (Kriesi 1998), also meist jene der politischen Mitte.

5. Die schweizerische Wählerschaft zwischen Stabilität und Wandel

In der schweizerischen Wählerschaft schien es bis Mitte der 1990er-Jahre zwei Konstanten zu geben (Nabholz 1998:17 ff.). Erstens ging die Wahlbeteiligung kontinuierlich zurück. Zweitens blieb die aggregierte Volatilität, als Mass für Veränderungen der Wähleranteile der einzelnen Parteien, lange tief. Beide Aussagen stimmen aber nur noch bedingt; die Wahlbeteiligung ist wieder leicht angestiegen oder konnte sich zumindest halten, und die Veränderung der Wähleranteile ist seit der Jahrtausendwende auf europäisches Niveau angestiegen. Ebenso hat der Anteil der Wechselwähler (individuelle Volatilität) in den Wahlen der letzten zwanzig Jahre stark zugenommen.

Hinter diesem Wandel stand zunächst die Ökologiebewegung, die sich in den 1980er-Jahren parteimässig formierte und heute ein gutes Zehntel der Wählerschaft zu gewinnen vermag. Den stärksten Umbruch bewirkte die SVP, die seit Beginn der 1990er-Jahre ihren Wähleranteil von 12 auf annähernd 30 Prozent steigerte und damit zur wählerstärksten Partei aufstieg. Abspaltungen der Grünen wie der SVP wiederum liessen die Grünliberalen und die BDP aufs Parkett treten, von denen nach den Wahlen 2011 die Formation einer «Neuen Mitte» mit dem Koalitionspartner CVP erwartet wurde. Diese scheiterte, und die BDP-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf verzichtete 2015 auf eine Wiederwahl.

Diese grossen Umwälzungen im schweizerischen Parteiensystem werden im nächsten Kapitel diskutiert. Hier sei aber auf den gesellschaftlichen Wandel hingewiesen, der hinter den Veränderungen des Parteiensystems steht: Von den klassischen vier gesellschaftlichen Spaltungen (Cleavages), wie sie Lipset und Rokkan (1967) als Erscheinung in allen europäischen Ländern vorfanden, sind deren zwei relativ unbedeutend geworden: Der Graben zwischen Katholiken und Protestanten, der einst Kirchentreue und Laizismus trennte, hat sich eingeebnet; der Milieukatholizismus hat sich aufgelöst. Konflikte zwischen den Sprachgruppen, die in anderen Ländern wie Belgien oder Kanada eine wachsende Rolle spielen, zeigen sich zwar gelegentlich an Abstimmungssonntagen als «Röstigraben», werden aber von den politischen Parteien sehr selten ausgespielt. Das gilt allerdings nicht für die Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit sowie zwischen Stadt und Land. Diese werden von SP bzw. SVP als Konfliktlagen stark thematisiert und zur Mobilisierung benutzt, und auch in der Stimmbürgerschaft nehmen die politische Spaltung zwischen Kapital und Arbeit sowie der Stadt-Land-Gegensatz zu. Zudem werden zwei neue gesellschaftspolitische Spaltungen sichtbar. Die erste bildet sich am Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie und hat sich in der Schweiz ähnlich wie in den meisten westlichen Industriestaaten entwickelt. Die zweite Konfliktlinie bildete sich am Thema aussenpolitischer Öffnung oder Schliessung. Diese steht im generellen Zusammenhang mit der Globalisierung, hat aber für die Schweiz wegen der seit 1992 offenen Frage der EU-Integration eine andauernde Virulenz entwickelt. Diese beiden neuen Spaltungen verlaufen teils quer zu den historischen Cleavages und sind weniger als die Letzteren an bestimmte soziale Schichten gebunden. Die Konfliktpotenziale in der schweizerischen Gesellschaft sind grösser geworden, gleichzeitig aber auch unübersichtlicher.

C. Die aktive Zivilgesellschaft

1. Das Milizsystem

1. Begriff und Funktionen: Milizsystem ist die nur in der Schweiz übliche Bezeichnung für die freiwillige, nebenberufliche und ehrenamtliche Übernahme von öffentlichen Aufgaben und Ämtern. Zumeist nicht oder nur teilweise entschädigt, gehört Miliztätigkeit zum weiteren Bereich von Arbeit, die nicht auf Erwerbsziele gerichtet ist. Auf sozial oder öffentlich motivierter Nichterwerbsarbeit beruhen zahllose kulturelle, soziale oder sonstwie gemeinnützige Organisationen.10 Freiwilligenarbeit in diesem erweiterten Sinn ist ein Merkmal jeder Zivilgesellschaft. Sie hat aber in der Schweiz im politischen Bereich eine besondere Bedeutung, da auch sehr viele öffentliche Funktionen und Aufgaben milizmässig erbracht werden. Als wichtiges Beispiel sei hier die gesellschaftliche Integration ausländischer Jugendlicher genannt, für welche die Sportvereine einen nicht zu unterschätzenden Beitrag leisten (Lamprecht et al. 2011).

Das Milizsystem hat historische Wurzeln, die weit zurückreichen. Zu diesen gehört etwa das bereits erwähnte «Gemeinwerk», zu dem in Gemeinden des Kantons Wallis alle erwachsenen Männer für die Errichtung und den Unterhalt der Suonen (Wasserkanäle aus den Hochtälern) periodisch herangezogen wurden (Niederer 1956). Das Milizsystem erfüllt aber auch eine wichtige Funktion in der heutigen schweizerischen Demokratie: Bürgerinnen und Bürger stellen Fähigkeiten aus ihrem Zivilleben und einen Teil ihrer Zeit zur Erfüllung öffentlicher Funktionen und Aufgaben zur Verfügung. Damit wird es überhaupt erst möglich, sich in einem Kleinstaat neben den Bundes- und 26 kantonalen Behörden auch noch rund 2300 Gemeinden als feingliedrig strukturiertes Politiksystem zu leisten (Müller 2015a). Nach Geser et al. (1987) erweitert so die Kleingesellschaft ihre beschränkten Fähigkeiten zur Arbeitsteilung und Differenzierung sowie die begrenzten Ressourcen für eine professionelle Aufgabenerfüllung.

Eine dritte, demokratietheoretische Funktion kommt hinzu: Das Milizsystem erweitert die Zahl der Aufgaben und Rollen, in denen Bürgerinnen und Bürger, entweder gewählt oder ernannt, über Wahlen und Abstimmungen hinaus zu einer qualifizierten politischen Partizipation gelangen. Das Milizsystem ermöglicht also nicht nur eine politische Kultur der «Selbstverwaltung» (Bäumlin 1961), sondern eröffnet vielen Personen die Möglichkeit erweiterter demokratischer Teilnahme. So führt das Milizsystem auch zu anderen Zugängen und einer besonderen Form der Qualifizierung nebenberuflicher politischer Eliten. Nach gängiger Vorstellung verhindert das Milizsystem die Herausbildung einer besonderen politischen Kaste. Zwei Einwände sind zu machen: Der erste betrifft die soziale Selektivität des Milizsystems (siehe unten, Punkt 4). Zweitens finden sich auch immer wieder Gegenbeispiele starker Kooptation in öffentlichen Ämtern, deren Besetzung nicht durch allgemeine Wahlen, sondern durch Ernennung der Behörden erfolgt.

2. Verbreitung: Das Milizsystem ist auf allen Ebenen verbreitet. Zu milizmässig erbrachten politischen Mandaten, Ämtern und Aufgaben gehören:

– Alle Parlamentsmandate auf Ebene von Bund, Kantonen und Gemeinden,

– Ein erheblicher Teil der Exekutivämter auf Gemeindeebene, vor allem bei den kleineren Gemeinden,

– Ein Teil der Richterämter auf Stufe der Bezirke und Kantone,

– Kommissionen und Gremien der Spezialverwaltung auf Ebene der Gemeinden (z. B. für Schulen und sonstige Daueraufgaben), der Kantone und des Bundes (z. B. der Wissenschafts- und Hochschulpolitik),

– Ein erheblicher Teil der leitenden Positionen und Ämter der politischen Parteien und der Verbände.

Aus politologisch-soziologischer Sicht fallen die Bewertungen des Milizsystems unterschiedlich aus. Geser et al. (1987) unterstreichen am Beispiel der Gemeinden die Bedeutung des Milizsystems für die Funktionsfähigkeit einer dezentralen politischen Kultur in der Kleingesellschaft. Germann (1981 und 1995) weist aber auch auf die Grenzen des Milizsystems hin, das in vielen Verwaltungsbereichen professionellen Kriterien nicht mehr genügt oder organisatorisch die zunehmende Komplexität nicht mehr bewältigen kann. Die frühe politologische Kritik beanstandete das Milizparlament beim Bund: Dieses weise schwerwiegende Funktionsdefizite aus, die nur durch echte Schritte zur Professionalisierung gelöst werden könnten (Gruner 1974; Riklin/Möckli 1991). Parlamentsreformen haben in der Zwischenzeit viele der kritisierten Mängel behoben, und Z’Graggen (2009a) zeigt im internationalen Vergleich, dass von einer vollen Professionalisierung wenig Vorteile zu erwarten wären. Es bleibt allerdings der Einwand, dass das Milizsystem zur ideologischen Fiktion geworden ist, welches den halbprofessionellen Charakter der eidgenössischen Räte verhüllt (Bütikofer/Hug 2010; Bütikofer 2014).

3. Die Verbindung von Miliz- und professioneller Verwaltung: Das Milizsystem ist nicht einfach eine ältere Form von Verwaltung, die durch eine «modernere» professionelle Aufgabenerfüllung abgelöst wird. Vielmehr gehen professionelle und Milizverwaltung situationsbedingt stets neue Verbindungen ein. Bei den Gemeinden z. B. findet Geser (1987) einen deutlichen Zusammenhang zur Grösse. Erwartungsgemäss sind kleine Gemeinden fast ausschliesslich milizmässig organisiert, während bei den grösseren die professionelle Verwaltung dominiert. Allerdings verschwindet bei den grösseren Gemeinden die Milizverwaltung nicht: Auch diese nutzen weiterhin die Möglichkeiten des Milizsystems kreativ für neue politische Funktionen und Einzelaufgaben. Entsprechend findet sich z. B. eine grosse Typenvielfalt in der Verbindung haupt- und nebenberuflicher Ämter in den Gemeindeexekutiven. Bei eidgenössischen Parlamentariern, die nach wie vor einem Beruf ausserhalb der Politik nachgehen, tut sich ein Dilemma auf: Milizparlamentarier fühlen sich näher am Puls der Bevölkerung, sind aber auch abhängiger in der Informationsbeschaffung durch Dritte.

4. Soziale Selektivität: Die grosse Offenheit des Milizsystems für die Rekrutierung politischer Eliten durch demokratische Wahl oder Ernennung führt nicht zu einer entsprechenden sozialen Offenheit. Vielmehr ist auf allen Ebenen eine deutliche Untervertretung unterer Bildungs- und Einkommensschichten sowie einfacher Berufsgruppen zu beobachten. Das mag mit fachlichen Anforderungen zusammenhängen, welche die Milizangehörigen eben als «Funktionseliten» prägen. Ein zweiter wichtiger Umstand kommt dazu. Die Unentgeltlichkeit oder bloss teilweise Entschädigung führt zu einer sozialen Diskriminierung, die oft übersehen wird: Arbeit für die Öffentlichkeit ohne Einkommen setzt privates Einkommen ohne Arbeit voraus. Damit erschwert das Milizsystem – je nach Stufe und Aufgabe – den Zugang unterer Schichten, von Alleinverdienenden und zum Teil auch von Selbständigerwerbenden.

5. Rekrutierungsprobleme: Während in der kantonalen und nationalen Politik noch kein Personalmangel herrscht, scheint die Lokalpolitik von einer sinkenden Bereitschaft zum öffentlichen Engagement betroffen (Müller 2015a). Nach Befragungen von Geser et al. (2003:30 ff.) können die schweizerischen Lokalparteien zwar ihre Anhängerschaft insgesamt halten, die Zahl der aktiven Mitglieder hingegen ist deutlich zurückgegangen. Neun von zehn Lokalparteien finden es schwierig, ihre Parteiämter zu besetzen, und jede zweite beklagt einen Mangel an Kandidierenden für den Gemeinderat. Als Hauptursache dieser schleichenden Krise des Milizsystems wird in der öffentlichen Diskussion ein rückläufiges Interesse an der Lokalpolitik genannt. Dies wiederum könnte vielerorts mit der gestiegenen geografischen Mobilität der Bevölkerung zu tun haben. Dass der höhere wirtschaftliche Druck seit den 1990er-Jahren Arbeitgeber zunehmend davon abgehalten hat, Personen für öffentliche Ämter freizustellen, mag ebenfalls eine Rolle spielen. Verschärfend auf das Rekrutierungsproblem wirkt sich aus, wenn Gewählte nicht mehr so lange in ihren Ämtern verweilen wie früher (Geser et al. 2011). Eine Folge davon sind oft Gemeindefusionen.

6. Intransparenz von Leistung und Gegenleistung: In der Nutzung ziviler Fähigkeiten der Gesellschaft durch das politische System liegt einer der Hauptvorteile des Milizsystems. Sie hat auch ihre Kehrseite. Mit der engen Verflechtung ziviler und politischer Funktionen werden auch Leistung und Gegenleistung intransparent. Wer sich für politische Ämter zur Verfügung stellt, wird Gegenleistungen erwarten, z. B. Einfluss, Prestige oder Entschädigung. Berufsmässige Politik entschädigt direkt, und als Gegenleistung zum Lohn gibt es auch Unvereinbarkeitsregeln oder Ausstandspflichten, mit denen Interessenkollisionen zwischen privaten und öffentlichen Interessen des Berufspolitikers vermieden werden. Nicht so im Milizsystem. Es gibt keine angemessene Entschädigung. Ausstandsregeln und Unvereinbarkeiten können von einer Amtsperson weniger verlangt werden, wenn sie bloss nebenberuflich für die Politik arbeitet. Mehr noch: Das Ziel des Milizsystems, die hauptberuflichen Beziehungen und Fähigkeiten der Politikerin zu nutzen, provoziert gerade Interessenkollisionen. Vom Gärtnermeister, der im Gemeinderat sitzt, wird zwar bei der Vergabe von Gärtnerarbeiten durch die Gemeinde erwartet, dass er hier besonders sorgsam zwischen dem öffentlichen und seinem persönlichen Interesse unterscheide. Dieselbe Erwartung gilt für die Parlamentarierin, die Verwaltungsratsmandate von Banken innehat und in der vorberatenden Kommission für die Revision des Bankrechts mitwirkt. Die mögliche Kollision von «privatem» und «öffentlichem» Interesse im Milizsystem verlangt von den Amtsträgern die Bereitschaft, öffentliche und private Rollen zu trennen. Die öffentliche Meinung fordert eine moralische Standfestigkeit, sich nur jene Vorteile zu verschaffen, die auch öffentlich vertretbar sind. Aber dieselbe öffentliche Meinung zeigt sich schizophren, wenn sie von Milizpolitikern die Vermischung verschiedener öffentlicher Interessen verlangt: Schickt die Wählerschaft einen Regierungsrat ins eidgenössische Parlament, so wird er nicht selten dazu aufgefordert, für den eigenen Kanton besondere Vorteile herauszuholen. Diese Situation geht über ein persönliches Dilemma hinaus, denn das Milizsystem selbst ist ambivalent. Es provoziert ungewollte Interessenkollisionen, legitime und weniger legitime Interessenverflechtungen. Statt direkter Bezahlung fördert es indirekte und oft intransparente Entschädigung von Leistungen. Die scheinbar höhere Unabhängigkeit des unbelohnten Bürgerpolitikers hat also auch ihren Preis.

2. Medien und politische Öffentlichkeit

Politik findet im ständigen Informationsfluss zwischen Gesellschaft und politischen Entscheidungsträgern statt. Letztere versuchen, über die politische Kommunikation in der Öffentlichkeit Verständnis sowie Unterstützung für ihre Absichten und Handlungen zu gewinnen. In der Gesellschaft selbst formieren sich Meinungen, Tendenzen und Forderungen, die auf grössere Verbreitung und Wirkung in der Öffentlichkeit drängen. Hier liegt eine zentrale Funktion der Medien: Sie tragen Bedeutsames zur Konstituierung einer «politischen Öffentlichkeit» und zur politischen Meinungsbildung bei (Jarren/Donges 2006). Letztere findet zwar auch in der Familie, im Bekanntenkreis und am Arbeitsplatz statt, aber vor dem Hintergrund einer öffentlichen Meinung und einer politischen Meinungsbildung, die vornehmlich medial vermittelt wird. Dazu gehören vor allem Selektionsleistungen: Medien wählen aus dem kontingenten Strom von Ereignissen aus, was sie für ihre Kunden als «wichtig» erachten; sie unterscheiden Rubriken von «Wirtschaft», «Gesellschaft», «Sport» oder «Politik». Die Zeitungen halten ihrer Leserschaft täglich die Handlungsstrukturen der Politik vor Augen, und zwar schon durch die blosse Gliederung in einen «Ausland-» und einen «Inlandteil», der wiederum mit «Bund», «Kantonen» und «Lokalem» etikettiert ist. Medien berichten die Ereignisse aus politischen Institutionen, die Reaktionen des Publikums, sie haben ein Sensorium für neue Entwicklungen und Trends, sie recherchieren, verbinden Ereignisse und Persönliches zu Geschichten, sie lancieren neue politische Themen oder Personen und setzen andere ab. Medien kommentieren, vermitteln Zusammenhänge und Orientierung, nehmen Partei, beeinflussen die politische Agenda oder verstärken Trends in der öffentlichen Meinung: den Bereich des Für-«bedeutsam»-, «wahr»- oder «richtig»-Haltens.

Die schweizerischen Medien stehen wie überall in einem rasanten Strukturwandel, der von wirtschaftlicher Konzentration und technischen Veränderungen geprägt ist. Die Printmedien in der Schweiz stützten sich in der Vergangenheit auf eine Vielfalt der regional segmentierten Gesellschaft und gaben sich überwiegend parteigebunden. Von beidem ist heute kaum mehr etwas zu spüren. Die einstigen Parteizeitungen von Freisinn, Katholisch-Konservativen und Sozialdemokraten sind verschwunden oder zu publikumsspezifischen Blättern geworden, wobei es nach wie vor «Monopolgebiete» mit Blättern bürgerlicher Tendenz gibt. Die Pressekonzentration wirkt über Kantons- und Sprachgrenzen hinaus; in vielen Kantonen gibt es keine bedeutsamere eigenständige Presse und auch keine systematische institutionelle kantonale Berichterstattung mehr. Der einstige Verlautbarungsjournalismus, der Politikerinnen oder Behörden im Originaltext zu Worte kommen liess, hat längst journalistischer Eigenbearbeitung nach professionellen Routinen Platz gemacht (Saxer 1986). Aus diesen Veränderungen auf eine qualitativ schlechtere politische Berichterstattung zu schliessen, wäre freilich verfehlt: Ein Grossteil der Blätter weist dem politischen Teil besondere Aufmerksamkeit zu. Im Gegensatz zu den privaten TV- und Radiosendern sind die öffentlichen Anstalten von Radio und Fernsehen als öffentlicher Dienst mit einem Informationsauftrag konzipiert, der die breite und ausgewogene politische Berichterstattung einschliesst. Wie in andern Ländern sind elektronische und Printmedien heute als komplementäres System zu verstehen: Radio und Fernsehen vermitteln die Erstinformationen, die Tages- und Wochenblätter vertiefen sie. Deutschschweiz, Tessin und Romandie bilden heute kommerziell gesehen vergleichsweise kleine, sprachlich segmentierte Teilmärkte (Wuerth 1999:343–344). Dies gilt vor allem für das Fernsehen, zum Teil auch für die Printmedien.

Das Internet mit seinen verschiedenen Anwendungen wird auch in der politischen Kommunikation immer mehr genutzt. Laut WEMF11 nutzte bereits im Jahr 2007 ein Drittel der Schweizer Bevölkerung das Internet, um tagesaktuelle Nachrichten zu lesen. Im Frühling 2015 surften 83 % der Bevölkerung ab 14 Jahren mehrmals pro Woche im Netz; davon lasen rund drei Viertel Online-Nachrichten oder besuchten die Webseiten von Zeitungen (BFS 2016c:3). Während sich die Bürger zu Zeiten der Parteiblätter überwiegend durch lokal orientierte Medien informierten, kennt das Internet keine räumliche Begrenzung, was der Homogenisierung der politischen Öffentlichkeit Vorschub leistet. Die politischen Konsequenzen dieser Entwicklung sind umstritten und wegen des anhaltenden Wandels des Untersuchungsgegenstandes auch schwierig einzuschätzen. Geser (1998) beispielsweise sah im Internet die Möglichkeit der Erweiterung der politischen Öffentlichkeit, indem sich ein Raum für «eine unbegrenzte Vielfalt divergierender politischer Identitätsansprüche, Utopien, Ideologien, Meinungen, Interessen, Forderungen und Alternativvorschläge» auftut. Die Euphorie hat sich mittlerweile etwas gelegt. Zwar gibt es heute Dutzende von Internet-Plattformen, die versuchen, auch politische «Gegenöffentlichkeit» herzustellen oder sich dem Mainstream des Agentur-Journalismus entgegenzustemmen.12 Auch gilt die Internet-Kampagne von 2009 durch ein kleines, überparteiliches Bürgerkomitee gegen die Einführung des biometrischen Passes als erstes «Internet-Referendum».13 Im Übrigen scheint aber die politische «Internet-Revolution» eher in Transitionsländern stattzufinden als in Demokratien westlicher Industrieländer. In der Schweiz begegnen Innovationen wie die E-Voting-Versuche und die seit den Wahlen 2003 bestehende Online-Wahlhilfeplattform «Smartvote»14 grossem Interesse. Besonders bei jungen Leuten scheint die Benutzung von smartvote durchaus einen Einfluss auf ihr anschliessendes Wahlverhalten zu haben (Ladner et al. 2012:373)

Welche künftige Medienstruktur sich angesichts der fortlaufenden Unternehmenskonzentration, der verstärkten Konkurrenz auf dem Medienmarkt und der Ausbreitung neuer elektronischer Medien abzeichnet, ist offen. Aber die Entkoppelung der Medien von den Parteien und ihre Ausrichtung am kommerziellen Interesse sind folgenreich für die politische Kommunikation (Blum 1995). Rickenbacher (1995:14) stellt eine Selektion und Eigenbearbeitung des Politischen fest, die sich «nicht nur an der Bedeutung des politischen Gegenstandes ausrichtet, sondern je länger, je mehr auch an den Informations- und Unterhaltungsinteressen der Leserinnen und Leser.» Blum (2009) stellt einen eigentümlichen Gegensatz fest: Medien unterstützen das schweizerische System kritiklos und ungefragt, während Politikerinnen und Politiker hart und respektlos kritisiert werden. Zwar hält Blum beide Funktionen für wichtig – die Medien als «Liebediener» wie als «Störenfriede». Aber er sieht wichtige Kritikpunkte: Politische Sachzusammenhänge und institutionelle Fragen bleiben unterbelichtet gegenüber der personellen Dramatisierung der politischen Auseinandersetzung.

3. Aktive politische Öffentlichkeit

Auch in der Demokratie gibt es populäre und unpopuläre Themen. Die Fragen der einstigen Behandlung der Fahrenden durch schweizerische Behörden, Gewalt in der Ehe, die Bewahrung der Greina-Hochebene vor der Überflutung durch ein Wasserkraftwerk oder die Behandlung psychisch Kranker in Anstalten haben eines gemeinsam: Sie wurden als «politische» Probleme mit Handlungsbedarf während langer Zeit nicht beachtet. Für politische Parteien oder Verbände ging es um zu kleine, unbedeutende Gruppen oder aber um ein allgemeines oder langfristiges Interesse, das nur die nächste Generation interessierte.

In solchen Situationen kommt der «aktiven Öffentlichkeit» eine bedeutende Rolle zu. Damit gemeint sind Einzelpersonen, manchmal auch Berufsgruppen, die ihr persönliches oder berufliches Prestige als Fürsprecher nicht organisierbarer und/oder nicht konfliktfähiger Themen einsetzen.15 Sie mobilisieren neue Tendenzen als «Gegenöffentlichkeit», bis das Problem in das Bewusstsein der öffentlichen Meinung dringt. Sie versuchen, ein Thema auf die politische Agenda zu bringen, und bieten ihre Kompetenzen zur Lösung des Problems an.

Zu typischen Beispielen berufsbezogener aktiver Öffentlichkeit gehören etwa der Architekt, der sich für die Erhaltung einer Betonfassade aus den 1950er-Jahren einsetzt, weil sein fachliches Auge darin bereits ein Denkmal klassisch-moderner Baukunst sieht; weiter das Engagement von Juristen für eine Strafrechtsreform oder die Öffentlichkeitsarbeit von Medizinern für die kontrollierte Heroinabgabe an therapiewillige Süchtige. Zur aktiven Öffentlichkeit gehört aber auch die Auseinandersetzung Kulturschaffender mit der Gesellschaft, dem Staat und der Politik. Insbesondere die Liste von Schriftstellern, die sich mit Grundfragen politischer Demokratie, mit öffentlicher Moral oder den Zuständen der Politik auseinandersetzen und damit zum Teil auch Spuren im politischen Bewusstsein hinterlassen haben, ist lang. Erwähnt seien hier etwa Gottfried Kellers Bettagsmandate im letzten Jahrhundert, Karl Spittelers Rede an die Nation zu Beginn des Ersten Weltkriegs, in jüngerer Zeit Karl Schmids «Unbehagen im Kleinstaat» (1963), Peter Bichsels «Des Schweizers Schweiz» (1969), Max Frischs «Willhelm Tell für die Schule» (1971) und «Schweiz ohne Armee» (1989), Niklaus Meienbergs «Der wissenschaftliche Spazierstock» (1985), Adolf Muschgs «Die Schweiz am Ende. Am Ende die Schweiz» (1990) und «Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt» (1997), Friedrich Dürrenmatts letzte Rede «Das Gefängnis» (1990), Thomas Hürlimanns «Der grosse Kater» (1998) oder Peter von Matts «Die tintenblauen Eidgenossen» (2001).

1 Siehe zum Beispiel «Kinderstimmen gegen die ‹Herrschaft der Alten›», Tages-Anzeiger vom 19.6.2016.

2 Die erste umfassende soziologische Studie über die gesellschaftliche Stellung der Frau in der Schweiz datiert von 1974 (Held/Levy 1974).

3 Von Roten (1991 [1958]). Zur Rezeption des Buches und zur Biografie der Autorin: Köchli (1992).

4 Diese Interpretation widerspricht nicht Banaszaks Studie (1991). Sie vergleicht neben dem Einfluss der Volksrechte auch die «verschiedenen Dimensionen politischer Beteiligungsstrukturen» und kommt zum Schluss, dass der schweizerischen Frauenstimmrechtsbewegung die Unterstützung anderer Bewegungen oder der Parteien fehlte. Den Grund sieht sie im schwachen und vielerorts sogar inexistenten Parteienwettbewerb.

5 Gemäss der jährlichen Klassifizierung der Interparlamentarischen Union (http://www.ipu.org/wmn-e/classif.htm) hatte Ruanda im Jahre 2016 mit 64 Prozent weltweit den höchsten Frauenanteil in der Volkskammer, gefolgt von Bolivien (53 %) und Kuba (49 %). Erstes europäisches Land ist Schweden, auf Platz 5 (44 %), die Schweiz belegt aktuell den 36. Rang (von 187) und befindet sich somit im oberen Fünftel der Liste.

6 Gabriel Almond (1963, 1980), der Mitbegründer der politischen Kulturforschung, definiert sein Konzept politischer Kultur wie folgt:

1. Politische Kultur bezieht sich auf das Muster subjektiver Orientierungen gegenüber Politik innerhalb einer ganzen Nation oder ihrer Teilgruppen.

2. Politische Kultur hat kognitive, affektive und evaluative Bestandteile. Sie schliesst Kenntnisse und Meinungen über politische Realität, Gefühle über Politik und politische Werthaltungen ein.

3. Der Inhalt von politischer Kultur ist das Ergebnis von Kindheitssozialisation, Erziehung, Medieneinfluss und Erfahrungen im Erwachsenenleben.

4. Politische Kultur und politisches System beeinflussen sich wechselseitig.

7 Beispiele sind die Untersuchungen von Longchamp/Rousselot (2010) und Gabriel/Plasser (2010), welche die politische Kultur der Schweiz im europäischen Vergleich und in der direkten Gegenüberstellung mit derjenigen Österreichs und Deutschlands behandeln.

8 Zu den europäischen Unterschieden der Wahlbeteiligung aus dieser Perspektive: Freitag (1996). Ladner und Milner (1999) zeigen anhand eines Vergleichs schweizerischer Gemeinden, dass das Proporzwahlrecht im Vergleich zum Majorz zu einer höheren Beteiligung führt.

9 Für eine ausführlichere Darstellung der drei Schulen des sozial-strukturellen, des sozialpsychologischen und des ökonomischen Rational-Choice-Ansatzes aus schweizerischer Sicht: Hardmeier (1995), Kriesi/Linder/Klöti (1998), Schloeth (1998), Milic (2008) und Milic et al. (2015) für eine Darstellung der Wahlforschungstheorien in Zusammenhang mit Volksabstimmungen sowie das Kapitel 10.

10 Im Jahr 2014 übernahmen 25 Prozent der Schweizer Wohnbevölkerung über 15 Jahre freiwillige Tätigkeiten in Vereinen und Organisationen (formelle Freiwilligkeit). Daneben waren 38 Prozent informell (d. h. ausserhalb von Vereinen) in der Freiwilligenarbeit engagiert, 10 Prozent hatten ein Ehrenamt inne. Freiwillige arbeiten im Durchschnitt etwa dreieinhalb Stunden pro Woche für ihr wichtigstes Engagement (Freitag et al. 2016:34). Vgl. auch http://sgg-ssup.ch/de/freiwilligenmonitor.html und BFS (2015a).

11 Die AG für Werbemedienforschung (WEMF) erhebt in der Schweiz seit 1963 Zahlen zur Mediennutzung.

12 Z. B. www.infosperber.ch oder www.domainepublic.ch. Auch die Wissenschaft selber probiert vermehrt, direkt Zugang zu der Bevölkerung zu erhalten, z. B. via www.defacto.expert oder http://geschichtedergegenwart.ch.

13 NZZ vom 26. März 2009.

14 www.smartvote.ch ist eine webbasierte Entscheidungshilfe für Wähler, die in der Schweiz seit 2003 angeboten wird. Auf die eidgenössischen Wahlen 2015 hin verzeichnete die Plattform mehr als 1.3 Millionen Nutzungen.

15 Zur demokratietheoretischen Funktion «aktiver Öffentlichkeit» ausführlich: Kapitel 12; zum Begriff der nicht konfliktfähigen und nicht organisierbaren Interessen vgl. Kapitel 5.

Schweizerische Demokratie

Подняться наверх