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Kapitel 2: Durch politische Integration zur multikulturellen Gesellschaft

«Den Bedrohungen von aussen kann nur ein Volk Widerstand leisten, das trotz aller Verschiedenheit der Sprache, der Konfession und der Rasse das Bewusstsein der nationalen Zusammengehörigkeit besitzt.»

Arbeitsgemeinschaft «Frau und Demokratie» zum 1. August 1933

«Switzerland is not peaceful because of its people but because of its institutions.»

Walter Kälin, Völkerrechtler

A. Die Schaffung des Bundesstaats von 1848

Nach dem Wiener Kongress von 1815, als in Europa viele Strukturen des vorrevolutionären Ancien Régime wieder etabliert wurden, erwartete niemand, dass die schweizerischen Kantone eine der ersten Demokratien und einen eigenen Nationalstaat schaffen würden. Zwar hatten sich Uri, Schwyz und Unterwalden als erste Kantone im 13. Jahrhundert von den Habsburgern unabhängig gemacht. Andere Orte folgten dem Beispiel und traten dem Bündnis bei, in dem sich die Eidgenossen gegenseitige Hilfeleistung zur Wahrung ihrer Unabhängigkeit versprachen. Zur Zeit der Französischen Revolution bildeten dreizehn Kantone einen losen Staatenbund. Hatten diese sogenannten «Alten Orte» zunächst erfolgreich für die Befreiung von feudalistischer Herrschaft gekämpft, so hinderte sie das später nicht, sich selbst Untertanengebiete anzueignen und diese auszubeuten. Kein Wunder also, dass das morsche «Ancien Régime» der alten Kantone auch aus inneren Gründen zusammenbrach, als 1798 Truppen der Französischen Revolution auf ihrem europäischen Befreiungszug die Schweiz besetzten.

Mit dem Diktat Napoleons von 1798 wurden die Kantone zu einer Republik nach dem Muster der französischen Direktorialverfassung. Während es gelang, die Vorrechte der Alten Orte durch Gleichstellung der ehemaligen Untertanengebiete als neue Kantone zu brechen, scheiterte der Versuch, die Kantone im Einheitsstaat der Helvetischen Republik zu verschmelzen. 1803 kam auf Geheiss Napoleons die Mediationsakte zustande, welche die gliedstaatliche Autonomie der Kantone wiederherstellte. 1815 schliesslich gewann die Eidgenossenschaft ihre volle Unabhängigkeit zurück. Die Gleichberechtigung aller Kantone blieb dabei als dauerhafte Errungenschaft der Französischen Revolution bestehen. Aber man näherte sich wieder dem alten System eines Staatenbunds, einem lockeren Zusammenschluss von nunmehr fünfundzwanzig Kantonen, die sich als souveräne Staaten betrachteten. In ihrem «Bundesvertrag» garantierten sich die Kantone gemeinsame Sicherheit durch gegenseitige Hilfeleistung. Eine Konferenz von Delegierten – die Tagsatzung – konnte gemeinsame Entscheide fällen. Diese Delegierten waren jedoch an die Weisungen ihrer kantonalen Regierungen gebunden, deshalb war ein Konsens nur schwer zu erreichen. Der Staatenbund von 1815 hatte also weder ein Parlament noch ein Exekutivorgan, und der Bundesvertrag enthielt anders als die vorherigen Verfassungen keine Freiheitsrechte zugunsten der Bürger (Kölz 1992:184). Mit andern Worten: Der Schweiz fehlten wichtige Eigenschaften eines Nationalstaats.1

Die folgenden Jahrzehnte waren von einer zunehmenden Polarisierung zwischen den politischen Bewegungen des Freisinns und der Konservativen gekennzeichnet. Die Konservativen stammten vor allem aus katholischen und ländlichen Gebieten. Als Minderheit lehnten sie die Aufhebung der Einstimmigkeitsregel für Beschlüsse der Tagsatzung ab, und noch mehr widersetzten sie sich der Idee einer starken Zentralregierung. In einer Zeit der beginnenden Demokratisierung auf kantonaler Ebene wollten die Konservativen auch die starke politische und kulturelle Stellung der katholischen Kirche bewahren. Auf der anderen Seite stand die Bewegung der Freisinnigen. Sie war vorwiegend in den protestantischen, städtischen und industrialisierten Gegenden verwurzelt. Ihr politisches Ziel der Demokratisierung erreichte sie in elf Kantonen in der sog. Regenerationszeit nach 1830.2 Unter der Devise der «Volkssouveränität» und des «Fortschritts» entstanden liberale Verfassungen, die das Stimm- und Wahlrecht für die erwachsenen Männer, die Gewaltentrennung, die Öffentlichkeit der Parlamentsdebatten, aber auch die Trennung von Kirche und Staat brachten (Blum 1983).

Das laizistische Staatsverständnis des Freisinns verweigerte der konservativen Minderheit die Bewahrung der gesellschaftlichen Vorrechte ihrer Kirche. Damit verschärfte sich zu Beginn der kantonalen Demokratisierung nochmals der konfessionelle Konflikt. Dieser hatte in der Alten Eidgenossenschaft zu vier Religionskriegen geführt. An deren Ende stand aber immer der Versuch zur Verständigung und des friedlichen Zusammenlebens zwischen den katholischen und protestantischen Gebieten. Statt zur politischen Vorherrschaft einer Seite kam es zu einem labilen Gleichgewicht (vgl. Kasten 2.1).

Kasten 2.1: Religiöse Konflikte vom 16. bis zum 18. Jahrhundert zwischen protestantischen und katholischen Kantonen

1529:Ein militärischer Konflikt zwischen dem protestantischen Zürich und den fünf katholischen Kantonen wird durch den «Ersten Kappeler Landfrieden» verhindert, der konfessionelle Toleranz garantiert.
1531:Die protestantischen Truppen von Zürich und Bern verlieren Kämpfe gegen die Katholiken. Im «Zweiten Kappeler Landfrieden» wird zwar die protestantische Konfession anerkannt, doch setzen die siegreichen Katholiken einige Vorrechte durch. Dieser «Zweite Kappeler Landfrieden» stabilisiert die Machtverhältnisse zwischen katholischen und protestantischen Kantonen bis 1656.
1656:Bern und Zürich versuchen, ihre Position gegenüber den Katholiken zu verbessern, verlieren aber den «Ersten Villmerger Krieg», der die katholische Dominanz bestätigt.
1712:Den «Zweiten Villmerger Krieg» gewinnen die Protestanten. Der Sieg beendet die katholische Vorherrschaft in der Alten Eidgenossenschaft und sichert den protestantischen Kantonen Bern und Zürich einen ihrer wirtschaftlichen Grösse angemessenen politischen Einfluss.

Die Religionsfrage stellte in der Regenerationszeit nicht den einzigen Konfliktpunkt zwischen Freisinnigen und Konservativen dar. So waren Schutzzölle für die kantonale Industrie und ihre Tarife heftig umstritten. Die religiöse Frage trug aber besonders zur Vergiftung des politischen Klimas zwischen den beiden Lagern bei, nachdem freischärlerische Truppen den Kanton Luzern von seiner konservativen Regierung «befreien» wollten, was Letztere mit militärischen Mitteln verhinderte. 1845 schlossen sich die katholischen Kantone zur Verteidigung ihrer gemeinsamen Interessen zu einem Sonderbund zusammen. Ausserdem versuchten sie auf diplomatischem Wege, Unterstützung für ihre Anliegen von Österreich, Frankreich und Sardinien zu erhalten. Nach erfolglosen Vorstössen zur Änderung des Bündnisses von 1815 verliessen die katholischen Kantone 1846 die Tagsatzung. Das wurde den Sonderbundskantonen als Sezession ausgelegt. Die protestantischen Kantone intervenierten 1847 mit ihren Truppen. In einem kurzen Bürgerkrieg und nach 26 Kampftagen mit etwa hundert Toten waren die Sonderbundskantone besiegt.

Für die siegreichen Freisinnigen war der Weg nun frei für ihr Vorhaben, einen Bundesstaat auf der Grundlage einer nationalen, demokratischen Verfassung einzurichten. Dessen Grundzüge waren:

1. Eine Staatsbildung von unten: Der Übergang vom Staatenbund zu einem schweizerischen Bundesstaat, in welchem die 25 Kantone alle Hoheitsrechte und Aufgaben behielten, die sie nicht ausdrücklich dem Bund übertrugen.

2. Die Beschränkung der Bundesgewalt auf wenige Aufgaben, so vor allem die Wahrung der Unabhängigkeit, die Vereinheitlichung von Zoll, Mass und Gewicht oder das Postwesen.

3. Das Prinzip des Föderalismus, das in den Angelegenheiten des Bundes jedem Gliedstaat eine gleiche Stimme unabhängig von seiner Grösse einräumte.

4. Die Einrichtung einer demokratischen Grundordnung mit Exekutive und eigenem Parlament, mit Grundrechten, Gewaltentrennung und freien Wahlen, deren Minimalanforderungen auch für alle Kantone verbindlich erklärt wurden.

Der Verfassungsvorschlag wurde 1848 der Volksabstimmung unterbreitet. Da ein schweizerisches Staatsvolk noch nicht existierte, oblag die Abstimmung den Kantonen im Rahmen ihrer eigenen politischen Ordnung. So entschied in Freiburg und Graubünden das kantonale Parlament «im Namen des Volkes». In Luzern kam die Zustimmung des Kantons dadurch zustande, dass die freisinnige Regierung jene dreissig Prozent, die der Urne fernblieben, den Ja-Stimmen zurechnete. Für den Zusammenschluss vom Staatenbund zum Bundesstaat wäre eigentlich – gemäss den Regeln des Staatenbunds – die Einstimmigkeit der Kantone erforderlich gewesen, die sich als «souverän» betrachteten. Die freisinnige Mehrheit definierte die Regeln aber anders: Sie liess es bei der unbestimmten Formel einer «genügenden Mehrheit» bewenden. Nachdem zwei Drittel der Kantone zugestimmt hatten, gab die Tagsatzung am 12. September 1848 bekannt, dass die Bundesverfassung von einer grossen Mehrheit angenommen worden sei (Kölz 1992:608–610; Ruffieux 1983a:10 f.).

B. Aus Nachteilen werden Vorteile, oder: Bedingungen, die den multikulturellen Nationalstaat ermöglichten

Die Schaffung des Bundesstaats von 1848 ist nicht selten als «revolutionär» bezeichnet worden. In der Tat: Im europäischen Umfeld des 19. Jahrhunderts war die Einrichtung eines föderalistisch-republikanischen Verfassungsstaates auf der Grundlage der Volkssouveränität ein einzigartiger Vorgang. Ebenso widersprach ein Zusammenschluss unterschiedlicher Völker dem Zeitgeist. Während sich nämlich die nationalen Vereinigungen Deutschlands (1866–71) oder Italiens (1860–70) unter der Devise einer gemeinsamen Kultur, eines «Staatsvolks», vollzogen, gab und gibt es in der Schweiz kein Staatsvolk gleicher Ethnie, Sprache, Religion oder Kultur.3 In der Bundesverfassung von 1848 sucht man deshalb den Begriff des Staatsvolks vergeblich. Ihr erster Artikel lautete: «Die durch gegenwärtigen Bund vereinigten Völkerschaften der zwei und zwanzig souveränen Kantone … bilden in ihrer Gesamtheit die schweizerische Eidgenossenschaft.» Es sind also die Kantone als Gliedstaaten, die den Bund konstituieren. Mit 1848 beginnt die Schweiz als eine multikulturelle Nation (Richter 2005:88 ff.).

Diese Zusammenführung verschiedener Kulturen kantonaler Kleingesellschaften zur gesellschaftlich-politischen Einheit ist von ähnlicher Bedeutung wie die Einrichtung der Demokratie. Der vom Staatsrechtler Carl Hilty betonte Begriff der «Willensnation» hat hier seine Berechtigung, besonders wenn man sich die Schwierigkeiten der Staatsgründung vergegenwärtigt. Denn innerhalb der politischen Lager der widerstrebenden Konservativen und des staatsgründenden Freisinns versteckte sich eine Reihe von gesellschaftlichen Gegensätzen und Konflikten, die noch zu überwinden waren. Es gab erstens ein voraussehbares Minderheitenproblem für die Französisch, Italienisch und Romanisch sprechenden Volksteile, denen eine deutschsprachige Mehrheit von 70 Prozent der Bevölkerung gegenüberstand. Wegen dieser sprachlichen und religiösen Teilung mussten die Minderheiten befürchten, in einem Nationalstaat zurückgesetzt zu werden. Zweitens unterschieden sich die ökonomischen Strukturen der Kantone grundlegend voneinander. Einzelne Regionen waren Orte früher Industrialisierung. Diese forderten den weiteren Abbau von Handelshemmnissen, was aber den Interessen des Konkurrenzschutzes der Agrarkantone (aber auch der Zünfte einzelner Städte wie Basel) entgegenlief. Drittens waren einzelne Kantone intern wenig integriert oder zerbrachen gar an internen Konflikten. In Basel zum Beispiel war die Stadt zu lange nicht bereit, ihre politische Vorherrschaft über die umliegenden Gebiete aufzugeben. Als ein Kompromiss über die Vertretung beider Teile im Parlament scheiterte, spalteten sich Stadt und Landschaft in zwei unabhängige Halbkantone.4

Die gesellschaftlichen Spaltungen zwischen Sprache, Religion, Zentrum-Peripherie sowie Stadt und Land finden sich zwar überall auf den historischen Landkarten Europas. Die Politologen Lipset und Rokkan (1967) haben auf ihre generelle Bedeutung für die modernen Staatsgründungen in ganz Europa hingewiesen. Die Frage lautet aber für uns: Warum haben die schweizerischen Kantone angesichts ihrer Spaltungen und ihrer divergierenden Interessen überhaupt zu einer Staatsgründung gefunden? Mindestens so wahrscheinlich wie die Bildung eines modernen Territorialstaats wäre gewesen, dass sich die Kantone in ihren gegenseitigen und internen Machtkämpfen blockiert hätten, um vielleicht eines Tages von der Landkarte zu verschwinden. Was also brachte die Kantone zu einem demokratischen Nationalstaat zusammen? Unserer Ansicht nach waren fünf Faktoren ausschlaggebend.

1. Ein grösserer Markt für die industrielle Wirtschaft

Mitte des 19. Jahrhunderts war bereits eine beachtliche Anzahl der Kantone industrialisiert. Die Nutzbarkeit der Wasserkraft entlang der Flüsse begünstigte eine dezentrale Industrialisierung bis in die Täler der Voralpen hinein. Die erste Eisenbahnstrecke wurde 1847 zwischen Baden und Zürich eröffnet. Die neuen Eliten, deren Macht und Ansehen nun weniger auf Familientraditionen beruhten als auf Kapital und geglückter unternehmerischer Initiative, sahen in den Kantonsgrenzen ein Hindernis für ihre ausgreifende Industriewirtschaft. Dem kam die neue Verfassung entgegen, indem sie versprach, Handelshemmnisse zu beseitigen und einen gesamtschweizerischen Binnenmarkt zu schaffen: Kantonale Zölle wurden aufgehoben, Masse und Gewichte vereinheitlicht, eine Landeswährung eingeführt und ein nationaler Postdienst gegründet. Zusätzlich hielt die Verfassung als Ziel die «gemeinsame Wohlfahrt» fest und garantierte gleiche Rechte sowie die Niederlassungsfreiheit für alle Schweizer Bürger. Dies alles diente dem privaten Handel und der Industrie, was den Historiker Martin (1926:265) zu folgender Aussage veranlasste: «Die Bundesverfassung ist nicht aus einer Idee, sondern aus einem Bedürfnis entstanden … Die wirtschaftliche Einheit ist in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Existenzbedingung für den Bund angesehen worden. Aus dieser Notwendigkeit ist die politische Einheit hervorgegangen, und diese hat zur Aufgabe gehabt, die wirtschaftliche Einheit zu schaffen.»5

2. Wachsender politischer Druck von aussen

An den Verhandlungen des Wiener Kongresses 1815 waren die Grossmächte bei der Suche nach stabilen Verhältnissen im nachrevolutionären Europa nicht unglücklich über eine neutrale Zone zwischen Österreich, Sardinien-Piemont und Frankreich. Damit wurde die aussenpolitische Neutralität des schweizerischen Staatenbundes, welche sich die Alten Orte seit 1648 zu ihrer Vertragspflicht gemacht hatten, zum ersten Mal von den grossen europäischen Mächten anerkannt. Zwischen 1815 und 1848 spürten die Kantone dennoch, dass sie den guten oder weniger guten Absichten der angrenzenden Länder ausgesetzt waren. Zwar war die territoriale Unabhängigkeit der Kantone nie in Gefahr, doch mischten sich die Grossmächte auf diplomatischer Ebene in innere Angelegenheiten ein. Der Sonderbund und die diplomatischen Versuche seiner Mitglieder, die Nachbarstaaten für ihre Zwecke zu gewinnen, wiesen aber auch auf die innere Zerbrechlichkeit des Staatenbunds hin. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts kündigten sich für die Schweiz bedeutungsvolle Veränderungen in der Nachbarschaft an: Im Prozess der nationalen Einigung wurden die Königreiche Bayern, Baden und Württemberg Teile Deutschlands und Lombardei-Venetien sowie Sardinien-Piemont Teile Italiens. Was würde die Zukunft bringen, wenn sich die Nachbarn der Schweiz zu grossen Nationalstaaten wandelten, zu denen auch noch sprachliche Affinitäten bestanden? Dem gesteigerten Bedürfnis nach kollektiver Sicherheit der Kantone entsprach einzig ein Bundesstaat. Dessen Verfassung von 1848 nannte denn auch die gemeinsame Wahrung der Unabhängigkeit der Nation in «Einheit, Kraft und Ehre» gegen aussen sowie die Garantie von Ruhe und Ordnung im Innern als eines seiner Hauptziele und übertrug diese Aufgaben einer handlungsfähigen Behörde.

3. Die Kultur gegenseitiger Hilfe und Zusammenarbeit in der Kleingesellschaft

Die Schweizer hatten die moderne Demokratie nicht erfunden; ihre Ideen kamen vielmehr von aussen durch die Französische Revolution. Erst das Verfassungsdiktat der Helvetik hatte Vorrechte der Geburt beendet, individuelle Freiheitsrechte deklamiert und die Gewaltentrennung eingeführt. Auch die erste Erfahrung mit einer nationalen «Volkssouveränität» auf der Grundlage individueller politischer Rechte entstammt der Revolutionszeit: 1802 fand anlässlich der Genehmigung der Zweiten Helvetischen Verfassung die erste schweizerische Volksabstimmung statt (Kölz 1992:140). Von aussen stammt auch das Konzept der Verbindung von Föderalismus und Demokratie: Dafür standen die USA Modell.6

Monarchische, nicht republikanische Staatsformen waren im Europa des frühen 19. Jahrhunderts die Regel. Bei allen Ideen und Anleihen von aussen musste sich deshalb der schweizerische Demokratisierungsprozess auch auf eigene gesellschaftliche Strukturen stützen können, um Erfolg zu haben. Verschiedenste kulturelle und soziale Traditionen dürften den Weg dahin geebnet haben. Die jahrhundertealte Unabhängigkeit war den kleinen Kantonen zwar teuer. Aber für den Aufbau einer grösseren Verwaltung fehlten die Mittel. Die Kleingesellschaften der Kantone befriedigten darum viele ihrer Bedürfnisse auf der Grundlage gegenseitiger Hilfe und Selbstverwaltung. In ländlichen Gebieten wie etwa des Wallis gab es die Einrichtung des «Gemeinwerks»: Jeder Einwohner war verpflichtet, einige Tage oder Wochen des Jahres für gemeinsame Einrichtungen der Gemeinde zu arbeiten (Niederer 1956). Auch die lokalen Berufszweige – wie etwa das Handwerk in den Städten – waren in Selbstorganisationen eingebunden, die z. B. die Entscheide über die Marktordnungen gemeinsam fällten. Gegenseitige Abhängigkeit zwang so zur lokalen Zusammenarbeit. Selbstbindung zur Zusammenarbeit ermöglichte aber auch die Realisierung gemeinsamer Vorteile in der Kleingesellschaft (Barber 1974). Deren lokale Versammlungen waren vielfach an Eigentum oder berufliche Stellung geknüpft. Dem setzte das französische Revolutionsrecht das politische Bürgerrecht jedes Einzelnen gegenüber und erzwang damit eine Neuschaffung der Kantons- und Gemeindebürgerrechte. Dies bedeutete einen erheblichen Einschnitt in die alte Tradition lokaler Selbstverwaltung. Es kann aber auch als Beginn einer neuen Tradition lokaler Demokratie gesehen werden: Die kommunalen Primärversammlungen bildeten in der Helvetik das «institutionelle Fundament des neuen Staates» und bestimmten jährlich die Wahlmänner der kantonalen Behörden (Kölz 1992:112 f.). Noch heute ist eine Schweiz ohne (Einwohner-)Gemeinden nur schwer vorstellbar.

4. Die kantonale Demokratisierung

Auf diesem kulturellen Boden und im Sog der französischen Julirevolution (1830) setzte in den Kantonen eine politische Demokratisierungsbewegung ein, für welche Historiker den Begriff der «Regeneration» (1831–1848) geprägt haben. Ihre Wortführer kamen aus der neuen bürgerlichen Elite: vor allem Juristen, Ärzte, Lehrer, Industrielle und Kaufleute in den Landstädten der Mittellandkantone. In einer Vielzahl von Flugblättern und Petitionen an die Behörden der Hauptorte fassten sie ihre liberal-demokratischen Forderungen zusammen: Rechtsgleichheit, persönliche Freiheitsrechte, Volksbildung, Gewaltentrennung, Volkssouveränität im Sinne von repräsentativer Demokratie sowie die Bildung eines Bundesstaates. Die Bewegung wuchs schnell über den Kreis der Eliten hinaus und war erfolgreich. Im kleinen Kanton Thurgau etwa, der weniger als 80 000 Einwohner zählte, wurden in den Gemeinden über hundert Petitionen mit 3000 Vorstössen für eine demokratische Verfassung zusammengetragen und diskutiert (Soland 1980:69 ff.). Auch anderswo verfehlten die Aufrufe ihre Wirkung auf die Bevölkerung nicht, wie die grossen Volkstage zwischen Oktober 1830 und Januar 1831 zeigten. Das Volk erzwang die Wahl von Verfassungsräten, die sofort mit den Verfassungsrevisionen begannen. Im Sommer 1831 verfügten bereits zehn sogenannte liberale Kantone über neue Verfassungen.

Selbstverständlich ging es in dieser staatspolitischen Revolution auch um handfeste, wirtschaftliche Interessen. Kölz (1992:227 ff.) nennt drei verschiedene Gruppen als treibende Kräfte der Regeneration. Mit der Erlangung von Bildung und Besitz strebte erstens ein neues Bürgertum nach mehr politischem Einfluss und Zugang zu allen öffentlichen Ämtern. Es verlangte die Aufhebung des Zunftzwangs, Handels- und Gewerbefreiheit sowie die Verminderung von Zöllen und Gebühren. Die bäuerlichen, gewerblichen und ländlichen Schichten als zweite Kraft forderten vor allem die Beseitigung alter Zehnten und Grundlasten, die Aufhebung indirekter Steuern und Abgaben, die Einführung direkter Steuern (auf Einkommen und Vermögen), eine Reform des Hypothekarwesens, die Verkürzung des Militärdienstes, die Senkung des Salzpreises sowie die Verbesserung und Verstaatlichung des Armenwesens. Mit den letzten Forderungen waren auch soziale Fragen angeschnitten, von denen vor allem die industrielle Landbevölkerung betroffen war. Die liberalen Regimes sollten in der Folge allerdings wenig mit ihnen anfangen. Als dritte Gruppe nennt Kölz die aufgeklärten «Stadtliberalen» etwa Zürichs oder Berns, die nicht die Demokratisierung im Auge hatten, sondern vor allem staatspolitische Anliegen vertraten. Trotz der breiten Volksbewegungen bleibt es schwierig zu sagen, ob die liberale Bewegung eine soziale Revolution «von oben» oder «von unten» war. So meinen Masnata/Rubattel (1991:42 ff.) kritisch, dass die Demokratisierung die alten Machteliten nicht beseitigte, sondern dass sie, zusammen mit der Bundesverfassung von 1848, vor allem die politische Voraussetzung für eine ungehinderte Entfaltung des Industriekapitals geschaffen hätte.

Die erfolgreiche Demokratiebewegung in den Kantonen war aber in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Im Zeichen der Volkssouveränität realisierte sie – mit wenigen Einschränkungen – ein allgemeines Männerstimmrecht, wie es zu jener Zeit nur die USA kannten. Und während die amerikanischen Verfassungsväter die Risiken und Launen eines unberechenbaren «Demos» durch viele Regeln – etwa die Teilerneuerung des Senats und die «checks and balances» zwischen den staatlichen Gewalten – eindämmten, gingen die Kantone genau den umgekehrten Weg. Sie begnügten sich nicht mit der Rolle des Volks als Wahlkörper, sondern übertrugen ihm auch materielle Entscheidungsbefugnisse. In den Kantonen brachten das «Veto» und das Referendum die Anfänge der Abstimmungsdemokratie, die dem Volk eine direkte Nachkontrolle parlamentarischer Entscheidungen erlauben.

Die kantonale Demokratisierung begünstigte die Gründung des Nationalstaats. Denn zunächst waren die erfolgreichen liberal-demokratischen Kräfte zugleich Träger der Idee des Bundesstaats. Sodann erleichterte die Erfahrung kantonaler Demokratie die Übertragung des Demokratiekonzepts auf die nationale Ebene. Schliesslich war das allgemeine Stimm- und Wahlrecht in gewissem Sinn ein Ersatz für die noch fehlende schweizerische Gesellschaft: Es gab kaum etwas Gleiches zwischen Deutschschweizern, Romands und Tessinern oder zwischen Protestanten und Katholiken ausser dem demokratischen Recht auf politische Teilnahme, zuerst in den Kantonen und dann auch im neuen Staat. Das allgemeine Stimm- und Wahlrecht sowie die Volkssouveränität wurden dadurch zu den wohl wichtigsten symbolischen und realen Elementen, welche die abgekapselten Gesellschaften der Kantone miteinander verbanden und ihre politische Integration gestatteten.

5. Die Verbindung von Demokratie- und Föderalismusprinzip

Unsere letzte Behauptung, dass das Demokratieprinzip der nationalen Einigung förderlich war, stösst sofort auf einen zentralen Einwand: Wo bleibt der Einfluss der Minderheiten, wenn die einfache Mehrheit der Stimmen entscheidet? Die theoretische Antwort lautet: Auch die Beschlüsse einer Mehrheit sind nie endgültig. Die Minderheit darf versuchen, Entscheide neu zur Diskussion zu stellen. Zudem können sich die Mehrheitsverhältnisse im Parlament oder nach Wahlen ändern. Diese theoretische Antwort kann konfessionelle oder ethnische Gruppen als permanente Minderheiten freilich nicht befriedigen. Denn das Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition ist nur möglich bei der Änderung von Präferenzen, die der Bürgerschaft als Ganzem offenstehen. Die Interessen struktureller Minderheiten der Sprache, Kultur, des Geschlechts oder der Ethnie jedoch haben kaum eine Chance, durch veränderte Präferenzen mehrheitsfähig zu werden: Demokratie macht aus Deutschschweizern keine Romands und aus Protestanten keine Katholiken. Für die Interessen struktureller Minderheiten ändert sich darum das Mehrheitsverhältnis in einer Demokratie nicht. Umgekehrt kann es sich eine strukturelle Mehrheit leisten, Minderheiten systematisch zu übergehen. Eine Mehrheitsdemokratie kann also zu «ewigen» Machtverhältnissen und Diskriminierung führen. Genau dies waren die Befürchtungen der Minderheitskantone. Katholiken, Romands und Tessiner hatten Grund zur Annahme, dass sie in einem Nationalstaat unter deutschschweizerisch-freisinniger Hegemonie die ewigen Verlierer wären, ihre Bedürfnisse und Interessen systematisch benachteiligt blieben.

Ein zweites Problem: Auch die Freisinnigen waren keineswegs frei in der Errichtung des Bundesstaats. Denn auch für ihre Kantone bedeutete der Zentralstaat den Verzicht auf Teile eigener Autonomie. Die Zentralisierung konnte also nur so weit stattfinden, als plausibel gemacht werden konnte, dass die Vorteile der Zusammenarbeit im Bundesstaat die Nachteile des Verlustes eigener Autonomie überwogen. Die Antwort auf beide Probleme bestand in der Kombination von Demokratie- und Föderalismusprinzip. Dies beinhaltete zweierlei:7

1. Mitwirkung beim Bund als Ersatz für den Verlust kantonaler Souveränität: Die Verfassung gab den Kantonen die Möglichkeit, sich am Entscheidungsprozess auf nationaler Ebene zu beteiligen. Ähnlich dem amerikanischen Zweikammersystem wird der Nationalrat, dessen kantonale Sitzverteilung der Bevölkerungsgrösse entspricht, von einem Ständerat ergänzt, in dem die Kantone unabhängig von ihrer Grösse mit zwei Stimmen repräsentiert sind. Zudem reden die Kantone bei Verfassungsänderungen mit, da neben dem Volksmehr auch eine Mehrheit der Kantone zustimmen muss. In der Gesetz- wie in der Verfassungsgebung wird also die demokratische Entscheidungsregel «eine Person – eine Stimme» ergänzt durch die föderalistische Entscheidungsregel «ein Kanton – eine Stimme». Da bindende Entscheidungen nur durch Zustimmung beider Räte zustande kommen, wurde der Einfluss der kleinen (und das waren vornehmlich konservative) Kantone verstärkt.

2. Nichtzentralisierung: Die politische Heterogenität der Kantone setzte der Zentralisierung enge Grenzen. Dem Bund von 1848 wurden nur wenige Kompetenzen eingeräumt. Damit beliess das Verfassungsprojekt den Kantonen die meisten ihrer Aufgaben und eine grösstmögliche Autonomie. In allen Fragen, die den Kantonen vorbehalten blieben, waren weiterhin unterschiedliche Antworten gemäss den besonderen Präferenzen der jeweiligen kantonalen Mehrheiten möglich. Diese Nichtzentralisierung versprach den Fortbestand kulturell verschiedener Lebensstile und den Schutz der konfessionellen und sprachlichen Besonderheiten der Kantone. Sie bedeutete auch eine Konzession an die katholisch-konservative Minderheit. So enthielt das Verfassungsprojekt einen doppelten Kompromiss: einen Interessenausgleich zwischen Zentralisten und Bewahrern kantonaler Autonomie und einen Teilausgleich zwischen Freisinn und Katholisch-Konservativen. Beides erhöhte die Chancen einer Annahme in der ersten Volksabstimmung, die für die Gründung des Bundesstaats erforderlich war.

Kasten 2.2: Geschichtsmythen als schweizerische Erinnerungskultur

Im 19. Jahrhundert wirkten Geschichtsmythen überall in Europa als Katalysatoren der Nationalstaatenbildung. Historische Mythen vermischen auf Quellen gestützte Fakten mit Geschichtskonstruktionen, homogenisieren die Gesellschaft und fördern den Willen zum Zusammenleben, bieten gemeinsame Normen und Werte an, wecken kollektive Unabhängigkeits- und Freiheitsgefühle, schenken der eigenen Gemeinschaft einen schicksalshaften, oft gottgewollten Ursprung und helfen, deprimierende kollektive Erfahrungen aus der Vergangenheit aufzuarbeiten (Filser 2004). Historische Mythen lassen, wie es Ernest Renan in seiner 1882 gehaltenen Rede «Que est-ce que c’est une nation?» ausdrückte, die Nation als «Schicksalsgemeinschaft der Lebenden mit den Toten und den noch Ungeborenen» erscheinen (Hobsbawm 2004:225). Sie setzen die Vergangenheit absichtlich mit der Gegenwart zusammen und künden darüber hinaus von einer heilvollen Zukunft.

Während und nach der Gründung des Bundestaates fungierten längst vergangene Schlachten und Heldenfiguren als «Erinnerungsorte» für die junge Schweizer Nation (Nora 1996). So machten um 1848 etwa Geschichten und Lieder über Arnold von Winkelried die Runde. Man berichtete, er habe in der Schlacht von Sempach 1386 die habsburgischen Lanzen auf sich gezogen, um seinen eidgenössischen Mitstreitern und der Freiheit eine Bresche zu schlagen. Seit 1865 erinnert das Winkelrieddenkmal in Stans an den heldenmütigen Widerstand der Eidgenossen gegen übermächtige fremde Vögte. Wilhelm Tell wurde im 19. Jahrhundert ebenfalls verehrt. Als Ideal eines hart arbeitenden, einfachen, fürsorglichen und freiheitsliebenden Bergbauers und Familienvaters zierte seine Gestalt Dorfplätze, Briefmarken sowie Postkarten, und noch heute erinnert der Fünfliber an den Schweizer Nationalhelden. Auch wenn der Tellmythos auf einer alemannischen Sage aufbaute, half er in allen Schweizer Landesteilen, den Widerstandsgeist gegen Fremdbestimmung und eine Alpenromantik als charakteristische Schweizer Tugenden zu konstruieren (Richter 2005:89–90). Auch die Gaststätten im jungen Bundesstaat trugen geschichtsträchtige Namen: Helvetia, Drei Eidgenossen, Weisses Kreuz oder eben Wilhelm Tell.

Andere Erzählungen stärkten den internen Zusammenhalt der «Willensnation», ohne den eidgenössischen Befreiungskampf gegen fremde Mächte zu betonen. Beispielsweise wurde gemeldet, während des Ersten Kappeler Krieges 1529 zwischen dem reformierten Zürich und den katholischen Innerschweizer Orten hätten sich einfache Soldaten beider Seiten verbrüdert, um aus einem Topf gemeinsam Milchsuppe zu löffeln. Dass es eher aufgrund der Vermittlung der neutral gebliebenen eidgenössischen Orte als wegen der Fraternisierung des katholischen und protestantischen Fussvolkes nicht zur Schlacht kam, war für die verbindende Wirkung des Mythos während der Nationalstaatsgründung freilich zweitrangig.

Mythenbildung gab es auch im 20. Jahrhundert, nach dem Zweiten Weltkrieg etwa in der rückblickenden Verklärung des Widerstandswillens der Schweiz, der Neutralität, und der Armee. Beharrlich nüchterne intellektuelle Kritik – etwa des Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt* – konnte dem Mythos über die Schweiz im Zweiten Weltkrieg wenig anhaben. Dies änderte sich Mitte der 1990er-Jahre mit den Gerichtsklagen amerikanischer Juden gegen schweizerische Banken wegen hinterzogener Holocaustgelder und mit der Aufarbeitung der wirtschaftlichen Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs durch eine offizielle Expertenkommission von Historikern. Die in der Öffentlichkeit heftig diskutierten Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft provozierten eine Entzauberung der kollektiven Erinnerungskultur, aber auch eine fast trotzige Rückbesinnung auf den Mythos Schweiz. Was Mythos ist und was Geschichte, lässt sich nicht immer klar auseinanderhalten und bleibt kontrovers.

* Eine lesenswerte Sammlung der Reden und Essays findet sich in: Friedrich Dürrenmatt, Meine Schweiz – Ein Lesebuch, Zürich 1998.

C. Die Integration von konfessionellen und sprachlichen Minderheiten: Von der Koexistenz zum Pluralismus

Die Verfassung von 1848 stellte einen institutionellen Rahmen dar, der die Einheit der Nation ermöglichte und gesellschaftliche Konflikte auf demokratisch-gewaltfreiem Wege zu lösen versprach. Eine Verfassung ist aber zunächst nur ein rechtliches Dokument, das die Spielregeln der Politik festlegt. Verfolgen wir eines der wichtigsten Spiele unter den neuen Regeln: Wie entwickelte sich die Integration zur schweizerischen Gesellschaft im Rahmen ihrer Verfassung? Wir beschreiben diese Entwicklung zunächst an den zwei wichtigsten Minderheiten, an denen der schweizerische Integrationsprozess als Ganzes entweder scheitern oder aber reüssieren konnte: den Katholiken und den sprachlichen Minderheiten.

1. Der politische Katholizismus

Mitte des 19. Jahrhunderts waren etwa 40 Prozent der schweizerischen Bevölkerung katholisch, wobei die Kantonsgrenzen nur teilweise mit den konfessionellen Grenzen übereinstimmten. 1860 waren zehn Kantone überwiegend protestantisch (über 75 Prozent) und elf mehrheitlich kleinere Kantone katholisch (über 85 Prozent). Nach offiziellen Statistiken wiesen nur Genf, Graubünden, Aargau und St. Gallen ausgeglichenere Verhältnisse aus. Obschon die Katholisch-Konservativen einen annehmbaren Verfassungskompromiss erreicht hatten, wählten sie nach 1848 eher die Isolation als die Integration. Sie zogen sich auf ihre Kantone zurück und überliessen der freisinnigen Mehrheit die Initiative für nationale Projekte im jungen Staat. Die katholischen Stammgebiete waren vorwiegend ländlich und noch wenig berührt von den industrialisierten Gebieten der fortschrittlich-protestantischen Mehrheit. 1871 wandte sich das Erste Vatikanische Konzil gegen die Säkularisierung, den wissenschaftlich-technischen Fortschritt sowie die Trennung von Kirche und Staat und versuchte, die Stellung des Papstes als verbindliche Autorität in allen Lebensbereichen auszubauen. Die politische Rückzugshaltung der Katholiken verstärkte sich zur Segregation und zur Herausbildung einer «katholischen Sondergesellschaft» (Altermatt 1989:97 ff.): In den Jahren nach der Gründung des Bundesstaates hatten die katholischen Kantone ihr konfessionelles oder von der Kirche geleitetes Erziehungswesen schrittweise ausgebaut; 1889 kam mit der Universität Freiburg eine katholische Hochschule dazu. Ein dichtes Netz sozialer und vorpolitischer Organisationen hielt Katholiken jeglicher Schicht zusammen und sicherte die Nähe zur Kirche – auch in der schweizerischen «Diaspora», wo sie in der Minderheit waren. Die Katholiken bauten nicht nur ihre Partei und ihre eigenen Gewerkschaften auf, sondern ebenso ihre Zeitungen und Buchhandlungen. In gemischten Gebieten wussten sie, welches der katholische Metzger, Schlosser, Schreiner war. Sie gingen in «ihr» Gasthaus und kauften loyal katholisch ein, selbst wenn die Qualität des protestantischen Konkurrenten besser war. Diese Art von Segregation fand sich auch auf der anderen Seite, wenngleich nicht im selben Ausmass: Der protestantischen Schweiz fehlte die politische Führung durch eine konfessionelle Partei, die, wie auf der katholischen Seite, alle sozialen Schichten auf einer gemeinsamen Basis zusammengefasst hätte. Vor allem aber widersprach eine gesellschaftliche Segregation auf religiöser Grundlage dem Anliegen des freisinnigen Laizismus selbst: Dieser wollte die Trennung von Kirche und Staat und deklarierte den religiösen Glauben als Privatsache. So war das Ziel des Freisinns nicht eine protestantische Segregation, sondern die Bekämpfung der gesellschaftlich dominierenden Rolle der Kirche, wie sie die romtreuen Katholiken anstrebten. Es erstaunt deshalb nicht, dass sich der konfessionelle Konflikt zuspitzte – vor allem in den paritätischen Kantonen. Die Geschichtsbücher sprechen dabei vom Kulturkampf, in welchem es zwar in der Sache weniger um die Konfession selbst als um die Gegensätze zwischen dem (katholisch-konservativen) Lager der Kirchentreuen und dem (protestantisch-freisinnigen) laizistischen Lager ging. Trotzdem vertiefte sich die gesellschaftliche Spaltung den Konfessionen entlang, und es mag kein Zufall sein, dass die Bundesstadt Bern das Zentrum der Christkatholischen Kirche wurde, die sich in vielen Ländern als Abspaltung nach dem Ersten Vatikanum bildete: Der Freisinn sah darin ein willkommenes «Anti-Rom» gegen die unzuverlässigen «Ultramontanen», also romtreuen Katholiken.

Die Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 fiel in die Zeit des Kulturkampfs. Die freisinnige Mehrheit setzte dabei ihren laizistischen Standpunkt konsequent durch und diskriminierte die katholische Minderheit in einigen Verfassungsbestimmungen (siehe Kasten 2.3). Erst hundert Jahre später wurden die beiden diskriminierenden Verfassungsartikel (Jesuiten- und Klosterverbot) durch Volksabstimmungen aufgehoben. 2001 haben Volk und Stände schliesslich der Aufhebung der letzten konfessionellen Ausnahmebestimmung in der Bundesverfassung, des sogenannten Bistumsartikels, zugestimmt. Bis es aber so weit war, vergingen vier Generationen, und der Konfessionskonflikt wurde dabei weit weniger durch politische Aktion «gelöst» als durch die Entwicklung abgekühlt.

Die gesellschaftliche Entwicklung hat diese Abkühlung des Konfessionskonflikts in vielfacher Weise unterstützt. Der Modernisierungsprozess wirkte der Segmentierung zwischen Katholiken und Protestanten entgegen. Die Migration über konfessionelle Grenzen hinweg führte zu gemischten Kantonen, Städten und Gemeinden, aber auch zur stärkeren Verbreitung von Mischehen. Das wiederum förderte Toleranz und Zusammenarbeit. Die geringere politisch-konfessionelle Polarisierung begünstigte pragmatische Lösungen im sozialen Leben: In kleineren Gemeinden, wo zwei Gotteshäuser zu teuer wurden, benutzen heute Katholiken und Protestanten die gleiche, «paritätische» Kirche. Die katholische Gesellschaft nahm vermehrt an der Industrialisierung teil; nach dem Zweiten Weltkrieg verschwand ihre wirtschaftliche und soziale Sonderstellung. Katholisches «Ghetto» und «Milieu-Katholizismus» lösten sich auf und gaben Raum für die Entwicklung eines weltoffenen politischen Katholizismus. 1971 änderten die Katholisch-Konservativen ihren Namen in «Christlichdemokratische Volkspartei». Mit der Akzeptanz der Trennung von Kirche und Staat und einer sozial verpflichteten Marktwirtschaft vollzog die CVP in der Nachkriegszeit ähnliche Wendungen des politischen Katholizismus wie die Christlich-Demokratische Union (CDU) in Deutschland oder die Democrazia Cristiana (DCI) in Italien.

Kasten 2.3: Die wichtigsten Streitpunkte zwischen Katholiken und Protestanten in der Verfassungsrevision 1874

Die Verfassungsrevision von 1874 war stark vom Kulturkampf geprägt, welcher seinen Höhepunkt um 1870 erreicht hatte. Die liberale Verfassung von 1874 zielte auf einen laizistischen Staat und entband die Kirche von allen öffentlichen Funktionen. Mehrere ihrer Bestimmungen belegen den antiklerikalen Charakter des freisinnig dominierten Staats und vereinzelt auch die Diskriminierung der Katholiken. Streitpunkte, die im Sinne der laizistischen Mehrheit gelöst wurden:

 Jesuitenverbot (Art. 51 der alten Bundesverfassung von 1874 [aBV], 1973 aufgehoben)

 Verbot neuer Orden und Klöster (Art. 52 aBV, 1973 aufgehoben)

 Die Errichtung von Bistümern auf schweizerischem Gebiet unterliegt der Genehmigung des Bundes (Art. 50.4, 72.3 BV, 2001 aufgehoben).

 Feststellung und Beurkundung des Zivilstandes ist Sache der bürgerlichen Behörden (Art. 53 aBV).

 Das Recht zur Ehe steht unter dem Schutze des Bundes (Art. 54 aBV).

 Die geistliche Gerichtsbarkeit ist abgeschafft (Art. 58 aBV).

 Die Kantone sorgen für genügenden Primarunterricht, der ausschliesslich unter staatlicher Leitung stehen soll (Art. 27.1 aBV).

 Die öffentlichen Schulen sollen von den Angehörigen aller Bekenntnisse ohne Beeinträchtigung ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit besucht werden können (Art. 27.3 aBV).

 Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist unverletzlich (Art. 49 aBV).

 Die freie Ausübung gottesdienstlicher Handlungen ist innerhalb der Schranken der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung gewährleistet (Art. 50 aBV).

Soweit diese Bestimmungen nicht aufgehoben wurden, sind sie heute auf der tieferen Gesetzesebene oder nur in allgemeiner Form in der neuen Verfassung festgeschrieben: Das Verhältnis von Kirche und Staat wird in Art. 72 geregelt, das Recht auf Ehe und Familie in Art. 14, die Glaubens- und Gewissensfreiheit in Art. 15, Schule und Schulhoheit in Art. 19, 62 und 66 (Rhinow 2000; BV 1999).

Entscheidend neben der gesellschaftlichen Entwicklung aber war die Integration der Katholiken auf der politischen Ebene. Dazu trug zunächst der Föderalismus bei. Er liess die katholischen Kantone ihre eigene Kultur bewahren, und dies sogar dort, wo der Bund eigene Kompetenzen besass. Obwohl den Freisinnigen z. B. das Monopol des öffentlichen Schulwesens wichtig war, erlaubte die Kantonsautonomie keine einseitige, hoheitliche Durchsetzung des Bundesanspruchs: Noch in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gab es in einzelnen Kantonen konfessionell getrennte Schulen. Auch die Trennung von Kirche und Staat wird bis heute kantonal unterschiedlich konsequent gehandhabt. Vor allem aber gewann die katholische Minderheit schrittweise Einfluss im Bund. 1848 blieb sie Minderheit im Parlament (National- und Ständerat), und der Freisinn besetzte während Jahrzehnten alle sieben Bundesratssitze. Nach der Einführung des fakultativen Referendums 1874 brachten die Katholisch-Konservativen allerdings zahlreiche Gesetze und Beschlüsse zu Fall. Von da an brauchte der Freisinn die Unterstützung der Konservativen, um Erfolg für bestimmte Vorlagen zu haben, und trat ihnen dafür 1891 einen ersten Bundesratssitz ab (Bolliger/Zürcher 2004). 1918 erreichten die Katholiken zusammen mit den Sozialdemokraten die Einführung des Proporz-Wahlsystems für den Nationalrat, was das Ende der Mehrheitspolitik des Freisinns bedeutete. Da von diesem Zeitpunkt an keine der Parteien mehr als ein Drittel der Sitze in der Volkskammer zu besetzen vermochte, wurde die Koalition mindestens zweier Parteien erforderlich. Freisinn und Katholisch-Konservative, die historischen politischen Gegner, verbanden sich als die beiden wichtigsten Parteien des Bürgerblocks in Regierung und Parlament gegen die politische Linke – eine Konsequenz nicht zuletzt des erwachten Klassenkampfes.

Die Integration der Katholiken vollzog sich damit über politischen Machtgewinn, genauer: über die Teilnahme an der Macht in der Gesetzgebung, in der Regierung und später auch in den Spitzenpositionen der Verwaltung und Gerichte. Das wiederum sicherte dem katholischen Teil der Gesellschaft Einfluss, Beachtung und Erfolg. Längerfristig schwand allerdings mit der Überwindung der konfessionellen Spaltung die frühere Bedeutung des politischen Katholizismus. Durch ihre Position der Mitte zwischen den bürgerlichen und nicht bürgerlichen Lagern, welche die CVP seit 1959 suchte, konnte sie ihren politischen Erfolg lange halten und spielte dadurch gerade im Bundesrat oft das Zünglein an der Waage. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts musste die Partei jedoch einen stetigen Wählerschwund hinnehmen und verlor Ende 2003 einen ihrer beiden Bundesratssitze. Die Spaltung zwischen Laizismus und christlich-konservativen Werten äussert sich zwar auch heute noch, wie Diskussionen um Schwangerschaftsabbruch, künstliche Befruchtung oder gleichgeschlechtliche Partnerschaft zeigen. Sie hat sich aber von der konfessionellen Spaltung (Katholizismus gegen Protestantismus) wegbewegt und artikuliert sich eher an Auseinandersetzungen zwischen religiösen und nicht religiösen Menschen (Linder et al. 2008:52; Geissbühler 1999; Rapp et al. 2014; Heidelberger et al. 2015:22).

Dennoch sollte nicht übersehen werden, dass die Diskriminierung der Katholiken (Jesuiten- und Klosterverbot) erst nach hundert Jahren aus der Verfassung entfernt wurde. Die vergleichende Untersuchung von Lijphart (1980) über die Wahlmotive in den multikulturellen Gesellschaften der Schweiz, Belgiens, Kanadas und Südafrikas zeigt überdies, dass die konfessionelle Konfliktlinie hierzulande noch Anfang der 1970er-Jahre bedeutsamer war als der Gegensatz zwischen den Sprach- und sozialökonomischen Gruppen. Religiös-kulturelle Gegensätze, die grundlegende Werte und Einstellungen betreffen, lösen Konflikte aus, die politisch offensichtlich nicht über Nacht gelöst werden können (vgl. auch Siroky et al. 2017). Sie brauchen Zeit, um auszukühlen; unter Umständen auch längere Perioden des Nichtentscheidens, um ihr Wiederaufleben zu verhindern.

2. Mehrsprachigkeit: Verständnisse und Missverständnisse

Heute sprechen rund 71 Prozent der Wohnbevölkerung schweizerischer Nationalität Deutsch, 23 Prozent Französisch, 6 Prozent Italienisch, 0,7 Prozent Rätoromanisch und 11 Prozent eine Nichtlandessprache.8 Die gesellschaftliche Integration der Sprachminderheiten und die Verhinderung einer politischen Hegemonie der Deutschschweiz über die anderen Landesteile war die zweite bedeutende Integrationsleistung des Bundesstaats. Die sprachlich-kulturelle Spaltung und ihre Konflikte unterscheiden sich von der konfessionellen in zweierlei Hinsicht: Auf nationaler Ebene wurde sie einerseits kaum je so virulent wie der konfessionelle Konflikt in Zeiten des Kulturkampfs. Bei der Schaffung des neuen Bundesstaates 1848 stellte die Mehrsprachigkeit noch keinen zentralen Faktor für eine schweizerische Identität dar. Das Vorhandensein mehrerer Sprachen wurde von der politischen Elite kaum thematisiert. Die Tagsatzung nahm den Verfassungsartikel über die Sprachen (Art. 109 BV 1848) einstimmig an, doch sah sie in ihm mehr eine administrative Regelung denn eine symbolische Bedeutung (Widmer et al. 2004:118).

Andererseits blieben die sprachlich-kulturellen Gegensätze in der Schweiz bis heute erhalten. Sie sind in der Gesellschaft nach wie vor erlebbar und bilden Anlass häufiger Diskussion. Zahlreiche Publikationen dokumentieren über den sogenannten «Röstigraben» hinaus die kulturellen Unterschiede zwischen Französisch- und Deutschsprachigen, das gegenseitige Auseinanderleben der Landesteile oder die wirtschaftliche Dominanz der Deutschschweiz über die Romandie (Zürcher 2006; Büchi 2003; Kriesi et al. 1996; Du Bois 1991; Favez 1983; Knüsel 1994; Ruffieux 1983b). Die historische Analyse der Volksabstimmungen zeigt jedoch, dass die Gegensätze nach einem Höhepunkt Ende des letzten Jahrhunderts auf ein recht tiefes Niveau gefallen sind und sich thematisch wandeln (Linder/Zürcher/Bolliger 2008). Stand in den 1990er-Jahren ein zunehmender Dissens zwischen Romandie und Deutschschweiz bei Umweltfragen im Vordergrund (Trechsel 1994), so fallen heute vor allem die Differenzen in sozial- und aussenpolitischen Fragen auf.

Für den Schutz und die Integration der sprachlich-kulturellen Minderheiten sind folgende vier Elemente bedeutsam:

1. Sprachenfreiheit und verfassungsmässiger Schutz der vier Landessprachen: Art. 18 und 70 BV garantieren den Schutz der vier Landessprachen. Weder Kantone noch Gemeinden können gezwungen werden, ihre Amtssprache zu ändern. Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch sind allesamt als National- und Amtssprachen definiert.9 So erscheint der Titel «Schweizerische Eidgenossenschaft» auf Banknoten und allen offiziellen Dokumenten in allen vier Sprachen. Die praktische Umsetzung der Vielsprachigkeit des Bundes findet allerdings schnell Grenzen. Anders als etwa in Kanada oder Belgien gibt es keine Pflicht des Bundes zur Übersetzung all seiner Dokumente in alle Amtssprachen. Insbesondere Übersetzungen ins Rätoromanische, das nur von etwa 42 000 Personen gesprochen wird, finden sich nur für die wichtigeren Gesetzestexte. Das in Graubünden beheimatete Rätoromanisch ist also bloss eine «Teilamtssprache». Wichtig ist der Umstand, dass nicht Volksgruppen im Sinne von ethnisch-kulturellen Minderheiten geschützt sind, sondern nur die Sprachen der im Übrigen gleichen Bürgerinnen und Bürger. Dies bedeutet eine Absage an jede Idee eines «völkischen» Staats oder von Vorrechten einzelner Gruppen. Recht und Politik in der Schweiz wollten Multikulturalität gerade nicht durch sprachlich-ethnische Gruppenrechte sichern, sondern durch die Betonung eines allgemeinen Staatsbürgertums und einer von individuellen Grundrechten geprägten Verfassungsgesellschaft.

2. Föderalismus: Dem Föderalismus wird oft eine bedeutende Rolle für den Schutz der Sprachminderheiten zugesprochen. Dies hält genauerer Analyse nur teilweise stand und bedarf zumindest der Präzisierung. Zwar sichert die kantonale Autonomie die kulturellen Eigenheiten der Französisch- und Italienischsprechenden – doch nur so weit, als Romands und Tessinerinnen mit ihren Kantonen auch eigene politische Herrschaftsgebiete zu bilden vermochten. Generell schützt der Föderalismus nur räumlich segmentierte Minderheiten, die auf unterer Ebene zu politischen Mehrheiten werden. Damit ist die gleichberechtigte Vielsprachigkeit zunächst nur auf Bundesebene und im Verhältnis zwischen den Kantonen geschützt. Was den Umgang mit kantonsinternen Sprachminderheiten angeht, lässt die politische Autonomie alles offen. Einzelne zweisprachige Kantone (Wallis, Freiburg und Bern) oder der dreisprachige Kanton Graubünden kennen spezielle Statute für ihre Sprachminderheiten. Im Übrigen herrscht das Prinzip der Assimilation vor: Die Kantone verlangen von anderssprachigen Bürgerinnen und Bürgern, dass sie sich in den Schulen oder im Umgang mit Amtsstellen in der Sprache des Kantons bzw. der Gemeinde ausdrücken. Ein St. Galler in der Waadt wird also Französisch sprechen müssen und kann sich nicht auf die Tatsache berufen, dass Deutsch eine Landessprache ist. Damit sind die Auswirkungen des Föderalismus ambivalent. Er führt in den räumlich segmentierten Verhältnissen der Schweiz zu einem doppelten Modell: Auf Bundesebene schützt er die Gleichberechtigung der Sprachen, während er auf kantonaler Ebene der vorherrschenden Sprachmehrheit die Durchsetzung eines Assimilationsmodells durchaus erlaubt. Der Schutz von Minderheiten in gemischtsprachigen Kantonen schliesslich beruht typischerweise auf Garantien der verfassungsmässigen Sprachenfreiheit und nicht des Föderalismus.10 Das Territorialprinzip schützt die bestehende Zugehörigkeit einer Gemeinde zu einer Sprachgemeinschaft, auch wenn sich das numerische Verhältnis wegen der Zuwanderung Anderssprachiger in einer Gemeinde stark ändert. Das hat dazu beigetragen, dass der Sprachenfrieden erhalten geblieben ist (Altermatt 1996:142 f.).

3. Proportionale Vertretung der Sprachgruppen: Entscheidend sind die Regeln zur proportionalen Teilhabe der sprachlichen Minderheiten an der politischen Macht. Da die unterschiedlichen Sprachkulturen nicht räumlich dispers verteilt, sondern auf ihre Kantone konzentriert sind, bot ihre proportionale Repräsentation im Parlament wegen der kantonalen Wahlkreise kein Problem. Mit der Einrichtung eines siebenköpfigen, gleichberechtigten Regierungskollegiums und mit der bis 1999 geltenden Verfassungsvorschrift, dass aus einem einzelnen Kanton nur ein Mitglied in den Bundesrat gewählt werden kann, wurden von Anfang an günstige Voraussetzungen zur proportionalen Machtteilung in der Exekutive geschaffen. Die Kantonsklausel wurde zwar 1999 abgeschafft; so fanden sich 2003–2007 erstmals zwei Zürcher und seit 2010 ein Berner und eine Bernerin im Bundesrat. Bei der Wahl beachtet die Bundesversammlung aber weiterhin die politische Tradition, dass die Romandie durch (mindestens) zwei Bundesräte vertreten ist. Die Vertretung der Italienischsprechenden wird in jüngster Zeit weniger beachtet. Sie ging meistens zulasten der Deutschschweiz, sodass sich der Bundesrat oft aus vier Mitgliedern deutscher, zwei Mitgliedern französischer und einem Mitglied italienischer Sprache zusammensetzte.11 Darüber hinaus ist es zu einer allgemeinen Proportionalisierung der Parlamentskommissionen, der Spitzenpositionen in Behörden und in allen Rängen des Verwaltungspersonals beim Bund gekommen. Ein Blick auf die Statistik zeigt, dass diese proportionale Verteilung recht genau eingehalten wird.12 Allerdings müssen die Sprachminderheiten ein wachsames Auge dafür haben, dass ihre Ansprüche beachtet werden. Sonst drohen sie schnell vergessen zu gehen, wie im Nationalrat, wo in der 47. Legislatur (2003–07) praktisch alle Kommissionspräsidien an Personen aus der Deutschschweiz übertragen wurden, obwohl gemäss Parlamentsgesetz (Art. 43.3) die Amtssprachen und Landesgegenden so weit möglich angemessen berücksichtigt werden sollen.

Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, handelt es sich hier nicht um festgeschriebene Rechtsansprüche, sondern um «politische» Quoten, die sich als Usanz herausgebildet haben und an denen festgehalten wird, weil sie sich bewährt haben. Politische Quoten haben in der Schweiz erstaunliche Resultate für die proportionale Repräsentation der verschiedenen Sprachteile erbracht. Freilich garantiert proportionale Vertretung noch keine proportionale Einflussnahme. Stellen wir uns eine Verhandlungsrunde mit sieben Deutschschweizern, zwei Romands und einer Tessinerin vor. Das entspricht realen Verhältnissen und bevorzugt sogar ein wenig die Südschweiz. Allerdings können nun die sieben Deutschschweizer mit Zweidrittelmehrheit entscheiden, ohne überhaupt die Argumente der andern zur Kenntnis zu nehmen. Und die andern müssen Deutsch lernen, bevor sie überhaupt verstehen, worum sich die Diskussion dreht. Natürlich haben die Minderheiten das Recht, Französisch oder Italienisch zu sprechen. Sie finden sich aber im Dilemma: Reden sie in der Muttersprache, werden sie von den Deutschschweizern vielleicht gar nicht verstanden; reden sie Deutsch, werden sie ihre Argumente weniger gewandt vorbringen können.

Tabelle 2.1: Vertretung der verschiedenen Sprachgruppen in den Bundesbehörden und der Bundesverwaltung, in Prozent

DeutschFranzösischItalienischRätoromanisch
Bevölkerung (nur CH-Bürger)71,323,26,10,7
Repräsentation
Bundesrat57,142,900
Bundesgericht60,531,67,90
Nationalrat72,523,04,51,5*
Ständerat73,921,74,40
Ausserparlamentarische Kommissionen71,523,15,50
Kommissionspräsidenten des Nationalrates84,67,77,70
Kommissionspräsidenten des Ständerates66,725,08,30
Bundesverwaltung
– Ganze Bundesverwaltung71,321,66,80,3
– Topkader (Klassen 34–38)72,521,94,80,8

Quellen: Bevölkerung: BFS (2016a; Zahlen für 2014); Bundesrat, Bundesgericht und Kommissionen: eigene Berechnungen (2016); Bundesverwaltung: EFD (2015:14 und 17; Zahlen für 2014). *Die drei Romanisch sprechenden Nationalräte Campell, Candinas und Semadeni (alle GR) wurden auch der Deutsch bzw. Italienisch sprechenden Gruppe hinzugerechnet. Wir danken Clau Dermont, Uni Bern, für diesen Hinweis. Ausserparlamentarische Kommissionen: Stand 2009.

Wir stehen also trotz verfassungsmässiger Sprachenfreiheit, Föderalismus und proportionaler Vertretung vor der Situation, dass die sprachlichen Minoritäten politisch benachteiligt bleiben können. Was sind die Gründe dafür, dass dies nicht systematisch, also ständig geschieht? Die Antwort kann auf zwei Ebenen gefunden werden. Beobachter weisen oft auf die Sensibilitäten der deutschsprachigen Mehrheit hin: Es wird tunlichst vermieden, die kulturell-sprachlichen Minderheiten vor den Kopf zu stossen. Diese politische Rücksichtnahme muss nicht unbedingt als typisch schweizerisch interpretiert werden; man kann sie auch als einen Fall «angemessenen» Verhaltens sehen, das Rollenträger je nach den Bedingungen ihrer Institutionen entwickeln (March/Olsen 1989). Für das Verhaltensmuster sprachlich-kultureller Rücksichtnahme waren wohl gleich mehrere Faktoren von Bedeutung. Erstens war der Sprachgegensatz kein ständiger und zentraler Gegenstand der politischen Auseinandersetzung; wirtschaftlich-soziale Interessengegensätze hatten zumeist grössere Bedeutung. Zweitens sind sprachliche und konfessionelle oder wirtschaftlich-soziale Konfliktlinien nicht deckungsgleich. Die Romands sind nicht zugleich die Katholischen oder die wirtschaftlich Schwächeren. Vor allem aber war entscheidend, dass sich die politischen Parteien über die Sprachgrenzen hinaus national entwickelten. Unter diesen Bedingungen werden die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Konflikte nicht ethnisch-kulturell organisiert wie etwa in Belgien. Das führte drittens dazu, dass Romands oder Tessiner sich manchmal in der Mehrheit befinden, während auch Deutschschweizer die Rolle der politischen Minderheit erfahren. Wechselnde Koalitionen begünstigen Rücksichtnahme auf kulturelle Minderheiten, weil man sie irgendwann als Mehrheitsmacher benötigt. Insgesamt sind dies auch günstige Bedingungen für die Neutralisierung des sprachlich-kulturellen Konflikts.

4. Sprachenförderung: Die Mehrsprachigkeit erfordert öffentliche Aufwendungen und Umverteilungen zugunsten der kleineren Sprachgruppen. Solche Kosten werden akzeptiert. Regelmässige Umfragen belegen, dass eine grosse Mehrheit der Schweizerinnen der Meinung ist, dass die Medien einen positiven Beitrag zur Integration in der Schweiz leisten (Steinmann et al. 2000:163; BR 2016a). Im Vorfeld der Volksabstimmung zur Revision des Bundesgesetzes über Radio und Fernsehen (RTVG) vom 14. Juni 2015 gaben 54 % der Stimmbürger an, mit der SRG eher zufrieden zu sein; weitere 18 % waren sogar sehr zufrieden (gfs.bern 2015:77). Ausser für das Rätoromanische wird für jede Sprachgruppe ein volles Fernseh- und Radioprogramm unterhalten. Die kleinste TV-Anstalt, «Radio Televisione della Svizzera Italiana», erhielt 2015 21,8 % aller Gebühren- und Werbeeinnahmen, was etwa dem Fünffachen des Bevölkerungsanteils und der Einnahmen entsprach (SRG 2015:10). Die RTVG-Revision wurde dann allerdings nur sehr knapp, mit 50.08 % Ja und lediglich 3649 Stimmen Unterschied, angenommen (BFS 2016a). Gleich wie bei der Zufriedenheit zeigten sich auch hier starke Unterschiede zwischen deutsch- (47.6 % Ja) und französischsprachiger Schweiz (58.6 % Ja; ibid.).

Schweizer empfinden die Mehrsprachigkeit ihres Landes als normal oder sind sogar stolz darauf. Allerdings ist es ein Mythos zu glauben, die Mehrsprachigkeit des Landes führe zur ausgeprägten Mehrsprachigkeit ihrer Einwohner. Nur eine Minderheit nutzt Medien der anderen Landessprachen, womit auch die politische Kommunikation segmentiert bleibt. Schweizerinnen und Schweizer verständigen sich im persönlichen Gespräch leidlich über die Sprachgrenzen hinweg. Auch lassen sich viele Beobachtungen über die Sprachverhältnisse auf das gesellschaftliche Leben übertragen: Die kulturellen Eigenheiten und Unterschiede zwischen Romands, Deutschschweizern, Tessinern und Rätoromanen bleiben trotz politischer Integration erhalten. Diese Differenzen bereichern heute das gesellschaftliche Leben, erschweren es manchmal, sind aber nur in seltenen Fällen direkte Ursache politischen Konflikts. Zum Teil ist das Zusammenleben der Sprachkulturen auch bloss ein Getrennt-Leben in den Kammern der Sprachregionen. Der Kantonsföderalismus bewahrt die horizontale Segmentierung der schweizerischen Gesellschaft und ermöglicht es den Tessinern, Romands, Rätoromanen und Deutschschweizern, nebeneinander zu leben, ohne sich gegenseitig zu stören (Watts 1991, 1996). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts mehren sich aber die Hinweise, dass sprachlich-kulturelle Fragen nationaler Bedeutung nicht mehr bloss an die Kantone delegiert werden können, sondern eine integrale Sprachpolitik erfordern (Watts/Murray 2001). Das zeigt sich nicht zuletzt im Fremdsprachenunterricht in der Volksschule, wo bisher das Erlernen einer zweiten Landessprache im Vordergrund stand. Nun wird das Englische auch in der Schweiz immer mehr zur Lingua franca, und einige Deutschschweizer Kantone haben damit angefangen, «Frühenglisch» statt Französisch oder Italienisch zu unterrichten. So geben denn auch vier von zehn Personen an, mindestens einmal pro Woche Englisch zu sprechen (BFS 2016b:18). Vor allem die französischsprachige Schweiz wehrt sich allerdings dagegen, weil sie dadurch den nationalen Zusammenhalt bedroht sieht. Die Debatte um den Fremdsprachenunterricht wirft in der Deutschschweiz weniger Wellen, was wiederum von den Romands als Zeichen dafür gewertet wird, dass sie nicht mehr angehört werden. Nach altbewährtem Muster ist versucht worden, den Konflikt mit einer föderalen Lösung zu schlichten: Seit 2008 verlangt ein Bundesgesetz den obligatorischen Fremdsprachenunterricht in mindestens einer zweiten Landessprache und in einer weiteren Fremdsprache. Das erlaubt Spielraum: In den Primarschulen des Tessins, Graubündens, der Westschweiz und ihren angrenzenden Kantonen lernen Kinder als erste Fremdsprache heute im Allgemeinen eine Landessprache, während sich in den Zentral- und Ostschweizer Kantonen sowie in Zürich und dem Aargau das Englisch als erste Fremdsprache durchgesetzt hat. Das ist dem Bundesrat allerdings zu viel: 2016 schlug er eine stärkere Berücksichtigung einer zweiten Landessprache gegenüber anderen Fremdsprachen vor.

3. Der Jura – die Ausnahme der Integration einer kulturellen Minderheit

Der Jura stellt einen wichtigen Fall der jüngeren Geschichte dar, bei dem die politische Integration misslang. Der nördliche Jura fühlte sich als ethnische, sprachliche, religiöse und wirtschaftliche Minderheit des Kantons Bern benachteiligt. Die Region verlangte in einem über vierzigjährigen politischen Kampf, der von zivilem Ungehorsam und Gewalt gekennzeichnet war, die Trennung vom alten Kanton und politische Autonomie. Die Sezessionsbewegung hatte Erfolg: 1978 wurde der Jura zum eigenen Kanton.

Angesichts der Häufigkeit von ungelösten ethnischen, Sprachen- und Religionskonflikten in vielen Staaten erscheint es erstaunlich, dass die Schweiz bei der Integration ihrer sprachlich-kulturellen Minderheiten übers Ganze gesehen erfolgreich war. Man kann sich aber auch fragen, warum diese Integration in dem einen Ausnahmefall des Juras nicht gelang. Oberflächliche Erklärungen reichen nicht weit: Es gibt schliesslich keine Hinweise dafür, dass Schweizer von Natur aus friedfertiger wären als Nichtschweizer, oder der Jura weniger als die übrige Schweiz. Während die Geschichtswissenschaft eher die Besonderheiten einzelner Integrationsprozesse aufzeigt, glaubt die vergleichende Politikwissenschaft an die Möglichkeit, bestimmte Regelmässigkeiten für deren Gelingen oder Scheitern aufzeigen zu können.

Zu den wichtigen Faktoren für das Gelingen oder Misslingen sprachlich-kultureller Integrationsprozesse zählt z. B. Steiner (1998:268 ff.):

Aussenpolitischer Druck: Druck von aussen auf die staatliche Unabhängigkeit begünstigt die innergesellschaftliche Integration – allerdings nur dann, wenn Drittmächte nicht ein Direktinteresse mit einer der Minderheiten verfolgen. Ist die staatliche Unabhängigkeit nicht gefährdet, so kann innergesellschaftlicher Konflikt eher zur Desintegration führen.

Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der kulturellen, sozialen und ökonomischen Konfliktlinien: Fühlt sich eine kulturelle Minderheit nicht nur sprachlich-kulturell benachteiligt, sondern auch religiös und wirtschaftlich, so sind das wegen des Zusammenfallens mehrerer Konfliktlinien ungünstige Bedingungen für die Integration. Nicht übereinstimmende Konfliktlinien dagegen erleichtern die Integration, denn sie verhindern die gegenseitige Verstärkung von sprachlichen, religiösen und wirtschaftlichen Konflikten.

Mehrheitspolitik oder Machtteilung: Mehrheitspolitik ist eine ungünstige Voraussetzung für die Integration religiös-kultureller Minderheiten, während die Beteiligung dieser Minderheiten an der staatlich-politischen Macht (z. B. mittels Proporz) ihre Integration begünstigt.

Diese Hypothesen Steiners scheinen recht gut geeignet, sowohl die Regel wie auch die Ausnahme des Erfolgs schweizerischer Integrationsbemühungen zu erklären.

Für die gesamtschweizerische Integration lagen insgesamt günstige Bedingungen vor.13 Als unmittelbarer Nachbar von kriegführenden Mächten war die nationale Unabhängigkeit der Schweiz bis 1945 unsicher; unter diesem Druck war das Gemeinsame wichtiger als das Trennende. Ein glücklicher Umstand war dabei, dass keiner der Nachbarn daran interessiert war, die innerschweizerischen Minderheitsprobleme für sich auszunützen. Dann stimmten, wie bereits angedeutet, die geografischen Grenzen der religiösen, sprachlichen und sozioökonomischen Segmentierung nicht überein. Unter den Romands finden wir protestantische Kantone wie die Waadt und Neuenburg oder katholische wie das Wallis. Reiche und arme Kantone gibt es in beiden Sprachgebieten. Ein kumulativer Konflikt – z. B. der armen, katholischen Romands gegen die reichen, protestantischen Deutschschweizer – konnte sich deshalb nie entwickeln. Vielmehr bilden sich in der Politik Mehrheiten aus unterschiedlichen Koalitionen, die für jedes Problem anders zusammengesetzt sind. Jede Gruppe macht die Erfahrung, in bestimmten Situationen in der Minderheit zu verbleiben. Das fördert neben den institutionellen Einrichtungen des Föderalismus und der proportionalen Machtteilung eine Kultur politischer Rücksichtnahme und Nichtdiskriminierung.

Waren damit die theoretischen Voraussetzungen für den schweizerischen Integrationsprozess allesamt günstig, so galt dies gerade nicht für den heutigen Kanton Jura. Sein Gebiet repräsentierte eine katholische, Französisch sprechende Minderheit im protestantischen, deutschsprachigen Kanton Bern. Wie bereits erwähnt, ist die Gleichberechtigung der Sprachen und ihr Schutz durch den Föderalismus nur im gesamtschweizerischen Verhältnis gewährleistet. Zwar praktizierte der Kanton Bern kein Assimilationsmodell, sondern anerkannte die Minderheitssprache und räumte dem jurassischen Teil in späterer Zeit auch politische Teilhaberechte ein. Aber wie kaum in einem anderen Gebiet fielen hier konfliktträchtige Segmentierungen zusammen: Der Jura war nicht bloss Französisch sprechend, er war auch katholisch und ein Armutsgebiet an der Peripherie des Kantons. Diese zusammentreffenden Konfliktlinien führten zur ständigen Kumulation von Konflikten unter gleichen Koalitionen, in denen sich der jurassische Kantonsteil benachteiligt fühlen musste. Schliesslich geht der Jurakonflikt auf historische Wurzeln zurück, die weit ins 19. Jahrhundert und früher zurückreichen. Bezeichnenderweise artikulierte er sich als starke Sezessionsbewegung aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Unabhängigkeit der Schweiz von aussen nicht mehr bedroht war und staatliche (Wohlfahrts-)Leistungen wichtiger wurden. Die theoretischen Voraussetzungen der Integration waren also allesamt ungünstig. Die Hypothesen Steiners scheinen demnach recht gut zu erklären, warum der schweizerische Integrationsprozess insgesamt erfolgreich war – aber auch in einem Ausnahmefall misslang.

Der Jura ist noch in einer weiteren Hinsicht bemerkenswert: Er ist einer der seltenen Fälle, in denen sich auch in der Schweiz eine Ethnisierung der Politik entwickelte. Ein kleiner Teil der jurassischen Separatistenbewegung berief sich nämlich auf die andersartige Ethnie des jurassischen Volkes – in krassem Widerspruch zur «nicht völkischen» Verfassungstradition der Schweiz. Und der Jura, den wir hier als Einheit behandelt haben, war in sich selbst gespalten: Sein südlicher Teil war wirtschaftlich stärker, mehrheitlich protestantisch und somit auch kulturell stärker nach Süden (Bern) als Norden (Frankreich) ausgerichtet. Wie die schweizerische Politik mit diesen Problemen umging und bis heute umgeht, wird in Kapitel 7 (Föderalismus) ausführlich behandelt.

D. Kapital und Arbeit: Vom Klassenkampf zu Sozialpartnerschaft und Konkordanz

Der sozioökonomische Gegensatz zwischen Kapitaleigentümern und Arbeiterschaft bildet die dritte historische Konfliktlinie in der schweizerischen Gesellschaft. Der Grundkonflikt liegt in der Produktion von gesellschaftlicher Ungleichheit als Kehrseite des wirtschaftlichen Wettbewerbs sowie im Interessengegensatz um Lohn und Arbeitsbedingungen. Dieser Konflikt prägt den Industrialisierungsprozess und die Gesellschaft aller liberalen Demokratien. Auf politischer Ebene hat er als «soziale Frage» in den westeuropäischen Ländern zu einem rechten bürgerlichen und zu einem linken nicht bürgerlichen Lager geführt. Allerdings unterscheidet sich die schweizerische Lösung dieses gesellschaftlichen Konflikts von jener der meisten anderen Länder Europas: Es gab nie einen Machtwechsel zwischen bürgerlichen und nicht bürgerlichen Regierungen wie in vielen Mehrheitsdemokratien, sondern zunächst eine lange Periode des Ausschlusses der politischen Linken aus dem bürgerlichen Staat. Erst spät – nach dem Zweiten Weltkrieg – wurde auch die wirtschaftlich-soziale Spaltung der Schweiz auf demselben Weg wie die kulturell-sprachlichen Spaltungen gelöst: durch politische Integration. Im Unterschied zu den konfessionellen und sprachlichen Spaltungen gab es im wirtschaftlich-sozialen Konflikt allerdings kaum14 räumliche Segmentierungen – weshalb z. B. der Föderalismus nichts zu seiner Lösung beitragen konnte. Industrialisierung und Leistungsgesellschaft führten jedoch zu neuen sozialen Schichten, die sich hinsichtlich Beruf, Einkommen, Bildung und anderer Statusmerkmale unterscheiden. Von grösserer Bedeutung ist daher die Art und Weise, wie sich diese Schichten sowie die beiden Seiten von Kapital und Arbeit organisierten. Weiter unterscheidet sich der wirtschaftlich-soziale von den konfessionellen und sprachlichen Konflikten dadurch, dass er sich sehr viel stärker mit der wirtschaftlichen Dynamik selbst verändert. Somit ist dieser Konflikt auch volatiler als die eher längerfristig ausgerichteten kulturellen Gegensätze. Seine Entwicklung wird im Folgenden kurz nachgezeichnet.

1. Arbeiterklasse ohne Heimat

Die frühe schweizerische Industrialisierung entlang den Flüssen und ihrer nutzbaren Wasserkraft verlief dezentral. Dies verhinderte die plötzliche Entstehung eines Massenproletariats in den Städten, führte aber wie in anderen kapitalistischen Ländern zu sozialen Spannungen und zur Verarmung einer unterbezahlten, neuen Schicht der Fabrikarbeiter. Die Demokratie verhinderte weder die wirtschaftliche Ausbeutung der Arbeiter noch unmenschliche Arbeitsbedingungen. Der St. Galler Freisinnige Friedrich Bernet meinte dazu: «Die Verfassung von 1848 hat grosse Gewalt, finanzielle und politische, in die Hände weniger gelegt …, aber nur, um die Grossen noch grösser zu machen», während die «bäuerlichen, handwerklichen und Arbeiterschichten in ein gleichförmiges Proletariat absinken.»15

Zu dieser Zeit existierten weder eine sozialistische Partei noch eine starke Gewerkschaft. Es war ein Flügel des Freisinns, von Gruner (1964:40) als «Staatssozialisten» bezeichnet, welche die Interessen der Arbeiterschichten verteidigten. Sie waren besorgt über die wachsenden sozialen Ungerechtigkeiten, die in ihren Augen einer modernen Demokratie unwürdig waren. Sie initiierten die ersten Arbeitsschutzbestimmungen und das Verbot der Kinderarbeit. Diese Politik stand in krassem Gegensatz zum Flügel der «Manchester-Liberalen», die jeglichen Eingriff des Staates in den freien Markt unterbinden wollten.

Diese Auseinandersetzung um die Rolle des Staates bekam schnell eine Wende, die von der Sozialpolitik weg auf die unterschiedlichen Interessen im Unternehmerlager selbst führte. Die exportorientierten Industrieunternehmen forderten Freihandel und wirtschaftspolitische Abstinenz des Staates, das binnenorientierte Gewerbe und die Landwirtschaft dagegen Schutzzölle vor ausländischer Konkurrenz und die Freiheit zur Begrenzung des einheimischen Wettbewerbs. Pragmatisch wurde gegen aussen Freihandel für die Exportwirtschaft und im Innern Schutzpolitik für Bauernschaft und Gewerbe betrieben. Diese Mischung zwischen Liberalismus und Staatsinterventionismus des Unternehmertums blieb kennzeichnend bis in die jüngste Zeit. Sie bildete die Basis für eine wirtschaftspolitische Interessengemeinschaft, die später das bürgerliche Lager von FDP, CVP und SVP zusammenhielt. Im Übrigen stützte sich der Staatsinterventionismus von allem Anfang an auf die Selbstorganisation der Unternehmerschaft. Gewerbe, Handel, Industrie und Landwirtschaft hatten sich früh auf Bundesebene zu starken Verbänden organisiert, die den politischen Parteien und dem Parlament in der Wirtschaftspolitik schon um die Jahrhundertwende das Heft aus der Hand nahmen. Sie prägten die Gesetzgebung und wirkten mit im Vollzug.16 Mit diesem verbandsstaatlichen Muster waren sie in der Lage, ihre Interessen zum Ausgleich zu bringen und den Staat punktuell für ihre Anliegen einzuspannen.

Anders die Lage der Arbeiterschaft. Zwar hatte sie ein gemeinsames Anliegen: die Verbesserung ihrer wirtschaftlich-sozialen Lage. Die Organisation der Arbeiterschaft stiess zu Beginn allerdings auf Schwierigkeiten, zumal in ländlichen Verhältnissen, wo der Paternalismus die Auswirkungen sozialer Ungleichheit linderte, gleichzeitig aber die eigene Identitätsbildung und Organisation der Arbeiter zu behindern vermochte. Immerhin, nach ihrer Gründung 1888 konnte die Sozialdemokratische Partei (SP) ansehnliche Erfolge verzeichnen. 1894 lancierte sie eine der ersten Volksinitiativen: ein Begehren um «Recht auf Arbeit», das vierzig Jahre vor Keynes ein wirtschaftspolitisches Programm zur Ankurbelung der privaten Nachfrage forderte. Aber die Hoffnungen, mittels der direkten Demokratie soziale Reformen zu erreichen, verflüchtigten sich schnell. In der Volksabstimmung wurde die Vorlage in einem Verhältnis von 4:1 verworfen.

In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verschlechterte sich die Lage der Arbeiterschaft. Für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stellen Historiker das Entstehen einer konservativen, nationalistischen, oft auch reaktionären und antidemokratischen Rechten fest, die mit einem «Klassenkampf von oben» zur Radikalisierung der Sozialdemokratie beitrug.17 Politisch marginalisiert durch das Zusammenspannen der bürgerlichen Kräfte, konnten Sozialdemokraten und Gewerkschaften nicht verhindern, dass die Arbeiterschaft den grössten Teil der Last der wirtschaftlichen Rückschläge während und nach dem Ersten Weltkrieg tragen musste. Daran änderte auch der landesweite Generalstreik von 1918 nichts: Auf ein Truppenaufgebot und ein Ultimatum des Bundesrats hin kapitulierte das Oltener Aktionskomitee. Es erreichte zwar den Achtstundentag, ging aber in seinen übrigen Forderungen leer aus.

In der Folge kam es zur verstärkten Spaltung der schweizerischen Arbeiterbewegung. Während katholische Teile der Arbeiterschaft schon längst in der christlich-sozialen Bewegung mitgingen und sich damit politisch eher ins bürgerliche Lager eingliederten, trennte sich der linke Flügel der SP von der Mutterpartei und schloss sich 1921 mit den Altkommunisten zur Kommunistischen Partei der Schweiz (KPS) zusammen. Die KPS sah sich als revolutionäre Partei und Teil der internationalen kommunistischen Bewegung. Sie zielte auf die Entmachtung der Bourgeoisie, sah in der bürgerlichen Demokratie ein blosses Instrument kapitalistischer Interessen und bekämpfte darum auch den Weg der «reformistischen» Sozialdemokratie. Sie setzte auf einen Klassenkampf, der die gesellschaftlichen Verhältnisse revolutionär umgestalten und die Arbeiterklasse an die politische und gesellschaftliche Macht bringen sollte. Neben häufigen Zwisten kam es indessen auch zu Zweckbündnissen mit den Sozialdemokraten. In Genf und Zürich sowie weiteren Städten konnten Sozialdemokraten und Kommunisten durch gegenseitige Unterstützung regierungsfähige Mehrheiten bilden. Auf Bundesebene erreichten die Kommunisten während der ganzen Zwischenkriegszeit allerdings nie die Stärke und Bedeutung der SP.18 Zunächst schwankend zwischen Integration und Klassenkampf, kamen die Sozialdemokraten ab den dreissiger Jahren auf ihre traditionelle Linie zurück: Ablehnung des Kapitalismus, Bejahung der Demokratie. Die SP verlangte darum proportionale Beteiligung in allen politischen Institutionen und setzte auf demokratische Reformen. Sie strebte eine Mischwirtschaft mit einem starken öffentlichen Sektor an, in welcher der Staat die sozialen Unterschiede ausgleichen sollte. Alles mit wenig Erfolg: Die Bürgerlichen verweigerten der SP trotz vergleichbarer Wahlstärke wie FDP oder CVP den Einsitz im Bundesrat. Das Wirtschafts- und Beschäftigungsprogramm der Sozialdemokraten von 193419 fand beim Volk keine Mehrheit. Stattdessen erliess die bürgerliche Regierung protektionistische Massnahmen zum Schutz von Gewerbe und Landwirtschaft. Sie waren wenig wirksam. Die Weltwirtschaftskrise brachte Massenarbeitslosigkeit, die 1936 mit 100 000 Stellensuchenden ihren Höhepunkt erreichte. Eine Sozialpolitik gab es kaum. Das soziale Klima war gespannt. Mehrere Streiks von aufgebrachten Arbeitern wurden mit militärischen Mitteln niedergeschlagen.

Während vier Jahrzehnten schwankend zwischen Klassenkampf und Hoffnung auf Integration,20 blieb der politischen Linken verwehrt, was Katholiken, Romands oder Bauern erreicht hatten: Einfluss im Bundesstaat,21 Teilhabe an der Regierung und Mitwirkung am politischen Kompromiss. Bis zum Zweiten Weltkrieg fand in der schweizerischen Demokratie eine Integration kultureller Minderheiten und die wirtschaftspolitische Beteiligung der Unternehmerschaft aller Wirtschaftszweige statt, aber weder die Integration der Arbeiterschaft in den Staat noch ihre Beteiligung am bürgerlichen Regime.

2. Sozialpartnerschaft und Konkordanz

Es waren äussere Bedrohungen, die schliesslich zur Integration von Gewerkschaften und Sozialdemokratie führten.

a. Zur politischen Integration der Linken

Unter dem Eindruck von Hitlers Diktatur und des Faschismus gab die SP ihre antimilitaristische Haltung auf und stimmte für die Kredite zur Modernisierung der Armee vor Kriegsausbruch. Das vordringliche Ziel der Bewahrung der Unabhängigkeit im Zweiten Weltkrieg liess innere Konflikte in den Hintergrund treten. 1943, als die militärische Bedrohung durch Hitlerdeutschland ihren Höhepunkt überschritten hatte, die Probleme wirtschaftlicher und politischer Isolation sich aber eher vergrösserten, wurde mit Ernst Nobs zum ersten Mal ein Sozialdemokrat in den Bundesrat gewählt. Die einigende Wirkung der Kriegsjahre hielt an; die Sozialdemokraten mässigten ihre Kapitalismuskritik und wurden als gemässigte Reformpartei ab 1959 auf Betreiben der CVP zum gleichberechtigten Regierungspartner. Die Nachfolgeorganisation der kommunistischen Partei, die Partei der Arbeit (PdA), verlor dagegen mit ihrer fortgesetzten Klassenkampf-Politik ihren Anhang und wurde im Klima des Kalten Krieges politisch isoliert und diskriminiert. Das Wirtschaftswachstum machte die Zusammenarbeit zwischen Bürgerlichen und Sozialdemokratie zusätzlich attraktiv. Es kam zur grossen Koalition von Freisinn, Christdemokraten, Volkspartei und Sozialdemokratie, in der die Bundesratssitze nach proportionaler Wahlstärke verteilt wurden (Zauberformel). Dies strahlte dann wiederum auf die Verfassungs- und Gesetzgebung aus. Ein breiter wirtschafts- und sozialpolitischer Kompromiss erlaubte den Ausbau des Wirtschafts- und Sozialstaats (siehe Kasten 2.4).

Damit entwickelte sich das, was in der Schweiz «Konkordanzdemokratie» genannt wird. Dieses Muster politischer Wirtschafts- und Sozialintegration war in den letzten sechzig Jahren zwar mehreren Krisenmomenten ausgesetzt. Es gab Phasen und Bereiche der Polarisierung, in der die Regierungsbeteiligung der SP umstritten war. Mit dem Aufkommen des Neoliberalismus bröckelte der sozialliberale Konsens. Nach ihren Wahlsiegen in den 1990er-Jahren liebäugelte die SVP mit einer rein bürgerlichen Regierung. Veränderte Wahlstärken führten im folgenden Jahrzehnt zum Parteienstreit über Sitzansprüche und personelle Besetzungen im Bundesrat. Nach acht Jahren der Untervertretung der grössten Partei, der SVP, rang sich die Bundesversammlung 2015 wieder zur Besetzung des Bundesrates nach den Regeln proportionaler Vertretung durch (Näheres siehe Kapitel 9 Die Regierung). Der Konkordanzzwang der Volksrechte, der die grossen Parteien zur Zusammenarbeit in der Regierung veranlasst, war stärker als die erhebliche politische Polarisierung und die parteipolitischen Umwälzungen.

Kasten 2.4: Der Schweizerische Wirtschafts- und Sozialstaat

In der Nachkriegszeit, vor allem seit den 1960er-Jahren, weiteten sich die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Staatstätigkeiten stark aus. Auf der einen Seite verstärkte der Bund sein Engagement im Ausbau der Infrastruktur für die Volkswirtschaft (Nationalstrassen und öffentlicher Verkehr, Kernenergie, Telekommunikation, Forschung und Hochschulen) und betrieb Wettbewerbs-, Regional- und Strukturpolitik. Der Staat unterstützte damit das Wachstum der privaten Produktion sowie die Modernisierung der Privatwirtschaft und hatte sich später mit der Umweltpolitik auch um die Beseitigung negativer Wachstumsfolgen zu kümmern. Auf der anderen Seite entbanden die staatlichen Sozialversicherungen die gesamte Bevölkerung vom individuellen Risiko der Krankheit, der Invalidität, des Alters oder der Arbeitslosigkeit. Der Ausbau des öffentlichen Gesundheits- und Bildungswesens erhöhte die Lebenserwartung und verbesserte die Gesundheit sowie das Ausbildungsniveau und die Berufsfähigkeiten der Bevölkerung. Der Wirtschafts- und Sozialstaat erfüllt damit bedeutende Funktionen in der Entwicklung zur schweizerischen Wohlstandsgesellschaft.

Der Wirtschafts- und Sozialstaat beruht auch in der Schweiz auf einem gesellschaftspolitischen Grundkonsens: Der Staat garantiert den freien Leistungswettbewerb mit privater Gewinnorientierung. Das Wachstum der privaten Wirtschaft und ihre innovative Entwicklung ist das Ziel aller politischen Kräfte, denn es ermöglicht Vollbeschäftigung sowie die Finanzierung der wirtschafts- und sozialstaatlichen Leistungen über Steuern und Abgaben. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten werden sowohl durch steuerliche Massnahmen wie durch die politische Verteilung meritorischer Güter (Bildung, Gesundheit) gemildert.

Der heutige schweizerische Sozial- und Leistungsstaat ist grösstenteils ein Produkt der politischen Konkordanz seit 1960. Im Zuge des neoliberalen Globalisierungtrends und der Finanzkrise der öffentlichen Hand wurden einzelne Elemente des Sozialstaats zunehmend umstritten. Trotzdem kam es zum weiteren Ausbau. Wies der schweizerische Sozialstaat bis zu Beginn der 1990er-Jahre noch deutliche Parallelen zur Gruppe der liberalen Wohlfahrtsstaaten (USA, Japan) auf (Armingeon 1996a:76), so haben sich die umfangreicheren sozialstaatlichen Leistungen in den letzten 20 Jahren denjenigen anderer europäischer Länder deutlich angenähert (sozialstaatliche Konvergenz).

b. Zur Sozialpartnerschaft

Das zweite Element der Integration ist die Herausbildung der Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Sie begann 1937 auf Betreiben des Bundesrats mit einem Vertrag zwischen den Arbeitgebern und den Gewerkschaften der Maschinenindustrie. Das sogenannte «Friedensabkommen» anerkannte die Gewerkschaften als die Vertreter der Arbeiterschaft, verlangte die Lösung aller Konflikte zwischen den Sozialpartnern auf dem Verhandlungsweg und verbot sowohl Streiks als auch Aussperrungen.22 Nach dem Krieg verbreitete sich das Muster friedlicher, kollektiver Konfliktregelung zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite über Gesamtarbeitsverträge (GAV) in den meisten Wirtschaftszweigen. Von den gegenseitigen Vorteilen dieser Sozialpartnerschaft profitierten die Arbeitnehmerinnen mit steigendem Wohlstand vor allem in der Wachstumsphase bis in die siebziger Jahre. Mit der weltweiten Öffnung der nationalen Volkswirtschaften, die der Kapitalseite grosse Mobilitätsvorteile brachte, ist die Position der Gewerkschaften allerdings wie überall schwächer geworden.

Eine besondere Bedeutung hat die Sozialpartnerschaft in der Schweiz jedoch durch ihre institutionelle Verknüpfung mit der staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik erlangt. 1947 wurden, in den sog. «Wirtschaftsartikeln», die Beziehungen zwischen Wirtschaft und Staat verfassungsmässig geregelt. In der bis 1999 gültigen Bundesverfassung war in Art. 32 BV ausdrücklich festgehalten, dass die «zuständigen Organisationen» in den Fragen der Wirtschaftspolitik in der Gesetzgebung «angehört» und im späteren Vollzug «zur Mitwirkung herangezogen» werden. Nun war eine solche Zusammenarbeit zwischen Staat und Verbänden nichts Neues. Sie existierte, wie bereits erwähnt, seit je, und war in den 1930er-Jahren insbesondere für den Branchenschutz von Gewerbe und Landwirtschaft praktiziert worden. Die Wirtschaftsartikel aber verstärkten diese Zusammenarbeit und verallgemeinerten sie für alle wichtigen Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Gewerkschaften, in der Sozialpartnerschaft gleichberechtigte Partner der Unternehmerschaft, wurden nun ebenfalls Partner in der Zusammenarbeit von Wirtschaft und Staat. Damit näherte sich der schweizerische Verbandsstaat jenem tripartiten Integrationsmuster, das die Politikwissenschaft in vielen europäischen Ländern vorfindet und als «Neokorporatismus» bezeichnet. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass alle wichtigen Konflikte zwischen Kapital und Arbeit durch deren Organisationen und unter Beizug des Staates geregelt werden.

Mit der Verbreitung dieses Konfliktregelungsmusters in der Wirtschafts- und Sozialpolitik konnte man auch die Schweiz als ein neokorporatistisches Land bezeichnen. Allerdings unterscheidet sich der schweizerische Neokorporatismus von demjenigen anderer Länder in vier wichtigen Punkten. Erstens ist der Einfluss der Arbeitnehmer in der Schweiz geringer als in anderen europäischen Kleinstaaten wie Schweden, Österreich, Norwegen oder Holland, wo sich Arbeitgeber- und Arbeitnehmereinfluss ungefähr die Waage halten. Zweitens sind die Wirtschaftsorganisationen der Schweiz dezentral geblieben, und in jüngster Zeit verlagert sich die Regelung der sozialpartnerschaftlichen Konflikte zurück auf die Betriebsebene, womit sich die Rolle des Staates und der Einfluss des neokorporatistischen Integrationsmusters vermindern. Drittens sind verbandsstaatliche Lösungsmuster in allen politischen Aufgabenbereichen anzutreffen und reichen damit über die Politikfelder hinaus, welche die internationale Politikwissenschaft als die Bereiche des Neokorporatismus identifiziert.23 Viertens aber sind mit Beginn der 1990er-Jahre die Interessengegensätze zwischen Binnen- und Exportwirtschaft stärker geworden, und mit der Liberalisierungs- und Privatisierungstendenz kommt es zu einer teils stärkeren Trennung von Wirtschaft und Staat. Beides drängt die korporatistischen Integrationsmuster zurück. Diese Entwicklung zeigt sich auch darin, dass in der neuen Bundesverfassung die Zusammenarbeit mit den Verbänden nicht mehr erwähnt wird.24

E. Grenzen der politischen Integration und des schweizerischen Pluralismus

In den vorangehenden Abschnitten haben wir gezeigt, wie in der Schweiz Probleme des Zusammenlebens verschiedener Sprachen und Konfessionen, später auch die Interessengegensätze und Konflikte zwischen Arbeit und Kapital, auf dem Wege politischer Integration gelöst wurden. Diese politische Integration beruhte auf folgenden Regeln und Einrichtungen: dem Verzicht auf Vorrechte einer einzelnen Kultur bei der Gründung des Nationalstaats, den Minderheitenrechten wie der Sprachenfreiheit, der vertikalen Machtteilung des Föderalismus, der proportionalen Beteiligung der Minderheiten und schliesslich der Konkordanzdemokratie. All dies diente dem Ziel, jene nachteilige Auswirkung der Mehrheitsdemokratie zu vermeiden, an denen die Schweiz hätte scheitern können: die dauernde Zurücksetzung und Benachteiligung einzelner struktureller Minderheiten.

Diese politische Integration war vor allem in der Zeit des Zweiten Weltkriegs wichtig gegen aussen zur Bewahrung der staatlichen Unabhängigkeit. Sie war aber auch bedeutsam nach innen: Die Schweiz ist zu einer pluralistischen Gesellschaft geworden, in der die kulturellen Unterschiede bewahrt bleiben, ohne Anlass zur Diskriminierung zu bilden, und in der alle Gruppen gleiche Chancen auf politische und gesellschaftliche Anerkennung haben. Auf politischer Ebene, aber auch als Zivilgesellschaft mit verhältnismässig wenig Aggression und Gewalt,25 hat die multikulturelle Schweiz Bemerkenswertes erreicht. Ein wichtiger Beurteilungsmassstab für die Qualität des politischen und gesellschaftlichen Pluralismus liegt aber auch in der Antwort auf die Frage, ob der Staat alle Partikularinteressen gleich behandelt und ob die politische Mehrheit Gesetze erlässt, die Ausdruck verallgemeinerungsfähiger Werte sind. Als solche Werte gelten vor allem: Demokratie, Menschenrechte, Grundrechte und Gleichheit.

In den 1960er-Jahren schrieb der damalige Rektor der Hochschule St. Gallen und spätere Bundesrichter Otto K. Kaufmann (1965) einen vielbeachteten Beitrag unter dem Titel: «Frauen, Italiener, Jesuiten, Juden und Anstaltsversorgte». Er wies damit auf die wichtigsten Gruppen hin, die im schweizerischen System nicht nur politisch benachteiligt, sondern auch rechtlich in einer Weise behandelt wurden, die den Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht entsprachen. Die rechtlichen Diskriminierungen sind in der Zwischenzeit grösstenteils korrigiert worden.26 Kaufmanns Beitrag weist aber auf ein grundsätzliches Problem hin: dass der schweizerische Integrationsprozess auch seine Kehrseite hat, nämlich gesellschaftlichen Ausschluss und Marginalisierung (Sciarini et al. 1997).

Während Jahrzehnten wurden zum Beispiel Kinder von Fahrenden, die gängigen Vorstellungen bürgerlicher Ordnung nicht entsprachen, von ihren Eltern getrennt und in «sauberen» Heimen erzogen. Während des Zweiten Weltkriegs wurden aus militärischen, wirtschaftlichen und politischen Gründen mehr als 20 000 Flüchtlinge an der Schweizer Grenze weggewiesen. Lange entsprachen persönliche Rechte von Patientinnen und Patienten in psychiatrischen Kliniken, von Gefangenen oder Verhafteten dem europäischen Rechtsstandard nicht. Während und nach dem Kalten Krieg überwachte die Bundesanwaltschaft unter dem Vorwand des Staatsschutzes nicht nur einige extreme Aktivisten, sondern Hunderttausende von Bürgerinnen und Bürgern, die lediglich unorthodoxe politische Ideen oder Aktionen unterstützten. Dies zeigt: Die Kehrseite erfolgreicher gesellschaftlicher Integration ist sozialer Druck zur Konformität, den nicht nur Intellektuelle und Schriftsteller spüren.

Gemessen an den normativen Ansprüchen von Demokratie und gesellschaftlicher Gleichheit, stellt die lange Benachteiligung der Frauen den wohl wichtigsten Tatbestand der Diskriminierung dar. Bis 1971 war die Schweiz eine reine Männer- und damit nur eine halbe Demokratie. Auch die weitere gesellschaftliche Gleichstellung der Frau wurde erst 1981 auf Verfassungs- und 1995 auf Gesetzesstufe zur öffentlichen Aufgabe, also 20–30 Jahre nach den anderen europäischen Ländern oder der Bürgerrechtsbewegung der USA.27 Mit der raschen Beseitigung aller Benachteiligungen der Frau im Bundesrecht konnten viele Rückstände der verspäteten Gleichstellungspolitik aufgeholt werden (Ballmer-Cao/Benedix 1994). Die Schweiz liegt bezüglich der Frauenrepräsentation in den politischen Institutionen international im oberen Mittelfeld; die Frauenmehrheit in einer Exekutive bleibt die Ausnahme, die immer noch grosses Aufsehen erregt. Hingegen hinkt die Gleichstellung der Frauen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich hinterher, wie die regelmässig erscheinenden Berichte des Bundesamtes für Statistik aufzeigen. In seiner Botschaft vom Oktober 2016 spricht der Bundesrat (2016b:2) von durchschnittlich 678 Franken pro Monat, die Frauen in der Privatwirtschaft weniger verdienen als Männer und die sich «nicht durch objektive Faktoren wie Alter, Ausbildung, Dienstjahre oder durch die ausgeübte Tätigkeit» erklären lassen.

Zum politisch virulentesten Integrationsproblem haben freilich die Beziehungen zwischen der einheimischen und der ausländischen Wohnbevölkerung sowie den Flüchtlingen aus der weltweiten Migration geführt. Seit den 1950er-Jahren verlangten verschiedenste Wirtschaftsbranchen den Zuzug ausländischer Arbeitskräfte. Diese kamen aus Italien, Deutschland, Frankreich, Österreich, später aus Spanien, Portugal, Jugoslawien und der Türkei. Mit den Freizügigkeitsabkommen von 2007 und 2009 erhielten Arbeitskräfte aus dem gesamten EU-Raum freien Zugang zum schweizerischen Arbeitsmarkt. Das hat die Zuwanderung verstärkt, auf durchschnittlich 81 000 Personen netto pro Jahr für die Periode von 2007 bis 2015 (BFS 2016a).28 Bezogen auf die einheimische Bevölkerung, sind das zum Teil höhere Zuwanderungsraten als diejenigen klassischer Einwanderungsländer wie Australien oder Kanada. Insgesamt lebten 2015 rund 2,1 Millionen oder knapp 25 % Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz. Die Schweiz ist also zu einem Einwanderungsland geworden.

Hinzu kommt die Einwanderung von Flüchtlingen. Viele von ihnen sind Opfer einer innerstaatlichen Verfolgung, von kriegerischen Gewaltereignissen oder von Naturkatastrophen. Sodann gibt es einen beträchtlichen Anteil von Asylsuchenden, die aus wirtschaftlichen Gründen ihr Land verlassen. Diese Süd-Nord-Migration beruht vor allem auf dem Produktivitätsgefälle zwischen reichen und armen Ländern, das bis 250:1 betragen kann und in der Geschichte noch nie so hoch war wie heute. Wer in einem Land Afrikas ein Jahr lang arbeiten muss für das, was in Europa in einem Tag verdient werden kann, hat Grund auszuwandern, auch wenn er weder eine Einreisebewilligung noch einen Job in Aussicht hat. Diese Armutsflucht wird ohne wirtschaftlichen Nord-Süd-Ausgleich auf absehbare Zeit nicht verschwinden. «Either poor countries will become richer, or poor people will move to rich countries», so das Fazit des Ökonomen Branko Milanovic. Politische wie Armutsflüchtlinge haben auch in der Schweiz zu einer starken Zunahme von Asylsuchenden geführt. So bilden heute Asylsuchende einen erheblichen Teil der Zuwanderung. Im Jahre 2015 stellten knapp 40 000 Personen ein Asylgesuch – so viele wie seit 1998/9, dem Höhepunkt des Kosovo-Krieges, nicht mehr. Ein Sechstel der Gesuche wurden im gleichen Zeitraum bewilligt; rund 8000 Personen erhielten eine vorläufige Aufnahme. Die amtliche Statistik weist per Ende 2015 knapp 70 000 Personen im Asylprozess aus (BFS 2016a).

Probleme des Zusammenlebens zwischen Einheimischen und Zugewanderten erwiesen sich seit Beginn einer grösseren Zuwanderung seit den 1960er-Jahren als unausweichlich: Konflikte am Arbeitsplatz, unterschiedliche Mentalitäten und Lebensweisen, geringes gegenseitiges Verständnis europäischer und aussereuropäischer Kultur, Minderheitssituationen von Schweizern in der Schule oder am Arbeitsplatz bargen zunehmend sozialen Sprengstoff. Die Frage der sozialen Integration der Zugewanderten wurde während langer Zeit verdrängt. In den 1970er-Jahren entstanden fremdenfeindliche Parteien. Sie verlangten auf parlamentarischer Ebene und mit Volksinitiativen Beschränkungen des Fremdarbeiterbestandes und weitere Massnahmen gegen die «Überfremdung» der Schweiz. In den 1980er-Jahren konzentrierten sich die Überfremdungsparteien vor allem auf das Problem der Asylsuchenden aus der Dritten Welt. Seit den 1990er-Jahren hat die SVP die Probleme der Ausländer- und Asylpolitik zu einem ihrer Hauptthemen gemacht. Sie stellte sich in Referenden gegen die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf die neuen EU-Länder (2005, 2007, 2009), gegen das Schengen-Dublin-Abkommen (2005) und gegen die erleichterte Einbürgerung von Ausländern der zweiten Generation (2004, 2017). Auf parlamentarischer Ebene setzte sie verschiedene Verschärfungen des Asylrechts durch. Den Volksinitiativen für ein Minarettverbot (2009) und die Ausschaffung krimineller Ausländer (2010) – von der SVP mit Polemik beworben – war unerwarteter Erfolg beschieden. Einen anhaltenden politischen Konflikt mit der EU bescherte 2014 die Annahme der Volksinitiative «gegen Masseneinwanderung». Sie verlangte eine eigenstaatliche Beschränkung der Einwanderung durch Kontingente, was Brüssel als unvereinbar mit dem EU-Grundsatz der Personenfreizügigkeit betrachtete und als Gegenstand einer Neuverhandlung der bilateralen Verträge bislang ausschloss.

Einwanderungs- und Asylfragen sind ein politisches Konfliktthema ersten Ranges geworden und haben massgeblich zur Polarisierung im schweizerischen Parteiensystem beigetragen (Linder 2011). Da ist zunächst die Steuerung der Einwanderung. Die Wiedereinführung eines Quotensystems, wie es in den 1990er-Jahren praktiziert wurde, steht heute im Widerspruch zur Personenfreizügigkeit innerhalb der EU. Begrenzende Quotensysteme, wie sie klassische Einwanderungsländer praktizieren, stehen nur für die aussereuropäische, nicht aber für den Hauptteil der Einwanderung aus europäischen Ländern zur Verfügung, solange die Schweiz an das Freizügigkeitsabkommen mit der EU gebunden ist. Die Massnahmen zur Begrenzung der irregulären Migration aus der Dritten Welt wiederum sind in den meisten europäischen Ländern nur begrenzt wirksam. Ein dauerhaftes Problem stellt vor allem die gesellschaftliche Integration von Einwanderungsgruppen dar.

Erstens ist es nicht möglich, Ausländerinnen und Ausländer auf dieselbe Art wie früher die eigenen Minderheiten durch die Politik der Teilhabe zu integrieren. Die ausländische Wohnbevölkerung hat auf nationaler Ebene und in den allermeisten Kantonen und Gemeinden kein Stimm- und Wahlrecht. Sie kann deshalb ihre Interessen nicht auf dem Wege politischer Machtbildung und Integration durchsetzen wie seinerzeit Romands oder Katholiken.

Ein zweites Problem ist die starke Zunahme der Zuwanderung aus aussereuropäischen Ländern, deren Kultur sich deutlich von unseren eigenen Vorstellungen unterscheidet. Nicht nur Weltanschauung und Sprache dieser Gruppen, auch deren strukturelle Kultur (Funktion der Familie, geschlechtliche Rollenteilung, Funktion der Erwerbsarbeit und des Staates, Ehre und Schande oder Recht und Unrecht etc.) unterscheiden sich teilweise stark von unseren eigenen Vorstellungen. Hinter der Frage, ob der muslimische Vater seiner Tochter das Tragen des Kopftuchs in der Schule befehlen darf, steht bekanntlich die Frage, wie weit die religiöse und familiale Kultur einer Immigrantengruppe auch gegen Kernelemente unserer eigenen Gesellschaftskultur verstossen darf (z. B. individuelle Grundrechte und Selbstbestimmung). Dabei stellt sich aber nicht nur die Frage, wie weit unseren eigenen Verfassungsrechten Nachachtung verschafft wird (z. B. bei der Verhinderung von «arranged marriages»), sondern es geht auch um den legitimen Minderheitenschutz von Eingewanderten. Hier ist die direkte Demokratie «fremden» Minderheiten gegenüber weniger offen als den eigenen oder gar diskriminierend (Vatter/Danaci 2010; Vatter 2011), wie die jüngsten Beispiele des Minarettverbots oder der Ausschaffungsinitiative zeigen.

Ein drittes Problem berührt die Grenzen der Einwanderung insgesamt. Nach den Modellen des Entwicklungsökonomen Paul Collier (2013) verlaufen Kosten und Nutzen der Immigration nicht einfach linear. Bis zu einem bestimmten Niveau ziehen die Beteiligten – das Herkunfts-, das Gastland sowie die Einwanderer – allesamt Vorteile. Oberhalb dieser Grenzen überwiegen die Kosten, etwa brain drain für das Herkunftsland oder Anpassungskosten des Gastlands. Vor allem aber nehmen die Probleme sozialer Integration zu: Je grösser eine Einwanderungsgruppe, desto geringer der Anreiz, sich mit Sprache und Kultur des Gastlands auseinanderzusetzen, und desto stärker neigt sie dazu, ihr Sozialleben auf die eigene Gruppe zu beschränken. Integration wird schwieriger, soziale Spannungen zwischen einheimischer und Einwanderungsgesellschaft nehmen zu. Nach Collier sind daher die sozialen Probleme ungesteuerter Einwanderung bedeutender als die ökonomischen Vor- und Nachteile für einzelne Gruppen.

Das vierte Problem weist hin auf die Hypothek fragwürdiger Einwanderungspolitik vergangener Jahrzehnte. Diese war vordergründig von den kurzfristigen Interessen einzelner Wirtschaftszweige an billiger Arbeitskraft geprägt. Im Hintergrund stand ein klammheimlicher Konsens von Links bis Rechts, die unangenehmere oder unqualifizierte Arbeit den Ausländern zu überlassen. Das ist nicht mehr und nicht weniger als ein Zwei-Klassen-Modell, in welchem sich das Konfliktpotenzial der Schichtung von oben und unten mit den Konfliktstoffen zwischen Einheimischen und Fremden verbindet. Erst in jüngerer Zeit zeichnet sich eine Abkehr von diesem hochproblematischen Modell ab: Mit dem Freizügigkeitsabkommen kommen vermehrt qualifizierte, zum Teil hoch qualifizierte Arbeitskräfte in die Schweiz. Darin sehen Unternehmen wirtschaftliche Vorteile. Dem stehen aber wiederum soziale Kosten gegenüber: Die Skepsis gegenüber der Einwanderung, Angst vor wirtschaftlichem Abstieg und Befürchtungen einer Überbevölkerung der Schweiz werden neu auch von jenen Mittelschichten geteilt, welche die Konkurrenz qualifizierter ausländischer Arbeitnehmer spüren (Freitag et al. 2015).

Unter all diesen schwierigen Vorzeichen können sich die Bemühungen der Integrationspolitik durchaus sehen lassen, auch wenn diese nicht alle Einwanderungsgruppen erreicht. Ausländerinnen und Ausländer aller Kategorien geniessen vollen Grundrechtsschutz; wer über eine Aufenthaltsbewilligung verfügt, nimmt an allen Leistungen des Sozialstaats teil. In der Schweiz wurden 2015 insgesamt 40 000 Ausländer eingebürgert. Das entsprach 4,8 Einbürgerungen pro 1000 Einwohner – ein europäischer Spitzenwert, der sich in anderer Betrachtung allerdings stark relativiert: Bezogen auf die Ausländerbevölkerung, liegen die Einbürgerungen mit 2 Prozent unter dem europäischen Durchschnitt von 2,3.29 Einschlägige Statistiken weisen der Schweiz regelmässig einen Spitzenplatz bezüglich der geringen Arbeitslosigkeit jugendlicher Ausländer oder der Qualität der Berufsausbildung von Secondos zu.30 Einwanderer werden also weniger auf der politischen als der zivilgesellschaftlichen Teilhabe integriert. Das multikulturelle und institutionelle Erbe der Schweiz bleibt trotzdem relevant. Einwanderer haben nicht nur die Möglichkeit vorteilhafter Beschäftigung, sondern auch die Option, in der Schweiz jene Sprachkultur zu wählen, die ihnen am meisten entgegenkommt. Integration ist beidseitiges Geben und Nehmen und realisiert sich lokal. Das dichte soziale Netz etwa der Sportvereine und der Freiwilligenarbeit sowie die grosse Autonomie und Handlungsfähigkeit lokaler Behörden in der Schweiz (vgl. Manatschal 2013) sind günstige Bedingungen, um die Herausforderungen der Integration zu bestehen.

1 Mitunter gibt es Verwechslungen zwischen den Begriffen «Staatenbund» und «Bundesstaat». Ein Staatenbund bezeichnet ein Vertragssystem unabhängiger Staaten, während der Begriff «Bundesstaat» oder «Föderation» einen Staat umschreibt, in dem die Macht zwischen einer Zentralregierung und mehreren subnationalen Regierungen geteilt wird, die den Status von Mitgliedstaaten haben. Die Schweiz wird deshalb von 1815 bis 1848 als Staatenbund und seither als Bundesstaat bezeichnet.

2 Zu den sog. «Regenerationskantonen» zählen Aargau, Basel-Landschaft, Bern, Freiburg, Luzern, Schaffhausen, St. Gallen, Solothurn, Thurgau, Waadt und Zürich. Zu den labilen Kantonen, die z. T. wieder in das konservative Lager wechselten, zählt Kölz (1992:223) Luzern, St. Gallen und Freiburg.

3 Altermatt (1996:29 ff.), in seiner Abhandlung zum Ethnonationalismus, unterscheidet «Staatsnation» und «Kulturnation» wie folgt: Für die Kulturnation sind Sprache, Abstammung, Religion und geschichtliche Überlieferung von zentraler Bedeutung. Die Nation wird somit durch vorstaatliche Kriterien gebildet und beruht auf einem ethnischen Nationenbegriff. Hier sind vor allem Deutschland und Italien im 19. Jahrhundert einzureihen, später aber auch die im Zuge des Ethnonationalismus in Ex-Jugoslawien gebildeten Staaten Kroatien, Serbien und Montenegro sowie der Kosovo.

Die Staatsnation hingegen stellt die politische Einheit in den Vordergrund, und zwar als Gemeinschaft von Bürgern, die vor dem Recht gleich sind – unabhängig von Sprache, Religion oder Abstammung. Als Beispiele politischer Nationen können Frankreich, die USA, Grossbritannien oder eben die Schweiz genannt werden. Einen tieferen Einblick in die Geschichte der Nationen und des Nationalismus liefern beispielsweise Hobsbawm (2004) oder Zimmer (2003).

4 Die Landschaft verlangte 1830 die proportionale Vertretung im kantonalen Parlament, d. h. eine Anzahl Sitze entsprechend der Bevölkerungszahl. Nachdem die Stadt dies verweigert hatte, brach ein gewaltsamer Konflikt aus, der Verletzte und Tote forderte. Schliesslich anerkannte die Eidgenossenschaft 1833 die Teilung zwischen Basel-Landschaft und Basel-Stadt in zwei Halbkantone und beendete so den Konflikt. Vgl. Andrey (1983:247–249) und Mueller (2013).

5 Zit. nach Masnata/Rubattel (1991:52). Auf die überragende Bedeutung des wirtschaftlichen Faktors verweisen weitere ältere Wirtschaftshistoriker wie Rappard (1912) oder Nabholz (1954). Neuere historische Arbeiten relativieren sie, so Zimmer (2003). Einen Überblick zum Stand der Diskussion vermitteln die Aufsätze von Hans-Ulrich Jost sowie Patrick Halbeisen und Margrit Müller, beide in: Ernst/Tanner/Weishaupt (1998:91 und 117 ff.). Vgl. auch Kreis (2014).

6 Gemäss Hutson (1991) gibt es mehrere Perioden gegenseitiger Beeinflussung. Besonders wichtig waren drei Etappen: 1) Im Konflikt zwischen amerikanischen Föderalisten und Anti-Föderalisten (d. h. Konföderalisten) verwiesen Letztere auf das schweizerische Modell. 2) Die Schweizer liessen sich 1848 stark von der amerikanischen Verfassung inspirieren, als sie die Prinzipien von Demokratie und Föderalismus kombinierten. 3) Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die schweizerische direkte Demokratie von den amerikanischen Weststaaten als Referenz benutzt, als es um die Einführung von Referendum und Initiative ging. Vgl. auch die Aufsätze von Tobias Kästli und Simon Netzle in Ernst/Tanner/Weishaupt (1998:35 ff. und 49 ff.).

7 Die moderne Föderalismusforschung hat dafür die Begriffe von «shared rule» (Mitwirkung) und «self-rule» (Autonomie) geprägt (vgl. Elazar 1987; Hooghe et al. 2010).

8 Hierbei konnten die Befragten bis zu drei Hauptsprachen angeben. Nimmt man die Gesamtbevölkerung inklusive der ca. 24 % Ausländerinnen und Ausländer als Basis, so verändern sich die Anteile der Sprachgruppen wie folgt: 63 % Deutsch, 23 % Französisch, 8 % Italienisch, 0,5 % Rätoromanisch und 22 % andere Sprachen (BFS 2016b).

9 Rätoromanisch vermochte sich erst 1938 aufgrund eines Vorstosses der Bündner Regierung als offizielle Landessprache zu etablieren (Widmer et al. 2004). Die Revision von 1996 stand unter den Zielen der gleichwertigen Anerkennung der vier Landessprachen, der Förderung von Verständigung und Austausch zwischen den Sprachgemeinschaften, der Verpflichtung des Bundes zur Unterstützung der Kantone Graubünden und Tessin bei der Spracherhaltung sowie der Aufwertung des Rätoromanischen zur Teilamtssprache (APS 1996:311; APS 1995:295 ff.).

10 Welches Konfliktpotenzial die kulturell-sprachliche Differenz in mehrsprachigen Kantonen bergen kann, zeigt etwa das Beispiel Freiburgs, wo ehemals rein Französisch sprechende Gemeinden wie Marly aufgrund der Migration bedeutende deutschsprachige Minderheiten ausweisen. Ein typischer Konflikt entbrannte ob der Frage, ob deutschsprachige Eltern das Recht hätten, ihre Kinder in die deutschsprachigen Schulen nach Freiburg zu schicken. Solche Konflikte regeln die Kantone grösstenteils selbst im Rahmen ihrer politischen Autonomie. In letzter Instanz wirkt in vielen Fällen das Bundesgericht an der Streitschlichtung mit und bestimmt damit den konkreten Gehalt der verfassungsmässigen Sprachenfreiheit. So hat es zum Beispiel in der Frage des Umgangs mit Behörden für unzulässig erklärt, das Rätoromanische in einem Gebiet als Gerichtssprache auszuschliessen, in welchem der Anteil der Romanischsprechenden nahezu 50 Prozent beträgt (Müller 1991:82). Andererseits ist es nach bundesgerichtlicher Praxis mit der Sprachenfreiheit noch vereinbar, dass im zweisprachigen Freiburger Saanebezirk mit rund 15 000 oder 26 Prozent Deutschsprachigen nur das Französische als Gerichtssprache anerkannt wird (BGE 106 Ia 299 ff.). Hinsichtlich der Unterrichtssprache hat das Bundesgericht in BGE 100 Ia 462 ff. entschieden, eine kleine Bündner Gemeinde sei nicht verpflichtet, für die Angehörigen der romanischsprachigen Minderheit (20 Prozent) Schulklassen zu führen, in welchen Rätoromanisch unterrichtet wird; die Sprachenfreiheit verlange auch nicht, dass die betreffende Gemeinde die Kosten des Schulbesuchs in einer Nachbargemeinde mit rätoromanischer Unterrichtssprache übernehme (Müller 1991:83).

11 Die italienischsprachige Schweiz hatte seit 1848 knapp zur Hälfte der Zeit einen Vertreter im Bundesrat (Giudici/Stojanovic 2016:296). Der gegenwärtig letzte Bundesrat italienischer Muttersprache schied allerdings 1999 aus dem Bundesrat aus.

12 Die mehrsprachigen Kantone kennen wenig formelle Regelungen zur proportional-politischen Vertretung ihrer Sprachminderheiten. Immerhin sichert das Wahlrecht von BE und VS je mindestens einen Sitz für die jeweilige Sprachminderheit in der kantonalen Regierung (vgl. Stojanovic 2017).

13 Zur vertieften theoretischen Auseinandersetzung vgl. Kapitel 11 und 14.

14 Allenfalls liesse sich ein Zusammenhang zu der Stadt-Land Unterscheidung herstellen.

15 Zitiert nach Gruner (1964:40).

16 Vgl. Gruner (1959:335–342); Katzenstein (1984); Linder (1983a); Farago (1987).

17 Vgl. Gruner (1987/88), Jost (1992) und Craig (1988).

18 Zur Geschichte der KPS: Stettler (1980). Zum Verhältnis von KPS und SPS: von Gunten/Voegeli (1980).

19 Dieses verlangte im Gegensatz zur bürgerlichen Politik nicht den Protektionismus einzelner Branchen, sondern die Ankurbelung der allgemeinen Beschäftigung durch verstärkte staatliche Investitionen. Es wäre etwa vergleichbar dem New Deal Roosevelts in den USA oder einem keynesianischen Beschäftigungsprogramm.

20 Zum Wandel der wirtschaftspolitischen Konzeptionen der SP: Scheiben (1987). Zur Haltung der Sozialdemokratie betreffend Wehrfrage: Zanoli (2003).

21 Anders in den Kantonen: Schon um die Jahrhundertwende verschaffte sich die SP in den urbanen Industriekantonen BS, GE und ZH über den freiwilligen Proporz in Volkswahlen Eintritt in die Regierung, und vor Ende des Zweiten Weltkriegs war die SP in den Exekutiven von 15 Kantonen vertreten (AG, AR, BE, BL, BS, GE, GL, NE, SG, SO, SH, TG, TI, ZG und ZH) (Felder 1993).

22 Das Friedensabkommen von 1937 war nicht ganz neu. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts gab es Gesamtarbeitsverträge zwischen einzelnen Arbeitgebern und Gewerkschaften. Allerdings brachte das Friedensabkommen zwei wichtige Neuerungen: Die Arbeitgeber wurden direkt an die Entscheidungen ihrer Organisation gebunden, und Streiks bzw. Ausschliessungen wurden auch für den Fall einer Änderung des Friedensabkommens ausgeschlossen.

23 Zur Diskussion des schweizerischen Neokorporatismus: Kriesi (1980), Linder (1983a), Farago (1987), Armingeon (1996a, 2001).

24 Die Anhörung via Vernehmlassungsverfahren bleibt allerdings in Art. 147 geregelt.

25 Nach einer Studie von Martin Killias et al. (2011) hat sich das Niveau der Kriminalität allerdings weitgehend den Verhältnissen im übrigen Europa angeglichen. Namentlich bei Einbrüchen und Tätlichkeiten/Drohungen lägen die Raten der Schweiz heute höher als in rund der Hälfte der europäischen Länder.

26 Das Jesuiten- und Klosterverbot wurde 1973 aufgehoben. Auch das Schächtverbot, welches das Schlachten von Tieren nach jüdischem Ritus untersagte, wurde aus der Verfassung gestrichen, aber durch ein entsprechendes Verbot im neuen Tierschutzgesetz von 1978 ersetzt. Vgl. APS 1976:89 f., APS 1977:91 sowie APS 1978:87.

27 Vgl. Mesmer (1988); Linder (1988).

28 Zum Vergleich: das durchschnittliche Einwanderungssaldo von Ausländern für die Jahre 1998–2006 betrug 38 000 pro Jahr.

29 Nur Luxembourg ist mit 6,6 Einbürgerungen pro 1000 Einwohner noch aktiver; vgl. Alice Kohli, «Hohe Hürden für den Schweizer Pass», NZZ vom 28.11.2013.

30 Dazu beispielsweise: Equal Opportunities? The Labour Market of Children of Immigrants. OECD Publication 2010, OECD Library. www.oecd.org

Schweizerische Demokratie

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