Читать книгу Sinn in der Kreativität finden - Sean Tucker - Страница 10

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Ich weine nicht so leicht. Wenn etwas schief läuft, schalte ich in den »Ich kriege das hin«-Modus. Ich bin derjenige, der sich in kritischen Momenten zusammenreißt und versucht, eine Lösung zu finden, auch wenn ihn die Situation genauso stark belastet wie alle anderen. Ich bin derjenige, der bei Beerdigungen die Trauernden umarmt, aber seine eigenen Tränen für später aufspart.

Vielleicht ist das meine angeborene Persönlichkeit.

Vielleicht liegt es auch daran, wie ich aufgewachsen bin. Mein Vater verließ uns, als ich vier Jahre alt war, und ich musste meiner Mutter Trost spenden, während sie den Verlust eines Mannes betrauerte, den sie sehr liebte. Vielleicht habe ich das verinnerlicht.

So oder so, es muss schon einiges zusammenkommen, damit ich über reale Probleme Tränen vergieße.

Allerdings bin ich ein großer Softie, wenn es um Kunst geht.

Ob Sie es glauben oder nicht, vor Kurzem habe ich wegen eines Videospiels geweint. Ohne spoilern zu wollen: Die Schlussszene von The Last of Us, Part II hat mich umgehauen. Ich hatte Stunden mit Figuren verbracht, die mir wirklich ans Herz gewachsen waren. Und dann trieb mir der rührende Schluss der Geschichte mit seinem bittersüßen Moment der Erlösung die Tränen in die Augen.

Mir kommen immer die Tränen, wenn im Kino gute Schauspieler für einen Moment Verletzlichkeit zeigen. Wenn zum Beispiel Will Smith in der Schlussszene von Das Streben nach Glück versucht, nicht zu weinen, als ihm sein Traumjob angeboten wird, bin ich immer wieder zu Tränen gerührt.

An manchen Tagen verliere ich mich auf YouTube, sehe mir Konzertvideos an und ende immer als ein heulendes Häufchen Elend, wenn es den Sängerinnen oder Sängern gelingt, ihr ganzes Herz in einen Song zu legen.

Kürzlich erst musste ich sehr weinen, als ich The Crown schaute, eine Netflix-Serie über die Herrschaft von Elizabeth II. In Folge 3 der dritten Staffel geht es um die tragischen Ereignisse der Aberfan-Katastrophe von 1966, bei der eine Abraumhalde in den Hügeln oberhalb des walisischen Dorfes einstürzte und 144 Einwohner ums Leben kamen. Besonders tragisch ist, dass 116 der Todesopfer Kinder waren, darunter 109 Schüler der Pantglas Junior School. Das Gebäude wurde am 21. Oktober um 9.15 Uhr, als die Kinder gerade an ihren Tischen saßen, von der Schlammlawine erfasst, die den Berg hinunterrollte.

Diese Folge der Serie zeigt auf beeindruckende Weise die Verzweiflung und die Würde dieser tapferen Gemeinde, die einen hoffnungslosen Rettungsversuch unternahm, bei dem sie sich mit allen möglichen Geräten durch Erdhügel wühlte, um zu ihren verschütteten Kindern zu gelangen.

Fast eine Woche später, am 27. Oktober, wurden 81 Kinder an einem einzigen Tag in einem Sammelgrab in Sichtweite der Kohlenhalde beigesetzt, die eine ganze Generation dieses kleinen Dorfes ausgelöscht hatte.

Diese untröstlichen Eltern, die Menschen dieser am Boden zerstörten Gemeinde, noch mit dem Schlamm unter den Fingernägeln vom Ausgraben der Leichen ihrer Kinder unter den Trümmern, standen nun auf einem windgepeitschten Hügel und erhoben ihre Stimmen, wie es nur ein walisischer Chor kann, und sangen zu einem Gott, auf den sie zu Recht wütend waren.

Ich glaube, ich sah nach dem Ende dieser Folge ziemlich verheult aus, denn sie ist wahr. Ich meine damit nicht, dass die Ereignisse tatsächlich passiert sind. Das ist offensichtlich. Ich weinte, weil es wahr ist, dass das Leben hart ist. Es ist wahr, dass das sinnlose Chaos manchmal die Oberhand gewinnt. Es stimmt, dass sich das Leben manchmal absichtlich grausam anfühlt, so wie der Einsturz um 9.15 Uhr statt um 8.15 Uhr, als die Kinder noch zu Hause waren und frühstückten.

Es stimmt auch, dass Menschen im Angesicht unvorstellbaren Leids eine inspirierende Widerstandsfähigkeit und einen ungebrochenen Glauben an das Leben an den Tag legen können. Und dass wir uns angesichts des überwältigenden Leids manchmal nur zusammenraufen und unsere Stimmen gemeinsam erheben und singen können.


Dieses Bild drückt für mich sehr gut das aus, was wir tun, wenn wir etwas herstellen. Das ist als ob die Menschheit im Bewusstsein dessen, was sie eint, auf einem Hügel steht und singt, teils um ihrer Verzweiflung Ausdruck zu verleihen, teils um gemeinsam die Hoffnung zu beschwören. Doch die wichtigste Zutat für gute Kunst ist, dass sie die Wahrheit sagen muss, und damit meine ich keine trockene Aneinanderreihung von Fakten.

Während die Wissenschaft versucht, uns mit Informationen und Problemlösungen zu versorgen, geht es in der Kunst nicht um klare Antworten. Kunst ist weder vorsichtig noch bestimmt. Sie versucht nicht, irgendetwas zu beweisen, und sie ist sich über vieles nicht sicher. In der Regel versucht sie nicht, die Dinge zu ergründen. Stattdessen begnügt sie sich damit, zu beschreiben, wie die Dinge sind. Die Wahrheit, von der sie spricht, ist die existenzielle Wahrheit, die wir Menschen zwar ahnen, aber nur selten in Worte fassen können.

Kunst schreit und flüstert abwechselnd durch Pinsel und Schreibmaschine, auf Leinwänden und über Klaviertasten. Sie spinnt Fäden, arrangiert Farben und schafft Harmonien, die uns Dinge über das Leben sagen, die wir zwar ahnen, aber nur schwer in Worte fassen können. Gute Kunst wirft uns die schmutzige Wahrheit vor die Füße und erlaubt uns, sie zu verarbeiten und damit umzugehen. Gute Kunst ist ein Sprung in die Tiefen unserer Realität.

Die Dinge, die wir erschaffen, können positiv oder negativ, hoffnungsvoll oder verzweifelt sein. Sie können die Ordnung feiern oder das Chaos beschreiben, aber unabhängig vom Inhalt klingt die beste Kunst wahr, und deshalb reagieren wir so stark auf sie, wenn wir sie sehen, schmecken, hören oder berühren.

Manchmal ist es offensichtlich, was ein Werk aussagt, wie z. B. ein gemaltes Porträt, das das Leben eines Menschen würdigt und in einem Museum sogar mit einer kleinen Tafel versehen ist, auf der erklärt wird, wer die Person ist und warum das Werk in Auftrag gegeben wurde.

Manchmal können wir die Wahrheit nur in dem erahnen, was jemand geschaffen hat, wie z.B. in den scheinbar einfachen Farbblöcken eines Rothko-Gemäldes, bei dem jeder eine andere Meinung darüber hat, »was es bedeutet«, weil es für verschiedene Menschen unterschiedliche Wahrheiten aussagt.

Ich glaube, dass uns eine geschaffene Ordnung auf einer ganz allgemeinen Ebene bewegt.

Ich glaube auch, dass uns die geschaffene Unordnung gleichermaßen berühren kann, denn selbst wenn wir das Chaos benennen oder versuchen, es zu beschreiben, erschaffen wir eine Ordnung. Selbst eine scheinbar zerstörerische und dunkle Kunst, die von außen nur wie brodelndes Chaos aussieht, ist immer noch ein Versuch, unsere Erfahrung von Unordnung und unsere kollektive Reaktion darauf zu beschreiben.


Also gut, bevor wir weitermachen, legen wir die Karten auf den Tisch: In meinen Zwanzigern war ich Pastor.

Bevor Sie jetzt die Flucht ergreifen, nein, ich werde nicht versuchen, Sie zu irgendetwas zu bekehren, versprochen! Zumal ich vor einem Jahrzehnt aus der institutionellen Kirche ausgetreten bin, bin ich mir nicht einmal sicher, wozu ich Sie bekehren sollte.

Davon abgesehen habe ich bei meiner Arbeit für die Kirche viel gelernt, und das Beste davon habe ich mitgenommen, einschließlich eines Glaubens, der für die meisten Kirchen zu weit gefasst und chaotisch ist, um ihn zu ertragen, der mir aber dennoch sehr viel bedeutet.

Ich werde jetzt kurz über die Heilige Schrift sprechen, aber Sie sollten wissen, dass ich sie nicht wörtlich nehme. Ich persönlich bin sogar der Meinung, dass eine wörtliche Lesart alter Texte, zumal dieser Herkunft, sie ihres Reichtums beraubt.

Für mich ist die Heilige Schrift Kreativität in ihrer besten Form. Ursprünglich wurde sie gesprochen, in Form von Gedichten und Geschichten, lange bevor sie aufgeschrieben wurde, und sie stellt unsere schwachen und zerbrechlichen Versuche dar, unsere eigene Existenz zu verstehen. Jahrtausende vor den Erkenntnissen unserer modernen Wissenschaft wurde sie von Philosophen und Theologen niedergeschrieben. Aber noch bevor die sie zu Papier brachten, machten diese Geschichten über Jahrhunderte die Runde unter einfachen Menschen, die am Lagerfeuer saßen, Schafe hüteten und davon erzählten, was ihrer Meinung nach zur Entstehung all dessen führte, was sie kennen.

Wenn man keine Antworten hat, wendet man sich manchmal am besten der Kunst zu, und so griffen diese Menschen zu lebendigen, poetischen Erzählungen, die wahrscheinlich nie wörtlich genommen werden sollten. Nur der moderne rationale Verstand besteht darauf, diesen Fehler zu machen. Aber ich brauche diese Texte nicht wörtlich oder im wissenschaftlichen Sinne als wahr zu verstehen, damit sie in ihrer Substanz wahr sind.

Sowohl in der jüdischen als auch in der christlichen Tradition beginnt die Heilige Schrift mit einem Bild des reinen Chaos. Beide verwenden den hebräischen Ausdruck »Tohu wa bohu«, der bekanntermaßen schwer zu übersetzen ist. Wir haben das im Laufe der Jahrhunderte mit Worten wie »Dunkelheit«, »Leere«, »Nichts«, »unsichtbar«, »nichtig« und »formlos« versucht. Sicher wollten die frühen Schriftsteller damit andeuten, dass es, bevor es »dich« und »mich« und »Berge« und »Meere« gab, nur ein Nichts gab – ein Chaos ohne Form.

Diese Geschichtenerzähler gaben uns dann die Vorstellung, dass Gott, die schöpferische Kraft, alles auf eine ganz besondere Weise ins Leben rief. Er »sprach« es in die Wirklichkeit. Mit einem gesprochenen Wort entstand Ordnung aus dem »Nichts«.

In dieser Geschichte gab es also ein Chaos.

Dann gab es ein Wort.

Dann die Ordnung.

Es ist sehr schwierig, darüber zu sprechen, denn unser rationaler Verstand entwirft sofort buchstäbliche Bilder von einem alten bärtigen Mann, der leicht glühend und durchsichtig in einer Suppe aus Nichts schwebt und plötzlich mit dröhnender Stimme ein einzelnes Wort spricht. Und dann erscheinen mit einem Mal Atome und Staub und Sterne und Galaxien und Planeten und alles andere in der materiellen Wirklichkeit.

Aber wenn wir dieses sehr vereinfachte Bild beiseitelassen und nach den Nuancen suchen, gibt es etwas wirklich Tiefgründiges zu entdecken.

Es gibt ein Wort, das Theologen für diese Vorstellung verwenden, Ordnung aus dem Chaos zu »sprechen«: »Logos«. Und an dieser Vorstellung haben wir Teil durch die Dinge, die wir erschaffen.

Logos beschreibt die schöpferische Kraft, die Wahrheit auszusprechen und dem Unglück das Gute und dem Chaos die Bedeutung zu entreißen. Es ist eine intuitive Äußerung der Ordnung der Dinge, die paradoxerweise gleichzeitig zu dieser Ordnung beiträgt. Es geht darum, die Wahrheit auszusprechen und in diesem Zuge etwas aus dem Nichts zu erschaffen.

Logos ist der Leuchtturm an der Steilküste in einer stürmischen Nacht, der dich durch die stürmischen Wellen in den sicheren Hafen führt.

Logos ist der Nordstern, der dir durch Irrungen und Wirrungen hindurch hilft, dich neu zu orientieren und nach Hause zu finden.

In der Heiligen Schrift ist Logos das Licht einer Stadt auf einem Hügel bei Nacht, es ist Zivilisation und Sicherheit in einer Welt der Ungewissheit und Gefahr.

Logos ist unser Versuch, die Wahrheit zu beschreiben, die wir alle irgendwie kennen, aber nur schwer artikulieren können. Aber gelingt es uns, und sei es auch nur im Kleinen, bringt uns das Trost und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, weil wir wissen, dass diese Lebenserfahrung – mit allem Guten und Schlimmen, das zu ihr gehört – von allen geteilt wird.

Gute Kunst ist Logos.

Wahrheit, ausgedrückt durch Bewegungen im Tanz, Farben auf einer Leinwand oder durch Worte auf einer Buchseite, gibt uns das Gefühl, mehr Teil des Ganzen und weniger allein zu sein. Wenn wir auf ihrer Grundlage kreativ sind, sind wir ein kleiner Bestandteil dieses Schöpfungsprozesses, und die Herzen jener, die unsere Arbeiten sehen, hören oder lesen, erwecken wir aus purer Verzweiflung zum Leben.


Wenn Sie mir hier einen kleinen didaktischen Dualismus gestatten: Wir Menschen verwenden Sprache auf zwei Arten.

Erstens verwenden wir Sprache, um den Menschen, mit denen wir sprechen, die gewünschte Reaktion zu entlocken, ungeachtet der Richtigkeit des Gesagten.

Zweitens verwenden wir Sprache, um Wahrheit zu vermitteln, auch auf die Gefahr hin, dass dies ein negatives Echo hervorruft.

Vor dieser Wahl, vor die uns Sprache stellt, stehen wir auch bei allem, was wir erschaffen. Wie wollen wir unsere künstlerische Stimme einsetzen? Wollen wir eine positive Reaktion bei anderen hervorrufen, indem wir ihnen sagen, was sie hören wollen? Oder wollen wir mit dem, was wir machen, unsere eigene Wahrheit ausdrücken, auch wenn die Reaktion der Leute nicht die ist, die wir uns wünschen?

Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen in London ist es, in der National Gallery am Trafalgar Square in Raum 22 zu sitzen. Ich bin beim besten Willen kein Kunstexperte, und ich weiß nicht viel über die von ihm verwendeten Techniken oder die Geschichte seiner Arbeit, aber etwas an Rembrandts Porträts spricht mich an.

Er arbeitete zu einer Zeit, in der Maler wie er ihr Geld damit verdienten, Porträts von privilegierten Bürgern anzufertigen, also von Menschen, die reich genug waren, um die vielen Stunden, die ein Künstler für die Fertigstellung eines Werks benötigte, in Auftrag zu geben.

Als Auftragskünstler wäre es für ihn also sehr verlockend gewesen, seine Porträtierten »aufzuhübschen« und sie attraktiver und strahlender aussehen zu lassen, als sie vielleicht in Wirklichkeit waren. Hätte er sich dafür entschieden, seine beträchtlichen Fähigkeiten im Dienste der Erwartungen dieser Leute einzusetzen, hätte dies zu glücklichen Kunden geführt. Die hätten sich durch das vorteilhafte Abbild ihrer selbst geschmeichelt gefühlt, was wiederum zu einer Flut von neuen Aufträgen geführt hätte.

Warum also starb er mittellos, und warum wurde er anonym beigesetzt?

Nun, das ist eine komplizierte Geschichte, aber vielleicht liegt es zum Teil daran, dass er sich weigerte, Erwartungen zu erfüllen. Ich bin mir nicht sicher, wie die Menschen, die sich von ihm porträtieren ließen, auf seine Arbeit reagierten. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass jeder Porträtierte glücklich war. Ich bin Porträtfotograf und weiß, wie empfindlich manche Menschen auf ihr eigenes Aussehen reagieren, selbst wenn ihnen das Licht schmeichelt. Ich kann mir also nur vorstellen, wie die eitelsten unter Rembrandts Porträtierten reagiert haben.

Denn seine Porträts sind ehrlich. Sie zeigen die Porträtierten in düsteren und erdigen Tönen. Rembrandt verwendete hartes Licht und scheute sich nicht vor Schatten. Er schien die Falten in der Kleidung und in den Gesichtern zu betonen, anstatt sie zu verbergen. Er zeigte seine Porträtierten so, wie er sie wirklich sah – als gleichberechtigte Opfer von Zeit und Entropie.

Mit sich selbst verfuhr er nicht anders. Man nimmt an, dass er im Laufe seiner Karriere etwa 80 Selbstporträts malte, von denen einige in Raum 22 der National Gallery hängen. Wenn seine Porträtierten dachten, er sei unfreundlich zu ihnen gewesen, war er ebenso unfreundlich zu sich selbst. Seine Selbstporträts offenbaren einen schonungslos ehrlichen Blick auf einen Mann, der durch die Höhen und Tiefen des Lebens geht, und bezeugen wie ein unerbittliches visuelles Tagebuch, welchen Tribut der Zahn der Zeit von einem menschlichen Gesicht fordert.

Aber wenn ich mir seine Porträts ansehe, finde ich sie bewegend und fesselnd. Sie geben mir ein Gefühl dafür, wie zerbrechlich wir als Menschen sind und welche Schönheit in unserer unausweichlichen Vergänglichkeit steckt. Sie geben mir ein Gefühl für die Art und Weise, wie wir altern, zerfallen und schließlich verschwinden. Für mich drückt Rembrandt mit seinem Werk Wahrheiten aus und versucht nicht nur, seinen Kunden positive Kritiken zu entlocken. Das ist der Grund, warum man sich an ihn erinnert und warum ich in der Nationalgalerie sitzen und mich von dem großen Ganzen in seiner Malerei trösten lassen kann. Für mich ist sein Werk Logos, weil es mir eine schwierige Wahrheit vermittelt, die mir angesichts unseres Verfalls und Niedergangs Trost und innere Ordnung gibt. Er bietet mir einen Haken, an dem ich diese große Idee aufhängen kann, und lässt mich wissen, dass wir alle im selben Boot sitzen und dass das letztlich so in Ordnung ist. Ich bin mir sicher, dass es Mut, Überzeugung und Hingabe brauchte, um ein solches Werk zu schaffen, und ich für meinen Teil bin dankbar dafür.


Diesen Mut versuche ich mir für meine Arbeit anzueignen.

Porträts waren schon immer mein bevorzugtes Arbeitsfeld in der Fotografie. Die Herausforderung, einen ehrlichen Augenblick einer Person einzufangen, eine Facette ihrer Persönlichkeit, eine Lücke in der Rüstung, die einen Hauch von dem durchlässt, was diese Person wirklich ausmacht, hat mich immer gereizt.

Als ich anfing, mir das nötige Wissen anzueignen und ein Portfolio aufzubauen, machte ich das, was viele Fotografen tun: kostenlose Shootings für Models und Schauspieler. Das ist zwar zweifellos eine gute Möglichkeit, sich die technische Seite der Porträtfotografie anzueignen und genügend Bilder für den Aufbau einer Website zu sammeln, aber ich war schnell frustriert davon, wie gleichförmig meine Arbeiten aussahen. Die Gesichter, die »Guck mal, wie sexy ich bin«-Posen, die Mimik – alles ähnelte sich.

Ich will diese Art von Fotografie nicht schlechtreden, sie macht mir immer noch Spaß – aber ich wusste für mich selbst, dass ich sie immer mehr als »Arbeit« und immer weniger als »Kreativität« empfand. Es war also Zeit, die Dinge neu anzugehen.

Also setzte ich mich im März 2017 in einen Flieger nach Namibia, ein Land, das ich schon viele Male besucht und das immer einen besonderen Platz in meinem Herzen hatte.

Ich flog ans andere Ende der Welt, um Porträts von Mitgliedern des Himba-Stamms zu machen, einem faszinierenden, in der Wüste lebenden indigenen Volk, das in diesem Teil der Welt beheimatet ist. Ich organisierte einen lokalen Guide und verbrachte etwas Zeit in einem Dorf, das bereit war, mich aufzunehmen. Anstatt mich den Leuten in den Weg zu stellen, um sie zu fotografieren, wählte ich einen konservativeren Ansatz. Ich bezog etwas abseits Stellung und bat meinen Guide, den Leuten zu erklären, dass sie zu mir kommen könnten, wenn sie Fotos wollten (die ich später ausdrucken und zuschicken würde). So verbrachte ich zwei glückliche Abende hintereinander damit, einige der eindrucksvollsten Porträts zu schießen, die ich bis dahin gemacht hatte.

Eine Besonderheit bei diesen Aufnahmen war, dass ich meinen Gesprächspartnern nicht erklären konnte, dass ich mehrere Aufnahmen machen und die besten auswählen würde. Sobald sie das Klicken der Kamera hörten und der Blitz ausgelöst hatte, gingen sie einfach weg, weil ich gesagt hatte, dass ich ein Foto machen würde, und nun hatte ich es gemacht, also musste ich wohl fertig sein. Und weil ich nicht wollte, dass sich jemand unwohl fühlte und gezwungen war, länger dort zu stehen, nahm ich die Herausforderung an: für jedes Porträt nur eine Aufnahme.

Dabei wurde mir klar: Ich hatte bei den meisten Stammesmitgliedern zwar nur eine einzige Chance für ein Bild, aber mehr brauchte ich auch gar nicht. Sie mussten nicht erst »mit der Kamera warmwerden«, und es gab keinen dieser unbeholfenen Versuche, die »sexy Pose zu finden«, die viele Menschen machen. Die Himba legten eine unverblümte Offenheit an den Tag. Sie traten einfach vor die Kamera, schauten mich ganz unumwunden an und die Verbindung war da. Da war nichts Künstliches, nur die offene Wahrheit darüber, wer sie waren. Jeder Porträtfotograf wird Ihnen bestätigen, dass das ein Geschenk ist, das nicht viele zu geben bereit sind.

Als ich die Bilder noch in der gleichen Nacht in meinem Zelt betrachtete, wurde mir klar, dass ich mehr von meiner Fotografie wollte. Ich wollte mehr von dieser Offenheit, ganz gleich, wen ich fotografierte. Hatte ich es also geschafft? Hatte ich einen Weg gefunden, meine Arbeit wahrhaftiger zu machen?

Nun, ein paar Monate später war ich wieder in London und beschloss, ein paar anständige Abzüge von diesen Porträts zu machen, um sie zu Hause an die Wand zu hängen. Ich machte mich auf den Weg zu einer der besten Druckereien der Stadt, die für einen Großteil der Fotoaustellungen im Vereinigten Königreich und für viele Magnum-Fotografen arbeitet.

Während das Papier aus den Maschinen lief und meine Bilder nach und nach in satten Farben zum Vorschein kamen, unterhielt ich mich mit dem Creative Director, der mir an diesem Tag half. Dieser Mann kannte sich wirklich gut aus, er druckte die Arbeiten einiger der weltbesten Fotografen. Als das erste Bild auf den Proofing-Tisch fiel, hoffte ich insgeheim, dass er beeindruckt sein würde, und in einer für mich eher untypischen Anwandlung (ich hole nur selten die Meinung anderer zu meiner Arbeit ein) fragte ich: »Was meinen Sie?«

Er antwortete: »Das sind technisch gute Bilder von sehr interessanten Menschen, aber sie interessieren mich überhaupt nicht.«

Er sagte das nicht etwa unfreundlich, aber in einem Moment brutaler Ehrlichkeit brachte er mich dazu, diese Porträts über ihr technisches Können hinaus zu betrachten. Ich war völlig davon eingenommen gewesen, dass ich begeisterte Kritiken und überschwängliche Komplimente von Leuten für diese Aufnahmen bekommen hatte. Aber die Wahrheit war, dass dieser Mann aus irgendeinem Grund keine Verbindung zu ihnen fand.

Er fuhr fort und sagte, dass er zu erkennen glaubt, wenn ein Fotograf eine Verbindung zu seiner Arbeit hat und ihm die Bilder persönlich etwas bedeuten. Und dieses Gefühl hatte er bei diesen Bildern nicht.

Hatte ich schöne und aussagekräftige Porträts gemacht? Oder hatte ich brauchbare Porträts von schönen Menschen gemacht? Machte man mir die Komplimente wegen etwas, das ich getan hatte, oder wegen der Menschen, die sie waren?

Es bedurfte nicht allzu viel Ehrlichkeit mir selbst gegenüber, um mir diese Frage zu beantworten. Die Arbeit war wahrhaftig, aber es war die Offenheit und Wahrhaftigkeit des Stammes, nicht meine. Mir wurde klar, dass die Bemerkung des Creativ Directors mehr als fair war – sie war wichtig, wenn ich es mit dieser Reise ernst meinte. In seinem eigenen Akt von Logos hatte er mir ein Geschenk gemacht, indem er mir die schwierige Wahrheit sagte, anstatt zu versuchen, mir einen Gefallen zu tun.

Ich möchte an dieser Stelle sagen, dass ich diese Bilder nicht ablehne. Sie hängen bei mir zu Hause, und ich bin immer noch stolz auf sie. Und ich bin froh, dass ich diese Reise gemacht habe, denn sie war ein sehr wichtiger Schritt auf meinem Weg. Die Bemerkung des Creative Directors an jenem Tag hat nicht dazu geführt, dass ich mich plötzlich für diese Bilder schäme. Um ehrlich zu sein, werde ich in Zukunft mit ziemlicher Sicherheit weitere Reisen dieser Art unternehmen, denn ich bin der Meinung, dass ein regelmäßiger Wechsel des Kontexts und des Themas für das eigene Wachstum von entscheidender Bedeutung ist.

Was mir diese Bemerkung jedoch ganz klar gezeigt hat, war, dass ich es besser machen kann. Dass ich noch weitergehen und tiefergraben könnte, wenn ich bereit wäre, mich auf eine Reise in mein Inneres zu begeben. Ich musste einen Weg finden, über die Wahrheit zu sprechen, die ich persönlich erfahren hatte.

Zu dieser Zeit hörte ich den Musiker John Mayer in einem Interview sagen, dass sein Songwriting von einem sehr einfachen Mantra geleitet würde: »Mach dich klein und sag die Wahrheit.« Das blieb bei mir hängen, und ich wusste, dass was auch immer als Nächstes kommen würde, es dabei weniger um ausgefallene Fototechniken oder die Suche nach visuell ansprechenden Motiven gehen musste, sondern vielmehr darum, eine einfache und persönliche Wahrheit zu vermitteln.

Also schmiedete ich einen Plan. Im Dezember desselben Jahres reiste ich zurück nach Südafrika, wo ich fast 20 Jahre lang gelebt hatte. Der Plan war, eine Reihe von sehr schnörkellosen Porträts dreier Männer zu machen, die mir sehr viel bedeuten. Ich reiste 1.600 km von Kapstadt über Grahamstown nach Durban, um drei meiner Mentoren zu fotografieren, die in den entscheidenden Momenten meines Lebens für mich da waren und dort einsprangen, wo mein Vater eine Lücke hinterlassen hatte. Die Porträtsitzungen selbst waren etwas Besonderes und völlig anders als die, die ich bis dahin gemacht hatte. Ich kannte diese Menschen gut und hatte sie eine Weile nicht gesehen. Die Aufnahmen selbst würden jeweils knappe zehn Minuten dauern. Ich kam bei ihnen zu Hause an, wir plauderten etwas und brachten uns gegenseitig auf den neuesten Stand. Ich hatte ihnen schon im Vorfeld eine E-Mail geschickt und erklärt, was ich vorhatte, und bei einer kurzen Gesprächspause fragte ich einfach, wo ich meine Sachen am besten aufbauen könne.

Ich verwendete die einfachste Beleuchtung, die möglich war – nur einen schwarzen Hintergrund und einen Blitz –, weil ich nicht wollte, dass es bei diesen Bildern um irgendwelche technischen Tricks geht. Ich wollte mich hinter nichts verstecken müssen und sicherstellen, dass meine Verbundenheit mit den Personen, die ich liebte, in den endgültigen Bildern zu spüren war.

Wir unterhielten uns also, lachten und schwelgten in Erinnerungen, während ich ein paar Fotos schoss. Ich machte insgesamt jeweils um die 30 Bilder. Dann packte ich meine Ausrüstung zusammen, ohne das Gespräch zu unterbrechen. Normalerweise kann ich mich sehr in die technischen Aspekte eines Fotoshootings vertiefen, und ich würde normalerweise mehr als 300 Bilder machen, aber diesmal war ich mehr daran interessiert, Zeit mit diesen Männern zu verbringen. Das Fotografieren war also zweitrangig. Ich gebe zu, dass ich mir im Anschluss an diese Fotosessions Sorgen machte, sie nicht ernst genug genommen zu haben und dass die Bilder deshalb schwach sein würden. Aber die Wahrheit ist, dass sie für mich zu den stärksten Bildern gehören, die ich bislang gemacht habe.

Als Betrachter kann man eine stärkere Verbindung zu diesen Bildern und zu mir als Fotograf spüren. Auch wenn meine Modelle in dieser Serie nicht so markant sind wie die Stammesmitglieder der Himba, sind die Bilder doch stärker, weil mich mit ihnen eine Geschichte verbindet. Das ist das Feedback, das ich von vielen erhalten habe, ohne dass sie die Geschichte kannten.

Ich denke, es liegt daran, dass ich diese Menschen liebe, und vielleicht können Sie das beim Betrachten der Bilder erkennen. Ich brauchte einen Vater, und in gewisser Weise waren diese Männer genau das für mich, auch wenn es nicht ihre Aufgabe war. Den Gefallen, den sie mir taten, hatte ich mir nicht verdient. Heute hängen die Abzüge dieser Porträts hinter mir, wenn ich Videos für meinen YouTube-Kanal drehe, weil ich die Symbolik dahinter mag. Ich kann zu anderen Menschen reden und ihnen beibringen, was ich gelernt habe, nur weil es Menschen wie sie gab, die mich zu dem gemacht haben, der ich heute bin.

Ich habe einen kurzen Dokumentarfilm über diese Reise und meine Beziehung zu diesen Vaterfiguren gedreht. Mehr als bei anderen meiner Filme meldeten sich danach Männer bei mir, um mir ihre eigenen Geschichten zu erzählen, insbesondere darüber, wie sie ohne einen Vater aufwuchsen. Eine E-Mail nach der anderen erzählte mit Hingabe von den großzügigen Männern, die die Lücke füllten und ihnen halfen, selbst gute Menschen zu werden. Das sind existenzielle Wahrheiten, mit denen sich Männer auf der ganzen Welt auseinandersetzen. Indem ich Porträts und einen Kurzfilm erstellt hatte, in denen ich meine eigene Geschichte so ehrlich wie möglich erzählte, hat das vielen anderen Trost gespendet, die ebenfalls diese besondere, chaotische Situation eines abwesenden Vaters erlebt haben.


Das ist Logos.

Es ist kein gradliniger oder einfacher Prozess. Viele Künstler sagen über ihre Arbeit: »Manchmal bin ich mir nicht sicher, worauf ich abziele oder wie ich genau dorthin komme, aber ich erkenne es, wenn ich es sehe.« Ob wir es schräg oder direkt, subtil oder offen sagen, ob wir bewusst oder intuitiv dorthin gelangen, Kunst ist am kraftvollsten, wenn wir durch das, was wir erschaffen, die Wahrheit sagen und Ordnung in das kollektive Chaos bringen.

Das ist die Kunst, die tief in uns eine Reaktion hervorruft.

Ich bin oft zu Tränen gerührt, wenn ein Sänger von seinem wirklichen Schmerz singt.

Ich lache noch mehr über einen Komiker, der in seinen Sketchen Absurdität mit Verletzlichkeit vermischt, sodass ich die Schwere dahinter erahnen kann.

Ich halte inne im Innenraum einer meisterhaft gestalteten Kathedrale, der von der Erhabenheit des Göttlichen kündet.

Ich brauche nach einem beeindruckenden Film etwas Zeit für mich, um die existenziellen Wahrheiten darin zu verdauen.

Irgendetwas in mir spürt die Wahrheit in dem, was ich erlebe. Und selbst wenn ich nicht sagen kann, warum, spricht das Werk des Künstlers etwas in mir an, und ich spüre diese menschliche Verbindung inmitten des existenziellen Durcheinanders unseres täglichen Lebens.

Und ich bin nicht damit zufrieden, nur Konsument zu sein. Ich will mich engagieren. Ich muss auch etwas schaffen.

Es ist schwer zu erklären, warum. Abgesehen von der Art und Weise, wie ich durch dieses Kapitel gestolpert bin, hat es etwas damit zu tun, dass ich mich beim Projekt »Logos« engagieren möchte. Ich möchte mitmachen. Ich möchte die Wahrheit der Dinge aussprechen, mich mit allen anderen zusammenschließen, die versuchen, wenn auch im kleinen Maß, zu beschreiben, wie die Dinge sind.

Deshalb malte ich mit neun Jahren Löwen aus meinen Tierbüchern ab.

Deshalb entwarf und betrieb ich mit 15 Jahren die Beleuchtung für unser Schultheater.

Deshalb sang ich mit 20 Jahren in einer Band und schrieb mit meinen Freunden Musik.

Deshalb hielt ich mit 25 Jahren Vorträge vor Massen von Teenagern und 20-Jährigen, um sie zu inspirieren, besser zu werden.

Deshalb machte ich mit 32 Jahren unzählige Fotos, um mir alles über diese eindrucksvolle Kunstform anzueignen.

Deshalb drehte ich mit 38 Jahren Filme für meinen neuen YouTube-Kanal.

Und deshalb schreibe ich jetzt, mit 42 Jahren, das Buch, das Sie gerade lesen.

Ich muss etwas schaffen. Ich muss die Wahrheit über das Leben beschreiben, egal ob ich zeichne, singe, Lieder schreibe, Reden halte, fotografiere, Filme mache oder dieses Buch schreibe.

Alle Kunst ist Logos, und wenn einer von uns es hinkriegt, und sei es auch nur für einen Moment, fühlen wir anderen uns weniger allein. Wir halten uns im übertragenen Sinne an den Händen und geben zu, dass wir unseren Krieg gegen die Entropie letztlich nicht gewinnen werden – und irgendwie ist das in Ordnung.

Ich glaube, deshalb bringt mich gute Kunst zum Weinen.

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