Читать книгу Sinn in der Kreativität finden - Sean Tucker - Страница 12

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Als ich die High School verließ, war ich gerade mal 17 Jahre. Das erschien mir zu jung, um direkt mit dem Studium zu beginnen, also entschied ich mich stattdessen dafür, ein Jahr Auszeit zu nehmen. Angetrieben von meiner Liebe zur Musik und zum Singen beschloss ich, mich einer Musik- und Theatergruppe anzuschließen, die ein Jahr lang durch Südafrika, Namibia und Simbabwe tourte.

Ich sang sehr gern, aber was mich offen gesagt verunsicherte, war mein Stimmbruch. Manche Jungs kommen problemlos durch diese unangenehme Phase der Pubertät – sie haben bis elf die hohe Stimme eines Kindes und am Morgen ihres zwölften Geburtstags wachen sie auf mit der festen, rauen Stimme eines James Earl Jones.

Für alle anderen ist das jedoch ein langer Übergang mit viel Auf und Ab, im Laufe dessen ihre Stimme sich immer wieder überschlägt, mit »Trällern«, die im Gespräch mit Freunden vielleicht peinlich sind, aber tödlich erniedrigend, wenn man ein Solo vor der ganzen Schulversammlung singt. Und ich war mehr als einmal in dieser Situation.

Als ich der Musik- und Theatergruppe beitrat, sagte ich unserem Gesangslehrer, dass mir das Versagen meiner Stimme große Angst bereitete. Seine Antwort war: »Du atmest einfach nicht richtig. Wir zeigen Dir, wie das geht.«

Bevor wir in den ersten Stunden auch nur einen Ton sangen, lernten wir, wie man richtig atmet – etwas, von dem ich annahm, ich könnte es schon, schließlich hatte ich es seit meiner Geburt unfreiwillig geübt. Unser Lehrer erklärte uns, was beim Ein- und Ausatmen im Körper passiert und dass die meisten Menschen faul sind, wenn es um ihre Atmung geht. Und er sagte, dass ich, wenn ich gut singen wollte, zuerst lernen musste, wie man gut atmet.

Insbesondere lernten wir, wie das Zwerchfell funktioniert. Bei einer der ersten Übungen forderte unser Lehrer uns auf, uns aufrecht hinzustellen, dann die Finger auf den oberen Bauchbereich zu legen, direkt unter der Stelle, an der der untere Brustkorb am Brustbein zusammenläuft, und tief einzuatmen. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir bewusst, dass sich dort ein Muskel ausdehnte und ein Vakuum erzeugte, das wiederum Luft in meine Lungen saugte. Umgekehrt entspannte er sich beim Ausatmen wieder und stieß die Luft aus. »Die Kontrolle des Zwerchfells«, sagte unser Lehrer, »ist der Schlüssel zum Singen, weil euch das die Luftsäule gibt, die ihr braucht, um den Ton richtig zu halten.«

Wir machten eine ziemlich brutale Übung, um unsere Zwerchfellmuskeln zu stärken: Wir nahmen ein etwa 15 × 25 Zentimeter großes Holzbrett, hielten es gegen unser Zwerchfell und lehnten uns mit unserem ganzen Gewicht gegen eine Wand. Ziel war es dann, uns nur mit den Muskeln unseres Zwerchfells von der Wand wegzudrücken, indem wir tief einatmeten und die Luft in unseren Lungen anhielten und diese Luft dann kontrolliert und gleichmäßig wieder ausstießen, bis unsere Lungen leer waren.

Wir haben diese Atemübungen gehasst, aber sie haben funktioniert. Ich bin zwar immer noch skeptisch, ob sie wirklich den Zwerchfellmuskel gestärkt haben, doch sie bewirkten ganz sicher, dass ich mir meines eigenen Körpers und der Muskeln, mit denen ich die Luft in meine Lungen ziehe, bewusster wurde.

Und damit veränderte sich meine Stimme. Sie brach zwar noch hin und wieder, aber nicht mehr so oft, weil ich die Töne jetzt sicherer sang und sie besser unterstützte. Das lag daran, dass ich jeden Ton auf einer stärkeren Luftsäule aufbaute und die Kontrolle darüber hatte, ihn sanft wieder loszulassen. Diese eine einfache Wahrheit hatte meine Stimme befreit.


Etwas zu erschaffen ist wie Einatmen und Singen. Wenn die Stimme das Werk ist, das wir in die Welt hinaustragen, dann ist die Luftsäule der Treibstoff, den wir brauchen, um es zu produzieren.

Eine unserer größten Aufgaben als Künstler ist es, herauszufinden, wie unsere einzigartige Stimme klingen soll und was wir Einzigartiges zu sagen haben. Aber wir verzichten zu oft auf das richtige Einatmen, um diesen Klang zu erzeugen, sodass unsere kreativen Stimmen dünn und näselnd klingen.

Im nächsten Kapitel werden wir herausarbeiten, was unsere einzigartige kreative Stimme ist, aber zuerst müssen wir uns mit dem oft vernachlässigten, aber entscheidenden Akt des Einatmens beschäftigen.

Oft höre ich die folgenden Klagen:

»Ich bin gern kreativ, aber ich weiß einfach nicht, was ich machen soll.«

»Ich habe eine Kamera gekauft, aber ich weiß nicht, was ich fotografieren soll.«

»Ich möchte Kurzgeschichten schreiben, aber ich habe keine Ahnung, wovon sie handeln sollen.«

Ich glaube, ein einfacher Grund für diesen Mangel an Zielstrebigkeit oder Motivation ist, dass wir versuchen zu sprechen, ohne zuvor Luft geholt zu haben. Wir müssen lernen, das, was wichtig ist, an erste Stelle zu setzen.

Das ist auch kein Problem, das auf die Anfänger unter uns beschränkt ist. Auch langjährige Künstler kommen immer wieder an den Punkt, an dem sie zwar über alle notwendigen Fähigkeiten und Erfahrungen verfügen, um Schönes zu erschaffen, aber nicht wissen, worauf sie diese Fähigkeiten richten sollen. Wie die Luft, die wir atmen, müssen wir unsere Energien, unsere Botschaft, unsere Ideen und sogar unsere Motivation, kreativ zu sein, erst in uns aufnehmen.

Das Wort »Inspiration« ist interessant, wenn man es sich näher anschaut. Es kommt ziemlich unverändert aus dem lateinischen Wort »inspiratio«, was wörtlich »einatmen« oder »vom Göttlichen eingehaucht bekommen« bedeutet.

Die Griechen benutzten das Wort »Pneuma«, das sowohl »Geist« als auch »Atem« bezeichnete. Insbesondere die Stoiker verwendeten diesen Begriff, um den lebensspendenden, belebenden Geist oder die schöpferische Kraft im Menschen zu beschreiben.

In gleicher Weise versteckt sich in der englischen Sprache ein Derivat des Wortes »spirit« im Wort »respiration« (Atmung).

Sprachliche Verknüpfungen wie diese verraten, dass die Menschen seit Tausenden von Jahren eine Verbindung zwischen »Kreativität«, »Inspiration«, »Geist« und »göttlichem Einhauchen« zu erahnen schienen.

Die Griechen gingen sogar so weit, diese schöpferische Quelle in Gestalt der »Musen« zu vermenschlichen. Sie gingen davon aus, dass alle schöpferischen Kräfte von diesem Pantheon der Göttinnen ausgingen – von Kalliope (Muse der epischen Dichtung), Euterpe (Muse der Musik) und Thalia (Muse der Komödie).

Diese Vorstellungen haben sich in verschiedenen Formen bis in unsere heutige Zeit übertragen. Ich erinnere mich, dass es während meiner Zeit in der Kirche üblich war, zu sagen, dass man »vom Heiligen Geist geleitet« wurde, wenn man ein Lied schrieb oder eine Predigt hielt.

Sogar in der säkularen Kultur haben Künstler Menschen aus Fleisch und Blut zu ihren Musen gemacht, die regelmäßig Gegenstand ihrer Gemälde, Gedichte oder Lieder wurden. Diese Künstler gehen davon aus, dass ihre Arbeit durch die Übertragung von Energie, Geist oder Pneuma an Vitalität gewinnt, nur weil sie regelmäßig Zeit in der Gegenwart der von ihnen gewählten Musen verbringen.

Mir scheint das alles darauf hinzudeuten, dass wir, um kreativ zu sein, inspiriert, beseelt oder angehaucht werden wollen, damit wir alles Nötige erhalten, um etwas erschaffen zu können.

Wie oft schon haben wir auf leere Leinwände und leere Seiten gestarrt, frustriert darüber, dass so rein gar nichts fließt, und uns gefragt, ob die Musen uns verlassen haben? Liegt es vielleicht daran, dass wir versuchen, etwas auszusprechen, bevor wir tief einatmen?


Wie atmet man also kreativ ein? Nun, für mich kommt es darauf an, dass wir uns Raum für uns selbst schaffen, ohne Agenda.

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Sie Ihre besten Ideen unter der Dusche haben? Der Grund dafür scheint mir einfach. Wir leben in einer Zeit, in der wir ständig mit Reizen überschüttet werden, die uns ablenken. Wir haben immer einen Bildschirm vor uns, sei es unser Computer, unser Telefon oder der Fernseher, und wir nehmen ständig einen scheinbar nicht enden wollenden Strom von Informationen und Unterhaltung auf.

Aber wenn Sie unter die Dusche springen, ist das alles weg, dann sind nur noch Sie da. Für ein paar Minuten sind Sie allein, nur das Geräusch des fließenden Wassers ist zu hören, und oft gibt es diesen Moment, in dem Sie sich einfach entspannen, die Augen schließen und das Gefühl genießen. Es ist einer der seltenen Momente, die sich die meisten von uns nehmen, um in unserer modernen Welt wirklich allein und in Ruhe zu sein. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass das Gehirn in diesen »leeren Momenten« beginnt, Ideen zu entwickeln. Können wir daraus etwas lernen, das wir öfter wiederholen könnten?

Wenn wir über diese ruhigen Momente und den von ihnen geschaffenen »geistigen Erholungsraum« nachdenken, dann besteht der Trick sicher darin, diese Räume einfach öfter zu erschaffen. Wenn wir uns uninspiriert und ziellos fühlen, müssen wir lernen, so lange Dinge aus dem Weg zu räumen, bis unser Geist das tun kann, was er am besten kann: neue Ideen entwickeln.

Aber haben wir dieses Prinzip einmal verstanden, lauert gleich eine Falle auf uns – und das ist der Grund, warum ich oben den Ausdruck »ohne Agenda« verwendet habe. Wenn wir diesen leeren geistigen Raum für uns selbst erschaffen haben, entsteht eine Art grenzenloses, freies Denken. Und der Grund dafür, dass wir uns dann inspirieren lassen und Ideen entwickeln, ist, dass wir nicht in den engen Bahnen denken, in denen wir unsere Gedanken normalerweise bewusst lenken.

Wie oft schon mussten Sie in Ihrem Leben ein Problem lösen und saßen stundenlang da, grübelten besorgt darüber nach, in der Hoffnung, eine Lösung zu finden, aber es kam nichts Neues dabei heraus? Wir verwenden sogar Ausdrücke wie »sich das Hirn zermartern«, um die sich wiederholende geistige Tortur zu beschreiben, der wir uns unterziehen, um eine Lösung zu erzwingen.

Später machen Sie vielleicht einen Spaziergang, denken nicht wirklich über das Problem nach, und dann ergibt sich in einem Heureka-Moment die Lösung ganz von selbst. Sie waren sich nicht einmal bewusst, dass Sie an das Problem dachten, aber plötzlich ist die Lösung einfach da. Wenn wir gestresst sind, weil wir uns gedanklich festgefahren haben, versuchen wir manchmal, eine Lösung zu erzwingen. Dann treibt unser Bewusstsein unsere Gedanken durch die immer gleichen, ausgetretenen Pfade, in Erwartung, dass etwas Neues passiert. Aber wenn wir aufhören, die Lösung durch bewusstes Nachdenken zu erzwingen, und unserem Unbewussten erlauben, einen Weg nach vorne zu finden, arbeitet unser Gehirn geschmeidiger und kreativer und kann so neue Ideen entwickeln.

Die Falle, von der ich oben sprach, liegt darin, dass wir dieses Prinzip verstehen. Dann machen wir längere Spaziergänge, meditieren oder fahren ein paar Tage weg, um uns zu entspannen. Aber: Wenn wir dabei unsere Agenda mitnehmen, arbeiten wir immer noch mit unserem bewussten Verstand. Wenn wir uns irgendwo ein paar Stunden allein hinsetzen, im Bewusstsein, dass wir eigentlich nur Inspiration suchen, dann hält uns eben dieses Bewusstsein über das zu lösende Problem vom Finden dieses leeren Raums ab. Stattdessen berauben wir uns selbst der Ruhe dieser Momente, überprüfen immer wieder, ob wir eine neue Idee haben, sorgen uns, »ob es funktioniert«, warten ungeduldig auf »Ergebnisse«.

Aber so funktioniert das einfach nicht. Die Freiräume, die wir uns schaffen, dürfen keine Agenda haben, und wir sollten sie dauerhaft in unseren Alltag integrieren. Sie sollten kein Gimmick sein, zu dem wir nur greifen, weil wir in eine Sackgasse geraten zu sein glauben. Damit das auch klappt, müssen wir regelmäßig üben, uns diesen geistigen Freiraum ganz ohne Agenda zu erschaffen.

Ein weiteres verbreitetes Problem ist, dass viele von uns Angst davor haben, Zeit allein und in aller Stille zu verbringen. Es ist uns unangenehm.

Vielleicht gibt es etwas in uns, vor dem wir weglaufen und das immer dann auftaucht, wenn wir allein sind.

Vielleicht werden wir von Erinnerungen an unsere Vergangenheit heimgesucht.

Vielleicht nutzen wir den »sozialen Lärm« netter Gesellschaft oder eine Fülle anderer Reize, um uns selbst und den Dingen, mit denen wir uns nicht auseinandersetzen wollen, aus dem Weg zu gehen.

Vielleicht erklärt dies das verbreitete Kleben an unseren Mobiltelefonen, die wir suchtartig aus der Tasche ziehen, wenn wir auch nur für ein paar Sekunden allein sind. Das ist nicht böse gemeint. Ich mache das genauso und muss mich selbst ermahnen, wenn ich diese leeren Momente in meinem Leben übertöne.

Jeder Künstler, egal welcher Couleur, muss als Erstes beginnen, sich mit seinen Problemen auseinanderzusetzen und sich mit sich selbst anzufreunden, damit der Aufenthalt in diesem Freiraum nicht nur erträglich, sondern erstrebenswert wird. Das ist wirklich der einzige Weg, um zu vermeiden, dass man zum klischeehaft gequälten Künstler wird, der nicht kreativ sein kann, weil er uninspiriert ist und seine Dämonen ihn nicht in Ruhe lassen wollen. Wenn es unser Ziel ist, schöne Dinge zu schaffen, dann müssen wir diesen Weg einschlagen.

Ich erzähle Ihnen nichts, was die Menschen nicht schon seit Jahrtausenden wissen. Praktisch jede Tradition und Kultur auf der ganzen Welt weiß, wie wichtig es ist, sich Raum für sich selbst zu schaffen.

Die Teenager der amerikanischen Ureinwohner wurden allein in die Wildnis geschickt, um zu fasten und sich selbst zu begegnen, um zuzuhören und um zurück in der Gemeinschaft von ihrer Vision zu erzählen, hoffentlich zum Nutzen aller.

Die Naga Sadhus leben nackt und in Asche gehüllt, abgeschieden von der Gesellschaft an den Ufern des Ganges, und Menschen aus aller Welt reisen zu ihnen, um zu erfahren, was sie in dem leeren Raum, den sie für sich selbst geschaffen haben, gehört haben.

Es gibt Geschichten, denen zufolge die Kaiser Chinas Einsiedler in der Wildnis aufsuchten, um ihren Rat einzuholen und ihrem wahrhaftig erfrischenden Geist zu lauschen.

Christliche Asketen suchten sich abgelegene Wüstenhöhlen und felsige Küsteninseln als Orte, um sich vom Lärm des täglichen Lebens abzugrenzen und so besser Gottes Botschaft vernehmen zu können.

Von Jesus selbst ist überliefert, dass er 40 Tage und Nächte lang in die Wüste ging, um zu fasten, allein zu sein und sich seinen Dämonen zu stellen, bevor er seine Lehrtätigkeit begann. Er wusste, dass erst etwas in ihn hineingeatmet werden musste.

Offensichtlich ist uns allen intuitiv klar, dass Menschen, die diesen Raum schaffen, dem Rest von uns wichtigere Dinge zu sagen haben. Wenn wir eingeatmet haben, wenn wir in-spiriert sind (in Anlehnung an »respiration«, »Atmung«), haben wir oft etwas mitzuteilen, was andere in der Hektik des Alltags vielleicht übersehen haben, und das kann die Dinge, die wir schaffen, nur bereichern.

Damit will ich nicht sagen, dass Sie in die Wildnis verschwinden sollen (aber ich will Sie auch nicht davon abhalten). Ich persönlich möchte so weiterleben wie bisher. Aber all das erinnert mich daran, dass mein Leben nicht zu geschäftig oder zu laut werden darf, wenn ich mit meiner Kreativität ernsthaft etwas Gutes erschaffen möchte. Ich kann mich nicht über fehlende Inspiration beschweren, wenn ich nicht innegehalten und mir bewusst Raum für mich selbst genommen habe. Denn sowohl die Ursache als auch die Lösung sind hier auf schmerzhafte Weise offensichtlich.

Die Musen laufen uns nicht hinterher und bewerfen uns mit frische Ideen und Inspirationen, während wir in die andere Richtung rennen und uns das Hirn mit Ablenkungen und Reizen zuballern. Sie verlangen, dass wir innehalten und einen Raum der Erholung und Stille schaffen, bevor sie uns ihre Gaben schenken. Wir kommen da nicht drum herum.


Ich habe ein paar grundlegende Praktiken, die ich in mein Leben einbaue.

Die erste ist, dass ich Auszeiten nehme.

Ein paar Mal im Jahr versuche ich, allein wegzufahren, und sei es nur für ein paar Tage. Ich reise dabei nicht um die Welt und übernachte nicht in schicken Hotels. Zum Teil, weil ich den finanziellen Aufwand für diese Reisen nicht rechtfertigen kann, vor allem aber, weil meiner Meinung nach Rückzugsorte am besten einfach sind. Vielleicht buche ich eine kleine Hütte irgendwo weitab vom Schuss, mit ein bisschen Komfort, um Ablenkungen zu vermeiden. Auch allein zu campen oder zu wandern ist eine gute Möglichkeit, sich zurückzuziehen. Es geht einfach darum, das Gewohnte hinter sich zu lassen, die Tapeten zu wechseln und Raum für sich selbst zu schaffen.

Zweitens gehe ich viel spazieren.

Man muss nicht viel Zeit investieren, um sich Raum zu nehmen – ein bisschen, dafür regelmäßig, reicht vollauf. Ich verstehe, dass so ein Rückzugsort für viele Menschen ein Luxus ist und eine Investition von Zeit oder Geld erfordert, die man sich im Moment vielleicht nicht leisten kann. Aber spazieren zu gehen, das ist doch etwas, was wir alle tun können, oder?

Ich habe eine Freundin, die von »Mikro-Urlaub« spricht. Wenn ihr der Tag zu viel wird, setzt sie sich einfach für eine halbe Stunde mit einem Buch in ein Café. Das ist ihr Mikro-Urlaub: eine Auszeit – egal wie kurz –, um einmal rauszukommen und sich zu erholen. Mein liebster Mikro-Urlaub ist ein Spaziergang. Das ist meine bevorzugte Methode, um Stille zu schaffen.

Was ist eine Pilgerreise schließlich anderes als ein langer Spaziergang mit einer gesunden Dosis Einsamkeit, um uns selbst zu begegnen und neue Dinge zu erfahren? Natürlich hat jede religiöse Tradition ihre eigenen Schwerpunkte und Inhalte, aber ob man nun auf dem Weg nach Mekka oder auf dem Jakobsweg in Spanien wandert oder an einem Sonntagnachmittag an der Themse in London entlangspaziert, die Grundidee ist dieselbe: Die Menschen haben schon vor langer Zeit erkannt, dass ein guter Spaziergang und etwas Zeit für sich selbst Neues freisetzen können.


Ganz gleich, wie Sie sich diesen Raum nehmen, es gibt einen sehr praktischen Tipp, den ich Ihnen geben kann und den jeder, der irgendeine Form der Meditation praktiziert, bereits kennt: Konzentrieren Sie sich auf Ihre Atmung.

Bevor Sie jetzt denken, ich würde hier völlig abheben oder verlangen, dass Sie einer Sekte beitreten oder einen Guru gegen Geld Ihr individuelles Mantra erstellen lassen: Ich glaube nicht, dass das ganze Beiwerk, das sich um das Thema »Meditation« herum entwickelt hat, so wichtig ist. Die Tatsache, dass die verschiedenen Formen von Spiritualität dieselben Methoden in unterschiedlicher Ausprägung praktizieren, zeigt uns, dass es sich um eine universelle menschliche Praxis handelt, die keiner einzelnen Gruppe zuzuschreiben ist.

Der Grund für die Konzentration auf die Atmung ist kein magischer, sondern ein ganz pragmatischer. Unser Verstand wird versuchen, uns in die Zukunft zu ziehen, wo wir uns Sorgen um die nächsten Rechnungen machen, oder in die Vergangenheit, wo uns jemand Unrecht getan hat. Aber dieser Raum der Erholung im Geiste, dieser fruchtbare Boden für neue Ideen, erfordert, dass wir im leeren und offenen Augenblick verharren. Wenn Ihr bewusster Verstand also – unweigerlich – abschweift, brauchen Sie etwas, das in diesem offenen »Jetzt« geschieht, um Sie zurückzuholen. Nun, da Sie sowieso atmen müssen, warum konzentrieren Sie sich nicht darauf?

Das Heben und Senken Ihres Brustkorbs.

Das Gefühl, wie die Luft in die Lunge ein- und ausströmt.

Das Gefühl, lebendig zu sein, zu atmen.

»Re-In-Spiration«, wenn Sie so möchten.

Ich möchte Ihnen nicht versprechen, dass Sie jedes Mal, wenn Sie einen solchen Raum für sich schaffen, mit Ideen überschwemmt werden, denn das wäre unehrlich. Aber ich sage Folgendes: Die meisten meiner besseren kreativen Ideen und Eingebungen sind in Momenten entstanden, in denen ich das Lärmen meines bewussten Verstandes ausgeschaltet und meinem Unterbewusstsein erlaubt habe, die Führung zu übernehmen.

Das kann ein Spaziergang gewesen sein.

Vielleicht habe ich mich für ein paar Tage irgendwohin zurückgezogen.

Vielleicht waren es auch nur zehn Minuten unter der Dusche.

Wie auch immer wir es anstellen, wir müssen lernen, kreativ einzuatmen.


Aber nicht alle In-Spirationen entstehen durch das Schaffen von Leerraum. Ein weiterer wichtiger Weg, unsere Ideen zum Fließen zu bringen, besteht darin, die Werke anderer wie Treibstoff zu konsumieren. Indem wir uns an den kreativen Stimmen um uns herum erfreuen und ihren gesprochenen Logos aufnehmen, werden wir verändert und dazu inspiriert, auch unsere eigenen großen Wahrheiten auszusprechen.

Ich glaube fest daran, dass man das zurückbekommt, was man gibt. Das Geben öffnet den Geist auf besondere Weise, es gibt einem etwas zu sagen und prägt die Art und Weise, wie man die Welt sieht. Viele von uns, die mit einer Kunstform beginnen, verbringen ihre Zeit damit, Techniken zu lernen. Dabei lassen sich schnelle Erfolge erringen, und daran ist natürlich nichts auszusetzen. Wir müssen technisch versiert sein und die Fähigkeiten des von uns gewählten Mediums beherrschen.

Aber diese Zeit, in der wir uns selbst Techniken beibringen, muss sich in Balance befinden mit der Zeit, in der wir uns mit den Werken anderer Künstler beschäftigen.

Ich habe zum Beispiel beim Schreiben dieses Buches regelmäßig Pausen eingelegt, um mich hinzusetzen und zu lesen, vor allem, wenn ich nicht weiterkam. Die Bücher, die ich las, hatten nichts mit dem Thema dieses Buches zu tun, aber allein das Einatmen der Texte anderer half mir, meine eigenen auszuatmen.

Inspiration ist ansteckend.

Wie oft haben Sie, liebe Fotografen, ein großartiges Bild eines anderen Fotografen gesehen, das Sie dazu gebracht hat, Ihre Kamera zu nehmen und loszuziehen, weil sich Ihr Verständnis von dem, was möglich ist, plötzlich erweitert hat?

Und das »Eintauchen« in das, was andere geschaffen haben, muss nicht auf die Kunstform beschränkt sein, mit der wir uns beschäftigen. Es gibt Gedichte, die von Gemälden inspiriert wurden, Lieder, die von Geschichten inspiriert wurden, Filme, die von Fotografien inspiriert wurden, und alles dazwischen. Wir sollten uns nicht selbst einschränken, aber wir müssen bewusst konsumieren, denn wenn wir nicht aufpassen, kämpfen wir am Ende doch wieder nur gegen ablenkenden Lärm.

Was wir machen, ergibt sich aus dem, was wir sind, und die Arbeit, die uns inspiriert, wird uns formen. Deshalb nehme ich die Entwicklung meiner selbst, meines Geistes und meiner Weltanschauung sehr ernst, denn meine Fotografie, mein Filmemachen und mein Schreiben ergeben sich aus dem, was ich bin und wie ich sehe. Darüber hinaus möchte ich um meiner selbst willen ein interessanter, interessierter, wacher und bewusster Mensch sein, und die Beschäftigung mit den Werken anderer »Macher von Dingen« hat auf eine Art und Weise, die ich wahrscheinlich nie ganz verstehen werde, zu dem beigetragen, was ich bin.

Ich betrachte mich also als Autodidakt, was nur ein schickes Wort für jemanden ist, der sich aus Selbstverantwortung ständig neue Dinge beizubringen versucht. Ich bin ein Selbst-Lerner.

Um ganz ehrlich zu sein, war ich in der High School kein Überflieger. Ich habe mich durch die Abschlussprüfungen in Südafrika gequält, viele davon auf der Standardstufe (die leichtere Tests und Prüfungen beinhaltet). Ich war unendlich frustriert darüber, dass Bildung eher ein Test für das Kurzzeitgedächtnis zu sein schien als alles andere. Als ich jedoch die formale Bildungsschiene verlassen hatte und plötzlich ohne Verpflichtungen – wie etwa beim Schreiben einer Buchbesprechung – jedes Buch lesen konnte, das ich wollte, eröffnete sich mir eine aufregende Möglichkeit. Ich konnte meinen eigenen Lehrplan entwerfen, um für mein Leben zu lernen.

Ich gab mir selbst auf, Bücher zu Themen zu lesen, die mich wirklich interessierten, wie z. B. Geschichte und die Biografien von Menschen, die die Gesellschaft vorangebracht hatten. Ich lese Bücher über Spiritualität, Philosophie und Psychologie, um zu erfahren, wie wir als Spezies verdrahtet sind und wie wir seit ehedem versuchen, die großen Fragen zu beantworten. Ich lese Bücher über Mythologie, weil ich glaube, dass wir durch das Verständnis der Geschichten, die die Menschen erzählen, auch verstehen können, was uns wichtig ist. Und im Gegenzug hoffe ich, dass ich mit meiner Arbeit irgendwann selbst über diese Dinge sprechen kann.

Es mag Sie überraschen, dass ich als Fotograf nicht viele Fotobücher lese. Aber ich glaube, dass die Bücher, die ich lese, ein wohlüberlegter Weg sind, meiner Faszination für Menschen und ihre Ideen, Antriebe und Überzeugungen nachzugehen. Ich hoffe, dass ich, wenn ich meinen Kopf mit diesen Dingen fülle, Perspektiven und Ziele für meine Arbeit mit der Kamera gewinne. Ich verstehe, dass Lesen nicht jedermanns Sache ist (wobei ich davon ausgehe, dass das nicht auf Sie zutrifft, weil wir uns jetzt über dieses Buch austauschen). Aber ich bin in den letzten zehn Jahren immer mehr von der Bedeutung des Lesens überzeugt worden. Mehr als jedes andere Medium hat Lesen mein Weltbild erweitert und mich gelehrt, klarer zu sehen.

Vor ein paar Jahren habe ich an einem Online-Filmkurs mit dem unnachahmlichen Werner Herzog teilgenommen. Für den Kurs empfahl er ein bestimmtes Buch. Man könnte annehmen, dass es sich dabei um einen dicken Wälzer über die Geschichte des Filmemachens oder ein umfangreiches Handbuch über Filmmethoden gehandelt hätte, aber tatsächlich war es ein ziemlich unscheinbares Buch namens Der Wanderfalke von J. A. Baker. Das 1967 erschienene Buch beschreibt in schöner Prosa die Wanderfalken, die zu der Zeit, als Baker dort lebte, in der Wildnis von Essex heimisch waren. Was Herzog mit diesem Buch zeigen wollte, war: Die Beschreibungskraft des Autors bei diesem einzigartigen Thema ist phänomenal, aber er konnte nur deshalb so schreiben, weil er zuerst gelernt hatte zu sehen.

Herzog begann den Kurs in seinem bezaubernden bayerischen Akzent: »Mein bester Rat an alle Filmemacher lautet: Lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen!« Die erste Übung, die er der Klasse gab, war übrigens »100 Meilen in jede Richtung zu laufen«. Das war’s. Nicht filmen oder fotografieren, nur laufen. Dieser Mann beschloss 1974, von München nach Paris zu laufen, um seine sterbende Mentorin Lotte Eisner zu besuchen. Es standen ihm viele Transportmittel zur Verfügung, aber er entschied sich dafür, die Strecke mitten im Winter nur mit einem Kompass und einem Seesack zu Fuß zurückzulegen, und diese Reise hat ihn, neben vielen anderen, das Sehen gelehrt und ihn zu dem Filmemacher gemacht, der er heute ist. Er schrieb ein wunderschönes Tagebuch über diese Reise, das später unter dem Titel Of Walking in Ice veröffentlicht wurde, falls Sie etwas tiefer eintauchen möchten.

Falls ich einer Erinnerung bedurfte – und das tue ich oft –, dann war das alles in Herzogs Kurs enthalten: Lesen, Gehen, Sehen lernen, Raum schaffen.

Ein weiteres Medium, das in meinem selbstgebauten Lehrplan eine wichtige Rolle spielt, ist Film. Meisterhafte Regisseure haben mir beigebracht, wie man eine Geschichte visuell erzählt und wie man das Tempo steuert. Meine Lieblingskameramänner und -frauen haben mir Arbeiten gezeigt, die mich endlos zu eigenen Arbeiten inspiriert haben. Die besseren Drehbuchautoren haben mir Dinge über das Leben und die Menschen beigebracht, wie es die Psychologie nie könnte, denn sie haben mich die Wahrheit darüber spüren lassen, was wir sind, jenseits aller Wissenschaft. Ihre Arbeit hilft mir, ein besserer Filmemacher, Fotograf und Geschichtenerzähler zu werden. Deshalb schaue ich regelmäßig Filme, die vielleicht mehr Geduld und Konzentration erfordern, von denen ich aber weiß, dass sie mir neue Möglichkeiten eröffnen.

Ich höre auch Podcast-Interviews mit interessanten Menschen, weil ihre Vorstellungen über das Leben meine eigenen herausfordern und mich zwingen, mit den Augen anderer zu sehen. Ich besuche Museen. Offen gesagt, bleibe ich oft nicht lange.

Wenn ich weiß, dass ich zu einem anderen Zeitpunkt wieder hinein kann, besuche ich meist nur ein oder zwei Räume und gehe wieder, um beim nächsten Mal andere auszuprobieren. Andernfalls weiß ich, dass ich einen Sättigungspunkt erreichen und aufhören würde, das, was ich sehe, aufzunehmen. Sie wissen ja schon aus dem letzten Kapitel, dass der Rembrandt-Saal in der National Gallery einer meiner Lieblingsräume ist.

Ich liebe es, Live-Musik zu hören, wenn auch nicht unbedingt große Konzerte in Stadien oder Arenen. Meine Favoriten sind Singer-Songwriter, die mit kleinem Gepäck unterwegs sind und ihren Logos einfach in Liedern ausdrücken.

Ihre Liste wird anders aussehen als meine, aber der Punkt ist, dass Sie Ihren eigenen Lehrplan erstellen, der Sie mit Kunst nährt, die Ihre Perspektive erweitert. Also kultivieren Sie Ihre Neugier und atmen Sie alles ein. Ich verspreche Ihnen, dass dies die kreative Luftsäule sein wird, die Sie brauchen, und die die Quelle der Ideen bildet, aus der Ihre beste kreative Arbeit fließen wird. Wenn Sie sich selbst und ohne Agenda Gesellschaft leisten, lernen Sie sich selbst besser kennen und wissen, was Sie Einzigartiges zu bieten haben. Und wenn Sie mehr über die Welt lernen, in der Sie leben, können Sie umso besser verstehen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Und Sie werden in der Lage sein, durch Ihre einzigartigen Gaben Ihren Logos zu uns sprechen zu lassen.

Das alles ist das kreative Einatmen. Die In-Spiration. Man kann sie nicht umgehen, denn wie mein Gesangslehrer immer zu sagen pflegte: »Du kannst keinen Ton singen, wenn du nicht vorher genug Luft eingeatmet hast, um ihn zu unterstützen.«

Vielleicht müssen Sie längere Spaziergänge machen oder sich öfter allein zum Kaffee treffen. Vielleicht müssen Sie für ein paar Tage, ein paar Wochen, ein paar Monate wegfahren. Sie werden sich mit sich selbst anfreunden müssen. Sie müssen lernen, sich in diesem leeren Raum wohlzufühlen. Aber ich verspreche Ihnen, dass Ihre kreativen Bemühungen Blüten treiben werden, wenn Sie sich die Mühe machen.

Wenn Sie lernen, in Ruhe zu sein.

Einfach zu sein.

Einfach zu atmen.

Sinn in der Kreativität finden

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