Читать книгу Arschloch mit Herz - Sebastian Blumenthal - Страница 4
Prolog
ОглавлениеDie junge Frau blieb stumm und deutete mit dem Finger in Richtung der Treppe, als der hagere Mann in der roten Jacke erneut nach dem Weg zum Zimmer fragte. Höflichkeit war das erste Gebot in ihrem Beruf, doch die plötzliche Hektik zerrte ihre guten Manieren wie ein reißendes Gewässer mit sich.
Nur eine halbe Stunde zuvor hatte sie der Mittagschicht »einen schönen Abend« gewünscht und wollte wie an jedem Abend im Schutz der einkehrenden Ruhe die Buchungslisten prüfen. Das Abhaken von Listen, die Organisation des Frühstücks, das Nachbestellen unterschiedlichster Verbrauchsartikel und die vielen anderen Tätigkeiten, die sich nach einem verbindlichen Schema verrichten ließen, waren der Grund, weshalb sie die Arbeit im Hotel so sehr schätzte. Und natürlich auch der Umgang mit den Gästen. Zumindest mit den Meisten von ihnen. Nur wenige Monate zuvor hatte sie noch aufgeregt in der Abschlussprüfung gesessen und war Landesbeste geworden, aber das Überraschungsmoment ließ die eingeübte Routine erlahmen und machte alles bisher Gelernte zunichte.
Vor dem Hoteleingang lockte das umherschwirrende Blaulicht des leerstehenden Rettungswagens erste Gaffer in seinen Bann. Auch die ältere Dame auf der gegenüberliegenden Straßenseite war jetzt stehen geblieben und reckte ihren Kopf wie ein diensthabendes Erdmännchen in die Höhe, um am Horizont nach Feinden Ausschau zu halten. Dem Hund am Ende ihrer Leine kam es nur gelegen – endlich war es ihm vergönnt, seinem Trieb zu folgen und ausgiebig an der aus dem Boden ragenden Metallstange zu schnuppern.
Das laute Poltern im Hotelflur und ein kurzer, hektischer Wortwechsel lockte einen Gast hervor. Durch einen schmalen Türspalt hindurch beobachtete er die junge, ungewöhnlich blasse Rezeptionistin, die vor einer weit geöffneten Tür stand und nervös an ihren Nägeln kaute.
»Hallo?! Können Sie mich hören?!«, schallte eine feste Stimme aus dem gegenüberliegen Zimmer in den Flur. Weil der neugierige Gast zurückgeschreckt war, hatte er den entscheidenden Moment verpasst und konnte nicht erkennen, wer mit schnellen Schritten herausgetragen wurde. Die Gaffer vor dem Haus hatten mehr Glück. Ihr Durchhaltevermögen zahlte sich in Form eines ausgiebigen Blickes zum erschlafften Körper auf der Trage aus.
»Zumindest haben diese Idioten nicht den Weg verstellt«, murmelte der müde Rettungsassistent grimmig, als er mit quietschenden Reifen davonraste. In dem kleinen Küstenort, in dem es kurz vor Beginn der Urlaubssaison meist ohnehin nicht viel zu berichten gab, war der Vorfall eine Meldung im Lokalteil der Zeitung wert.