Читать книгу Arschloch mit Herz - Sebastian Blumenthal - Страница 6
2. Raketen
ОглавлениеDie letzten Wochen vor den Ferien verlaufen zäh wie Honig, aber endlich ist es so weit: Der letzte Schultag vor den wohlverdienten Herbstferien. Die Kraft, meine Fassade aufrechtzuerhalten, ist aufgebraucht, und der Unterricht läuft nur noch auf pädagogischer Sparflamme. Ich kann das Ende der fünften Stunde kaum erwarten. Wie immer gibt es am letzten Tag Filme, Spiele und den üblichen Zeitvertreib, den man sich getrost sparen könnte. Biologie ist nicht mein Zuständigkeitsbereich, trotzdem zeige ich der 9c in der letzten Stunde eine Dokumentation über Ameisen. Eine gute Gelegenheit, ihn mir selbst noch mal anzuschauen. Kleine, faszinierende, beinahe hirnlose Wesen, die alleine sinnlos und verloren wären, aber in Gemeinschaft unglaubliche Leistungen vollbringen. Die Schüler der 9c, die sich mit leeren Blicken von den bewegten Bildern berieseln lassen, sind im Alleingang genauso unfähig, etwas Großes zu leisten wie in Gemeinschaft. Nach ihrem Abschluss werden die meisten von ihnen von der Gesellschaft und deren Wohlwollen genährt. Sie sind dazu bestimmt, Ballast für die Sozialkassen zu werden oder, wenn es wirklich gut läuft, als Kanonenfutter für den ungezügelt wachsenden Niedriglohnsektor zur Verfügung zu stehen.
Der Film ist noch nicht zu Ende, gerade heben Forscher ein riesiges Ameisennest aus, als die Schulglocke, deren verstimmtem Gong stets ein knarrendes Geräusch vorauseilt, alle Dämme brechen lässt. Eigentlich müsste ich jetzt einschreiten, zur Ruhe bitten und ein paar abschließende Floskeln an die Klasse richten, aber ich bin erschöpft und lasse sie aus Eigennutz gewähren. Die Meute stürzt sich kreischend und hüpfend durch den Türrahmen. Einige rudern beim Herauslaufen sogar wild mit den Armen. Nur Erika bleibt mal wieder zurück. Sie trudelt in aller Seelenruhe mit prüfendem Blick im Raum umher und schließt verantwortungsbewusst die noch offen stehenden Fenster, während sie beiläufig Papiermüll vom Boden aufsammelt. Als ich mit dem Schlüssel im Schloss an der Tür stehe und sie endlich über die Schwelle tritt, nehme ich meinen Mut zusammen.
»Erika, kommst du noch bitte kurz mit mir, bevor du dich auf den Weg machst?«
Klar, dass Erika kurz nickt und nicht fragt, warum. Sie hat eine ungefähre Vorstellung von ihrem Platz innerhalb der Nahrungskette und würde meine Autorität nie infrage stellen. Diktatoren rund um den Globus lecken sich die Finger nach derart willenlosen Untertanen vom Typus Erika. In peinlicher Stille überqueren wir den bereits verwaisten Schulhof in Richtung Parkplatz. Als ich den Kofferraum öffne und eine große Plastiktüte aus dem Kofferraum fische, schaut sie mich nichtssagend an.
»Na schau schon rein, Erika. Ist für dich.«
Warum nimmt sie die verdammte Tüte nicht endlich entgegen? Wie lange soll ich sie ihr denn noch vor die Brust halten? Vielleicht sollte ich etwas mit dem Beutel rascheln, um sie anzulocken.
»Für mich?«
Da ist er wieder, der unverwechselbar hohle Blick der Erika Kroll.
»Na guck schon rein, Erika«, ermutige ich sie mit hastigem Blick auf meine Armbanduhr. Endlich reagiert sie und nimmt mir die Tüte aus der Hand.
»Was? Wirklich? Danke, Herr Tannenberger! Vielen Dank! Laufklamotten und nagelneue Laufschuhe?! Woher kennen Sie denn meine Größe?«
»Beim Jogginganzug habe ich grob geschätzt und wegen der Schuhe habe ich Herrn Rausch angerufen. Der hat dann unauffällig nachgeschaut, als du nicht auf deinem Zimmer warst. Wenn was nicht passen sollte oder es dir nicht gefällt, kannst du es einfach umtauschen. Die Quittung liegt im Schuhkarton.«
»Nein, Herr Tannenberger! Das passt bestimmt«, quietscht sie vergnügt.
»Na, umso besser. Dann, schöne Ferien und viel Spaß beim Sport! Bis in zwei Wochen.«
»Herr Tannenberger?«
»Ja, Erika?«
»Mir hat noch nie jemand etwas Neues geschenkt. Alles, was ich habe, ist irgendwie gebraucht.«
»Irgendwann ist immer das erste Mal, Erika«, belehre ich sie in bester Lehrermanier. Ich hoffe inständig, dass das Thema damit beendet ist. Doch gerade, als ich in mein Auto steigen möchte, stellt sie sich mir in den Weg. Verdammt! Was soll ich jetzt nur tun? Ich bin aufgeschmissen wie ein Käfer, der hilflos auf dem Rücken liegt und es aus eigener Kraft nicht schafft, seinen Körper zu wenden.
»Darf ich Sie umarmen?«
Was?! Was fragt sie da?!
»Nein, lieber nicht! Ich habe es leider etwas eilig.«
Mit tomatenrotem Kopf versuche ich betont gelassen ins Auto zu steigen, aber das hektische Knallen der Tür macht meine vorgetäuschte Lässigkeit völlig zunichte. Schnell den verdammten Schlüssel drehen und Abfahrt. Gott sei Dank! Er springt beim ersten Versuch an. Gut, dass ich heute Morgen rückwärts eingeparkt habe, das bringt wertvolle Sekunden. Ausnahmsweise schaue ich jetzt nicht in den Rückspiegel, um mich zu vergewissern, dass die Schule und vor allen Dingen Erika verschwindet. Heute muss ich einfach blind darauf vertrauen, dass es stimmt. Geliebter Innenraum, auf dich ist Verlass. Gut, dass es dich gibt.
Im Gegensatz zu Schultagen rauschen die Ferientage sturzbachartig an mir vorbei, und wenn ich einmal von Essen, Trinken und Schlafen absehe, bin ich bisher nicht auch nur einer sinnvollen Tätigkeit nachgegangen. Der große Stapel Klassenarbeiten liegt nach wie vor unkorrigiert auf dem Tisch und ragt wie ein Denkmal zu Ehren meiner unverschämten Trägheit mahnend in die Höhe. In halbwegs klaren Momenten war ich zumindest immer wieder mal im Wald spazieren. Es ist fast zur Gewohnheit geworden, die schäbige Bank am Waldrand aufzusuchen. Ich bin mir nicht schlüssig, warum ich das trotz der Gefahr, Erika zu begegnen, tue. Vielleicht ist es ein Zeichen, dass ich alt werde. Die meisten Menschen entwickeln seltsame Routinen, wenn sie in ein gewisses Alter kommen, und gewohnte Abläufe werden zunehmend wichtiger. Neue Optionen, die in jungen Jahren nahezu bedingungslos offenstanden, werden immer häufiger infrage gestellt, fein säuberlich filetiert und anhand bereits durchlebter Situationen bewertet. Der wachsende Erfahrungsschatz bringt keineswegs nur Vorteile mit sich. Eines Tages überschreitet er die kritische Masse und verdrängt dabei jegliche Spontaneität, die ausnahmslos durch strategische Planung ersetzt wird. Neugier und Angst werden sorgfältig gegeneinander aufgewogen und jedem Vorhaben, dem keine bereits durchlebte Mustersituation zugeordnet werden kann, wird zugunsten der Risikominimierung der Garaus gemacht. Irgendwann übernimmt die Routine schließlich vollständig die Kontrolle über das bescheidene Kontingent an Restlebenszeit, und ohne geordneten, sich ständig wiederholenden Lebensablauf, scheint ein Fortleben nicht mehr denkbar. Alles Neue wird als potenziell gefährlich deklariert. Im schlimmsten Fall besteht der Alltag schließlich nur noch aus originalgetreuen Kopien. Mein Großvater ist der beste Beweis dafür. Zum Ende seiner Tage war er bloß noch ein Gefangener weit zurückliegender Erinnerungen und Routinen. Irgendwann hat er damit angefangen, mich skeptisch zu mustern, wenn ich zu Besuch kam. Wer ich denn sei und was ich ihm verkaufen wolle, fragte er skeptisch, bevor Großmutter ihn mit einer Engelsgeduld davon überzeugen konnte, dass ich kein aufdringlicher Verkäufer, sondern sein Enkelkind sei.
»Ach! Der Nico! Hab ich’s doch gleich gewusst.«
»Ja, klar, Opa. Ich wollte doch nur mal schauen, ob es dir und Oma auch gut geht.«
»Hmmmm.«
»Und, Opa, geht’s denn gut?«
»Was?«
»Ob es dir guuut geht, Opa?!«
»Ach Nico, weißt du, Junge, alles wäre gut, wenn doch nur der verdammte Krieg endlich zu Ende wäre. Ich glaube, der Führer hat sich da in etwas verrannt. Was ist eigentlich mit Vater, wann kommt der endlich heim? In der letzten Zeit wollen einfach keine Briefe von der Front mehr kommen. Mutter ist schon ganz krank vor Sorge. Hast du vielleicht irgendetwas gehört?«
»Aber Opa, der Krieg ist doch schon lange vorbei!«
»Vorbei?!«
»Jaaa, Opa, vorbei!«
»Und?«
»Und was?«
»Haben wir denn gewonnen?«
Seine Gegenwart bestand in erster Linie aus von Angst und Ungewissheit geprägten Kindheits- oder bestenfalls Jugenderinnerungen, die sich dann und wann mit bescheidenen Fragmenten der Gegenwart vermischten. Ich frage mich, welche Endlosschleife die Zukunft wohl für mich bereithält? Vielleicht bin ich dazu verdammt, eine nicht enden wollende Unterrichtsstunde zu durchleben. Oder vielleicht korrigiere ich einen niemals kleiner werdenden Stapel Klassenarbeiten und rege mich schrecklich über die immer selben dämlichen Fehler auf, bis ich an einem Herzinfarkt zugrunde gehe. Apropos Klassenarbeiten. Ich sollte endlich dazu übergehen, diese monotone und mit Frust verbundene Arbeit in Angriff zu nehmen. Gut, los geht’s, Nico! Obwohl … Wo ist mein Rotstift? Wenn ich den nicht parat habe, brauche ich erst gar nicht anzufangen. Ich denke, ein Schluck Rum wird mir helfen, die Suche gelassener zu gestalten. Na, wer sagtʼs denn, er hat sich unter dem unsortierten Papierhaufen auf dem Schreibtisch versteckt. Gleich kann es losgehen. Ich nehme nur noch schnell ein Bad und eine halbe Valium, um mich in eine angemessene Korrekturstimmung zu versetzen.
Warum ist mir so verdammt heiß? Und dieser unerträgliche Durst erst. Woher kommen diese spitzen Nadeln aus grellem Licht, die mir die Augen perforieren und einen stechenden Schmerze hinterlassen? Nur langsam gewöhne ich mich an die durchringende Helligkeit und erkenne, dass ich nicht in meiner Wanne, sondern in einem fremden Bett liege. Ich bin an diverse Apparate angeschlossen und aus meinen Handrücken ragt eine rosafarbene Kanüle, über die eine klare Flüssigkeit in meine Venen geschleust wird. Endlich gelingt es mir, meinen Kopf zu drehen, und ich entdecke einen ergrauten, auf dem Rücken liegenden Mann, der irgendetwas murmelt und dabei Löcher in die Luft zu starren scheint. Das leise Rascheln meines Kissens ist ihm nicht entgangen, und als ich den Versuch unternehme, mich mit schmerzverzerrter Miene aufzurichten, wuchtet er sich überraschend agil vom Rücken auf die Seite. Sofort geht er dazu über, mich neugierig zu mustern. Seine buschigen weit hervortretenden Brauen wirken wie ein Balkon aus drahtigem Haar, der über seinen milchig trüben Augen thront.
»Moin, ich bin der Hermann! Warst ja ganz schön lange weggetreten, mein Guter«, ruft er mir gut gelaunt zu. Seine laute Stimme bohrt sich wie ein Messer in meinen Gehörgang.
»Könntest du bitte etwas leiser sprechen? Ich habe schlimme Kopfschmerzen«, klage ich heiser und erschrecke mich über meine kraftlose Stimme.
»Aber klar doch!«, brüllt er in gleichbleibender Lautstärke.
»Bei mir ist es die Pumpe, die will nicht mehr so richtig«, ruft er mir zu und deutet mit flacher Hand auf seine Brust, »aber ich hab ja auch fast mein ganzes Leben lang geraucht wie ein Schlot, und beim Schnaps hab ich auch ordentlich zugelangt. Tja, Pech, aber was will man schon mit Ende sechzig verlangen? So ein geschundener Körper hält nicht ewig, wa?«, fragt er mit weit aufgerissenen Augen.
Ich habe den Eindruck, dass sein Mund sich nicht synchron zu den Worten, die seine Lippen verlassen, bewegt. Das Ganze erinnert mich an eine dieser schlecht synchronisierten Verkaufssendungen, wo zu später Stunde Gemüsehobel aus Plastik verscherbelt werden. Leider ist es mir nicht möglich, umzuschalten oder zumindest den Ton abzudrehen.
»Wärst du so nett und könntest eine Schwester oder einen Arzt holen? Ich möchte etwas trinken, ich habe schrecklichen Durst«, winsle ich mit letzter Kraft.
»Sicher, Junge. Ist doch Ehrensache! Sag mal, wie heißt du eigentlich?«
»Nico. Könntest du jetzt bitte irgendwem Bescheid geben? Bitte!«
Endlich erbarmt er sich und lässt seine zitternde Hand auf einen roten Knopf am Nachttisch zusteuern.
»Ja, Schwester Lydia hier«, knarrt es aus dem Tisch.
»Hier ist der Hermann aus Zimmer 205, der Nico ist jetzt wach und lässt fragen, ob er was zu trinken haben kann. Und wenn sie schon dabei sind, bringen sie mir ein Herrengedeck und eine schöne Zigarre mit.«
Die Frau aus dem Lautsprecher antwortet nicht, und Hermann zwinkert mir sichtlich amüsiert zu, verzieht dabei sein faltenschlagendes Gesicht und lässt seine buschigen Brauen beben. Nur wenige Augenblicke später betritt eine Schwester schnellen Schrittes das kleine Zimmer. Sie kommt direkt auf mich zu und beugt sich über mich, um mich wie einen leblosen Gegenstand aus der Nähe zu begutachten. Es ist Schwester Lydia, wie ihr Namensschild verrät. Ängstlich kneife ich meine Augen zusammen, weil die üppigen Brüste ihren Kittel wie eine zum Abschuss präparierte Bogensehne spannen und ich fürchte, dass sich unter dem großen Druck einer der Knöpfe löst, und mir den Glaskörper zertrümmert. Als hätte ich nicht schon genug gelitten.
»Ach, der Herr Tannenberger«, sagt sie mit auffällig osteuropäischem Akzent, während sie endlich Abstand von mir nimmt.
»Willkommen zurück. Sie möchten etwas zu trinken?«
»Ja, bitte.«
»Das geht leider nicht. Anordnung vom Arzt. Er kommt aber noch zur Visite, wir können ihn dann fragen. Solange müssen wir noch warten«, ordnet sie leicht überheblich an.
Großartig! Wir müssen warten. Wenn ich diesen Schwachsinn schon nur höre. Diese geheuchelte Verbrüderung, als ob sie mit mir leiden würde. Und zu allem Überfluss darf ich hier halb vertrocknet neben dem ach so witzigen Spaßvogel Hermann liegen und hoffen, dass eine höhere Instanz endlich entscheidet, ob ich was trinken darf. Mit einem müden, aufgesetzten Lächeln dreht sich Schwester Lydia zu Hermann herüber, und erst jetzt wird mir bewusst, dass ich ihr vorhin auch nicht für nur eine Sekunde ins Gesicht geschaut habe. Eine auffällig knollige Nase wie bei einer Zeichentrickfigur von Loriot entspringt ihrem kreisrunden Gesicht, und auf ihrem Kopf sprießt eine Dauerwelle, die bestenfalls vor mehreren Jahrzehnten hinterm Eisernen Vorhang modern war. Ich glaube mich zu erinnern, dass David Hasselhoff die gleiche Frisur getragen hat, als er mit Looking for Freedom die deutsche Wiedervereinigung herbeigesungen hat.
»Und Herr Rauner, das mit dem Herrengedeck und der Zigarre wird leider nichts, und wenn sonst nichts ist, werde ich jetzt wieder gehen. Die anderen Patienten haben ja schließlich auch das Recht, versorgt zu werden. Nicht wahr, Herr Rauner?«, fragt sie belehrend und kehrt uns, ohne eine Antwort abzuwarten, ihren Rücken zu. Nur Sekunden später hat sie das kleine Zimmer bereits wieder verlassen. Hermann guckt schelmisch wie ein kleiner Schuljunge zu mir rüber, während er die großen Brüste von Schwester Lydia mit seinen Händen in der Luft nachzeichnet.
»Das sind zwei Raketen, wa, Nico?! Da könnt ich mich reinlegen. Ich wette, dann wäre ich im Nu wieder auf dem Damm, aber sowas zahlen die Kassen ja nicht.«
»Sei mir bitte nicht böse, Hermann, aber ich versuche jetzt noch etwas zu schlafen«, antworte ich resigniert und drehe meinen Kopf zu Seite, um ihn nicht mehr anblicken zu müssen. Mein Zeitgefühl verschwimmt, mein Durst wird unerträglich. Immer wieder nicke ich ein und sehe mich in einem kühlen, glasklaren See ertrinken. Eigentlich müsste ich in Panik geraten, aber seltsamerweise bleibe ich gelassen und genieße die kühlen Wassermassen, die unablässig meine ausgetrocknete Mundhöhle fluten. Wie ein Stein sinke ich in bodenlose Tiefen und inhaliere das klare Nass, als ob ich meine Lungen gegen Kiemen eingetauscht hätte. Erst ein unerwartetes Seebeben lässt mich aufschrecken und schlagartig erwachen. Hermann steht im weiß-blau gestreiften Schlafanzug neben meinem Bett und schüttelt grob an meinen Schultern.
»Mensch, Nico, jetzt wach mal endlich auf. Hast doch jetzt genug gepennt. Die Visite müsste gleich kommen, die willst du doch nicht verpassen, wa?«
Ich nicke benommen und Hermann lässt schlurft endlich in sein Bett zurück. Es sieht beinahe so aus, als würde er mit seinen Filzpantoffeln das graue Linoleum bügeln. Ich bin überrascht, wie klein Hermann ist, jetzt wo ich ihn aufrecht stehen sehe, höchstens ein Meter fünfzig. Tatsächlich, der kleine Mann soll Recht behalten. Er hat sich gerade erst zugedeckt, als ein hektisches Rudel mit wehenden, hell strahlenden Kitteln die Bühne betritt. Im Zentrum der Traube gibt sich der Leitwolf zu erkennen. Er macht die Ansagen, und alles, was er sagt, wird von den umherstehenden Lakaien eifrig notiert. Die Stunde der Wahrheit. Ob mir das Recht zu trinken eingeräumt wird?
»Ah ja, der Herr … Herr …«, murmelt er nachdenklich.
»Tannenberger!«, springt Schwester Lydia ihm zur Seite.
»Ja, richtig. Tann-en-ber-ger.« wiederholt er mit in Falten liegender Stirn, ohne seinen prüfenden Blick vom Klemmbrett in seinen Händen zu wenden.
»Mein Name ist Dr. Reufer. Nun Herr Tannenberger, wie fühlen Sie sich?«
Er stellt die Frage beiläufig und würdigt mich noch immer keines Blickes. Stattdessen begutachtet er den kleinen Turm aus aufeinandergestapelten Messgeräten, die meine Vitalfunktionen in kryptische Diagramme, Zahlenwerte und Geräusche übersetzen. Es scheint, als sei mein Dasein durch die Summe aller Messwerte vollständig beschrieben, kein Bedarf und den Blick auf den Patienten zu richten.
»Ich fühle mich erschöpft und habe Kopfschmerzen. Aber viel schlimmer ist der Durst. Ich habe schrecklichen Durst. Was ist überhaupt passiert?«, will ich wissen und bin erstaunt, dass ich mir die Frage nicht schon eher gestellt habe.
»Nun«, sagt er mit einer seltsamen Anstrengung in der Stimme, während mit seinen Augen das Klemmbrett in seinen Händen durchforstet, »Sie haben beim Baden Ihr Bewusstsein verloren. Sie hatten Glück im Unglück, denn der entstandene Wasserschaden hat dazu geführt, dass die Feuerwehr Sie gefunden hat. Ihre Leberwerte sind auffällig. Nehmen Sie regelmäßig Medikamente, Herr Tannenberger?«
Das erste Mal blickt er mir direkt ins Gesicht.
»Valium gegen Schlafstörungen.«
»Regelmäßig?«
»Ja, ziemlich regelmäßig«, sage ich schuldbewusst.
Anstatt mich zu rügen oder mir einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen, ordnet er in einer abgehakten, militärisch wirkenden Manier an, mir vor dem Zubettgehen fünf Milligramm Diazepam auszuhändigen. Zudem wird mir Wasser oder wahlweise Tee gewährt. Nur wenige Minuten nach der Visite wird mir endlich etwas zu trinken aufgetischt, doch kaum ist mein Durst gestillt, kündigt sich schon die nächste Mangelerscheinung an: Schlaf. Hermann redet unablässig auf mich ein. Er ist nicht imstande, seinen Mund zu halten, auch dann nicht, wenn man ihn unverblümt darum bittet. Am Abend schläft er vor laufendem Fernseher ein, was kein Problem für mich ist, aber sein Geschnarche könnte ein Flugzeugtriebwerk übertönen.
Geduldig raffe ich mich auf und hieve mich mithilfe der Triangel über meinem Kopf ungelenk aus dem verfluchten Bett. Es dauert eine Ewigkeit, bis ich endlich aufrecht auf der Bettkante sitze. In tiefster Nacht schleiche ich langsam durch trostlose, in Neonlicht getünchte Flure. Die beigen Wände bieten Halt, wenn ich nach nur wenigen Schritten erschöpft pausiere. Am Ende des Flures, gerade einmal zehn, höchstens fünfzehn Meter von mir entfernt, erspähe ich einen Rollstuhl. Er ist meine Oase inmitten karger Wüste. Das leise Surren der Elektrik, das nur in der ruhigen Nacht zu hören ist, entfaltet eine angenehme beruhigende Wirkung. Ich bette mich in dunkler Stille, als ich plötzlich Schritte höre. Langsame, bedächtige Schritte. Als sich meine Lider öffnen, sehe ich mich selbst. Ich schreite durch den Flur. Anna, kahl und abgemagert, hat sich bei mir eingehakt. Sie hat keine Kraft mehr, alleine zu gehen. Ich führe den Tod spazieren.
Mit dem eigenwilligen Krankenhausalltag habe ich mich einigermaßen arrangiert. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Noch immer fehlt es mir an ausreichend Schlaf, aber die nächtlichen Exkursionen lassen mich den Mangel zumindest notdürftig verwalten. Sieben Tage und Nächte habe ich bereits hinter mich gebracht und kann inzwischen einen guten Kilometer ohne Pause durch die kleine Parkanlage, die im Halbkreis um das Krankenhaus angelegt ist, streifen. Als ich am späten Vormittag mein Zimmer aufsuche, entdecke ich einen Umschlag auf meinem Nachttisch. Direkt daneben sitzt Hermann blöd grinsend auf seiner Bettkante und scheint mich bereits sehnlichst zu erwarten.
»Post von deinem Liebchen, wa?«, fragt er neugierig und reibt seine Hände aneinander, als ob ihm zu kalt wäre.
Ohne ihm weitere Beachtung zu schenken, setze ich mich auf mein Bett und öffne den Umschlag mit zitternden Händen. Zum Vorschein kommt eine billig aufgemachte Karte, auf deren Stirnseite dem Empfänger in großen Druckbuchstaben »Gute Besserung« gewünscht wird. Darunter prangt ein quietschgelbes Comic-Küken mit riesigen Augen und einem eingegipsten Flügel. Was für eine infantile Scheiße!
»Halo Herr Tannenberger, ich wünsche Innen gute Besserung und hoffe das es Innen balt wieder gut geht.
Erika Kroll.
P.S.: Ich wollte das die Klasse für die Karte zusammenlekt. Die anderen wollten aber nich.«
Schwindel übermannt mich, und die bescheidenen Fortschritte der vorausgegangenen Tage sind mit einem Schlag dahin. Die Karte lasse ich umgehend im Nachttisch verschwinden. Woher weiß sie, in welchem Krankenhaus ich liege? Vielleicht vom Sekretariat? Verdammte Tratschtanten! Und abgesehen davon: Wer hält sie davon ab, hier aufzutauchen? Ich bin im Prinzip jedem, der hier reinschneit, vollkommen hilflos ausgeliefert. In diesem Moment wünsche ich mir, man hätte meine Valiumdosis vervierfacht, oder noch besser, ich wäre in der scheiß Wanne ersoffen. Wie lange wird es wohl noch dauern, bis Erika oder eine andere Person auf die großartige Idee kommt, mich zu besuchen? Ich will keinen Besuch! Ich bin allein. Und das ist gut so. Die Ungewissheit macht mich verrückt. Es ist mir daher eine willkommene Ablenkung, täglich zwischen den spezialisierten Fachärzten umhergereicht zu werden, und meinen Gesundheitszustand mithilfe von zum Teil futuristisch anmutenden Gerätschaften analysieren zu lassen. Dabei beschleicht mich das Gefühl, dass es gar nicht um meine Krankheit geht. Ich glaube eher, dass das Spielchen so lange weiter geht, bis die Investorengruppe, die das Krankenhaus betreibt, den maximalen Profit erwirtschaftet, der meiner Symptomatik entsprechend möglich erscheint. Heutzutage geht es ja nur noch um Gewinnoptimierung, auch in Krankenhäusern. Die Untersuchungen genügen aber leider bei weitem nicht, um mich vollständig von Erikas Genesungswünschen und meiner Paranoia, besucht zu werden, abzulenken. Und zu allem Überfluss malträtiert mich der kleine Hermann bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit seinen frivolen Anspielungen, die nicht einmal halb so lustig oder anzüglich sind, wie er sich vermutlich einbildet. Nur wenn Liesbeth, seine Frau und angeblich bessere Hälfte, zu Besuch kommt, gibt er endlich Ruhe. Sobald die auch nur einen Fuß in das Krankenzimmer setzt, ist Hermann nicht mehr wiederzuerkennen. Schlagartig wirkt er ernsthaft krank und geschwächt, es sieht sogar fast so aus, als ob er in Liesbeths Gegenwart noch weiter zu schrumpfen beginnt.
Im Gegensatz zu Hermann ist Liesbeth lang und spindeldürr. Sie trägt einen militärisch zweckmäßigen Igelschnitt, und die Falten um ihre Mundwinkel kennen nur eine Richtung: abwärts. Vor Liesbeth hat Hermann einen Heidenrespekt, der sich beizeiten kaum von blanker Angst unterscheidet.
»Ah, Liesbeth, schön, dass du gekommen bist. Geht alles gut zu Hause?« flüstert er mit schwacher Stimme.
»Sehe ich so aus, als hätte ich etwas nicht im Griff? Für wen hältst du mich?!«
Egal, was Hermann sagt, sie dreht ihm aus allem einen Strick. Ich frage mich, ob die beiden schon immer so waren oder ob das die Kollateralschäden einer langen Ehe sind. Und wenngleich Herrmann es schafft, mich regelmäßig auf die Palme zu bringen, tut er mir irgendwie leid, wenn Liesbeth hemmungslos auf ihn einhackt. In der Regel kommt sie jeden zweiten Tag und bleibt für zwanzig Minuten, aber heute hat sie sich eine halbe Stunde gegönnt, um aus Hermann Kleinholz zu machen. Schwer zu sagen, wann er sich wieder traut, unter der Bettdecke hervorzukriechen. Etwas Aufheiterung würde uns beiden nicht schaden.
»Hermann, hast du Lust auf einen Kurzen?«, rufe ich ihm zu.
Ruckartig wirft er die Bettdecke zur Seite und lässt seine buschigen Brauen zwei Fingerbreit in Richtung Scheitel rutschen.
»Hast du denn was da?«, flüstert er aufgeregt.
»Sicher, sonst würde ich doch nicht fragen.«
»Woher?«
»Vom Kiosk auf der anderen Straßenseite.«
»Meine Liesbeth ist ja schon auf dem Heimweg, und einer kann ja nicht schaden, wa?«, möchte er wissen, obwohl die Antwort auf seine Frage schon lange feststeht.
»Sicher Hermann, einer kann auf keinen Fall schaden«, zwinkere ich ihm zu.
Um nicht erwischt zu werden, schleiche ich mich zunächst auf den Gang und prüfe mit vorsichtigen Blicken, ob die Luft rein ist. Als niemand zu sehen ist, schleiche ich auf Zehenspitzen zurück, schließe leise die Zimmertür, und hole unter Hermanns neugierigem Blick einen der beiden noch unangetasteten Flachmänner aus meinem Schrank hervor.
»Lass es dir schmecken, Hermann!«, proste ich ihm zu.
»Prost, Nico. Auf dich, bist schwer in Ordnung«, flüstert er mit lebendigem Glanz in seinen Augen.
Wir sitzen uns auf den Bettkanten gegenüber und leeren die kleinen Plastikbecher, die eigentlich für unsere tägliche Pillenration bestimmt sind, in einem Zug.
»Ach, was war das lecker!«, stöhnt Hermann hochzufrieden und umkreist mit seiner Zungenspitze gierig seine Lippen, um nichts verkommen zu lassen.
Die von Liesbeth geraubte Lebenskraft kehrt endlich zu ihm zurück, und seine Haut nimmt eine vitale Farbe an.
»Noch einen?«, frage ich herausfordernd.
»Ich weiß nicht …«, sagt Hermann verunsichert, um im nächsten Augenblick ein tollkühnes »Ach komm, auf einem Bein kann man nicht stehen, wa?« hinterherzuschieben.
»Sicher. Recht hast du, Hermann«, bestätige ich gelassen.
Natürlich bleibt es nicht dabei. Wir spornen uns gegenseitig an und leeren die beiden Flaschen bis zum letzten Tropfen. Hermann geht es gut. Leise kichernd liegt er auf dem Rücken. Er hat sich bis zur Nasenspitze zugedeckt, während ich den Kopfteil meines Bettes mithilfe der Fernbedienung in eine sagenhaft bequeme, halb aufrechte Position fahre. Auch ich genieße schweigend die wohlige Wärme, die der billige Rum in der Magengegend hinterlassen hat. Ich fühle mich wie ein Löwe, der sich nach anstrengender Jagd faul in der prallen Sonne ahlt.
»Abendessen!«, höre ich Schwester Lydia aus weiter Ferne rufen.
Verdammt, ich muss eingeschlafen sein! Mein erster Blick fällt zu Hermann herüber, doch der versucht mal wieder, seinen eigenen Lautstärkerekord im Schnarchen zu übertreffen. Mit letzter Kraft richte ich mich auf und stochere lustlos in den Rühreiern herum, die Schwester Lydia mir hingestellt hat. Aus dem Augenwinkel beobachte ich Hermann und hoffe, dass es ihm gelingt, sich unauffällig zu verhalten. Vielleicht lässt Lydia sein Tablett aus Zeitmangel einfach an seinem Bett stehen und kümmert sich nicht weiter um ihn.
»Herr Rauner! Hallo! Aufstehen! Abendessen!«, ruft sie ihm zu.
Ein lautes, langgezogenes Räuspern und Gurgeln, das aus den Untiefen einer Kanalisation stammen könnte, unterbricht sein Schnarchkonzert.
»Herr Rauner? Alles in Ordnung?«
Sie hat Lunte gerochen und bückt sich neugierig über ihn. Noch während sich seine Lider schwerfällig auftun, formen seine Lippen ein immer breiter werdendes Grinsen.
»Lydia, endlich bist du da. Deine Raketen sind meine Rettung, wa?«, piepst er mit lächerlich hoher Stimme.
Sie weicht geistesgegenwärtig zurück. Hätte sie das nicht getan, hätte Hermann sie an sich herangezogen, sein faltenschlagendes Gesicht in ihr Dekolletee gedrückt und sich wie ein Schwein in einer Schlammpfütze darin gesuhlt. Ein entsetztes »Herr Rauner!« ist das Letzte, was sie herausbringt, bevor sie im Laufschritt aus dem Zimmer eilt und mit lautem Knall die Tür hinter sich zuschlägt. Wenn das mal kein Nachspiel zur Folge hat. Hermann ist das alles momentan herzlich egal. Er reckt und streckt sich genüsslich wie ein Neugeborenes, das soeben aus einem unschuldigen Schläfchen erwacht ist. Es wird wohl noch etwas Zeit in Anspruch nehmen, bis er verstehen wird, was hier gerade abgelaufen ist – sofern er sich daran erinnern kann.