Читать книгу Arschloch mit Herz - Sebastian Blumenthal - Страница 5
1. Sonnenaufgang
ОглавлениеMeine Wimpern sind verklebt, das Blickfeld verengt und zu den Rändern hin verschwommen. Während der Nacht ist mir zäher Speichel aus dem Maul geronnen und hat seine klammen Spuren auf dem Kissenbezug hinterlassen. Ich sollte Dr. Frauner fragen, ob er mir etwas verschreibt, das mich am Morgen aufputscht. Er ist ja sonst auch nicht zimperlich mit dem Rezeptblock.
Ich muss mich zusammenreißen. Aufstehen, die Balance halten und inständig darauf hoffen, dass meine blassen, zitternden Beine die ihnen aufgezwungene Bürde tragen. Verdammter Scheißkörper! Aber was rege ich mich überhaupt auf und zerbreche mir den Kopf? Der Tag hat noch nicht einmal begonnen, und ich bin gezwungen, mir meine bescheidenen Kraftvorräte einzuteilen, sonst klappe ich womöglich schon am Mittag zusammen. Keine große Überraschung, dass ich spät dran bin, schon wieder. Wenn der Alte von meiner Verspätung Wind bekommt, wird er mich vor versammelter Mannschaft zur Sau machen, und die hochverehrten Kolleginnen und Kollegen werden sich nicht einmal die Mühe machen, ihre Schadenfreude auch nur ansatzweise zu verbergen. Diese dummen Schweine! Glauben die denn, dass irgendein Mensch auf der Welt morgens aufsteht und denkt, »Hey, schaut her! Heute werde ich nur so zum Spaß auf ganzer Linie versagen und mich mit voller Absicht in eine unvorteilhafte Lage bringen«? Aber das spielt offensichtlich keine Rolle, solange es was zu glotzen gibt, das von den eigenen Unzulänglichkeiten ablenkt.
Ausgezeichnet, die protzige Karre vom Alten steht noch nicht auf dem für ihn reservierten Parkplatz. So wie es aussieht, gibt es heute keine Showeinlage. Zumindest keine, die auf meine Kosten geht. Wenn ich mich geschickt anstelle, kann ich noch schnell die Arbeitsblätter kopieren, ohne einem der anderen »Leerkörper« zu begegnen.
»Guten Morgen, Nico! Bist wohl auch spät dran? Bist du gleich fertig am Kopierer? Ich muss noch schnell das Arbeitsblatt für die 6c kopieren.«
Fuck! Ausgerechnet Dorothea. Schon beim Hören ihrer Fistelstimme laufen mir kalte Schauer über den Rücken. Und dieses dumme Lächeln, das sie in jeder erdenklichen Lebenslage zu begleiten scheint. Mein Gott, jetzt wäre mir sogar eine gepflegte Abreibung vom Alten lieber, als mir von dieser faltenschlagenden Schabracke am frühen Morgen den letzten Nerv rauben zu lassen. Absolut rätselhaft, wie so ein selten dämliches Gesicht wie das von Dorothea entstehen kann. Als hätte sich ein Monchichi mit einem mongoloiden Idioten gepaart. Bumm! Neun Monate später erblickt Dorothea dumm grinsend das Licht der Welt. Tja, meine Gedankenwelt bewegt sich halt im politisch unkorrekten Bereich.
»Guten Morgen, Doro. Nein, ich brauche nicht mehr lange, der ist gleich durch, dann darfst du.«
Jede Wette, dass sie es nicht dabei belassen kann. Sie wird mir unter allen Umständen ein belangloses Gespräch aufs Auge drücken. Sie kann gar nicht anders als …
»Sag mal, Nico, hast du eigentlich die Geschichte mit dem Wegner mitbekommen? Dem soll es ja gar nicht gut gehen.«
Wegner, dieser arbeitsscheue Giftzwerg. Wen interessiert es schon, wie es dem Wegner geht? Der hat doch ständig was. Jetzt erwartet sie eine angemessene Antwort, um den Kopierer-Smalltalk nach den ungeschriebenen Gesetzen der belanglosen Unterhaltung fortzusetzen. Na schön, ich tue ihr den Gefallen, bin ja schließlich kein Unmensch.
»Ja, der arme Wegner. Was war es doch gleich? Die Bandscheibe?«
Oh mein Gott! Was tue ich hier? Bin ich noch bei Trost? Anstatt das Gespräch floskelhaft zu beenden, ziehe ich es unnötig in die Länge. Bravo Nico, du Depp! Jetzt geht das Spiel in die Verlängerung, dabei war ich meinem Ziel, dieses Desaster ohne Umschweife zu beenden, schon so nah. Ein kurzes »Ja, schlimm, aber muss los, bin spät dran« hätte doch vollkommen ausgereicht, um zu entkommen. Jetzt darf ich mir ihre Antwort anhören. Ja, da kommt sie schon. Genau, Dorothea, untermale dein belangloses Geschwafel mit deinen knochigen Händen. Das macht den drögen Monolog gleich interessanter. Und wie lustig das ökologisch nachhaltig hergestellte Holzarmband klackert, während du gestikulierst.
»… aber seine Frau unterstützt ihn auch, wo sie nur kann.«
»Ja, das wird schon. Ich bin mir sicher, er bekommt das bald wieder in den Griff. So, du kannst jetzt. Wir sehen uns in der großen Pause, bis später.«
Geht doch! Warum nicht gleich so? Gemein war es schon, den Kopierer auf hundert Kopien einzustellen, bevor ich mich vom Acker machte. In wenigen Sekunden wird sie hektisch auf und ab laufen, und der neue Kopierer, den sie nicht richtig bedienen kann, wird ohne jede Gnade Papier auskotzen. Doppeltseitig und geheftet. In welche Klasse muss ich eigentlich? War es die 9b oder die 9c? Ach, es ist ja erst Dienstag, also die 9c, was bedeutet, dass ich mich schnaubend in die dritte Etage quälen muss. Bevor ich die Stufen erklimme, gönne ich mir lieber noch schnell einen kleinen Schluck. Die große Thermoskanne ist, neben meinem Butterbrot und ein paar Stiften, ohnehin der einzige Grund, warum ich diesen lächerlichen Pilotenkoffer mit mir herumschleppe. Wow, ich war heute Morgen wirklich nicht ganz bei Sinnen. Die Mischung ist nicht von schlechten Eltern. Gut, dass keiner in der Nähe ist, der die Fahne riechen kann. Schnell runter mit dem Zeug, ist gut fürs Nervenkostüm. Viel hilft viel. Jetzt nur nicht nachlässig werden und den obligatorischen Pfefferminzdrops vergessen. Ach was, lieber zwei.
Fast fünfzehn Jahre lang dasselbe sadistische Spiel, und trotzdem übermannt mich noch immer das Lampenfieber, kurz bevor ich den Klassenraum betrete. Wobei, der Charakter der Aufregung hat sich im Verlauf der Jahre schon verändert. Am Anfang meiner Laufbahn war es noch eine Art von positiv gestimmter Neugier, ein erwartungsvolles Kribbeln im Bauch. Aber jetzt ist alles anders. Heute fühle ich mich beim Durchschreiten der Türschwelle wie ein Apnoetaucher. Exakt in dem Moment, in dem ich den Raum betrete, stockt mir der Atem, und ich versinke Schritt um Schritt in einer für meine Spezies lebensfeindlichen Umgebung. Überleben kann ich nur, wenn ich Ruhe bewahre, keine Schwäche zeige und mir keine groben Fehler unterlaufen. Es kommt auf jedes Detail an, um das labile Kartenhaus aus gespielter Selbstsicherheit nicht in sich zusammenfallen zu lassen. Der Rum im Kaffee hilft ein wenig dabei, die Anspannung im Zaum zu halten. Wie immer fällt mein erster Blick auf die von weißen Schlieren und altem Anschrieb übersäte Tafel, um anschließend für einen Moment auf dem zerkratzen Pult zu verweilen. Zeit, mich ein letztes Mal zu sammeln, ehe ich mich endgültig dazu überwinde, das erste Mal in die Menge zu blicken. Es ist der immer gleiche Moment, in dem sich mir der Magen umdreht und nur eine Frage der Zeit, bis ich mich inmitten des Klassenraums übergebe. Na klar, die dicke Erika kommt als Erste angerannt. Sie ist dermaßen unbeliebt, verzweifelt und einsam, dass sie sich als Einzige aufrichtig über mein Erscheinen freut – wenigstens eine Person, die ihr etwas Aufmerksamkeit schenkt, beziehungsweise berufsbedingt schenken muss. Abgesehen davon bleiben ihr zumindest die härtesten Attacken ihrer Mitschüler erspart, solange sie sich in meinem Dunstkreis aufhält. Und überhaupt, Erika, was für ein selten dämlicher Name! Als ob dieses debile Kind mit seinem Aussehen nicht schon genug gestraft wäre.
»Herr Tannenberger, der Justin hat heute Tafeldienst, aber er ist krank. Soll ich die Tafel für ihn putzen?«
Meine Fresse, kein Wunder, dass dich alle verachten! Wie kann man nur so unterwürfig sein? Fette Made! Hoffentlich quälen sie dich heute wieder in der Pause, wenn die Aufsicht nicht schnell genug zur Stelle ist.
»Mensch, Erika, das ist aber sehr aufmerksam von dir. Ja, wisch bitte die Tafel und setz dich anschließend auf deinen Platz.«
Sie gehorcht aufs Wort und beginnt umgehend mit dem Wischen. Was für ein beschissenes Durcheinander. Und dieser verdammte, nervtötende Lärm. Was fällt diesem ungezogenen Scheißhaufen bloß ein? Die haben doch alle längst mitbekommen, dass ich den Raum betreten habe, trotzdem schert sich niemand einen Dreck um meine Anwesenheit. Früher hatten es die Lehrer noch einfach. Eine bitterböse, versteinerte Miene und ein harter Rohrstock als deutlich erkennbares Zepter der Autorität reichten vollständig aus, um eine angemessene Arbeitsatmosphäre zu schaffen. Und wagte es jemand dennoch, aus der Reihe zu tanzen, muss das scharfe Zischen des Rostocks, kurz bevor sein Hieb die ausgestreckten Kinderhände zum Anschwellen brachte, wie Musik in den Ohren der Pädagogen geklungen haben. Was für eine wundervolle Komposition aus Zucht, Ordnung und Kindertränen das gewesen sein muss. Und heute? Heute bringen die Seminare den Lehrern nur noch unnützen, politisch korrekten Schwachsinn bei. Leblose Kopfgeburten, die alle Schüler zu individuellen Siegern erklären und höchstens auf dem Papier innenhalb einer akademischen Umgebung funktionieren. Stichwort »Classroom-Management«. Ich lach mich tot. Englische Worthülsen ohne jeden Realitätsbezug, die aber dafür umso wichtiger daherkommen, je inhaltsloser sie sind. Gebt der Belegschaft die Rohrstöcke zurück! Ihr werdet dann schon sehen, wie schnell sich die Pisa-Resultate zum Guten wenden.
Ach, sieh mal einer an. Die Dicke ist mit Tafelwischen fertig und steht jetzt regungslos vor mir. Sie gleicht einer stupiden Maschine, die man mit eindeutigen Instruktionen füttern muss, damit sie ihren Dienst tut.
»So, würdet ihr bitte eure Plätze einnehmen und still sein? Auch du, Erika. Der Unterricht hat begonnen. Jan, kannst du bitte kurz zusammenfassen, womit wir uns in der vorausgegangenen Unterrichtsstunde befasst haben?«
»Ja, also … wir haben uns irgendwas mit Dreiecken angeschaut oder so?«
Irgendwas mit Dreiecken. Geniale Zusammenfassung, eine Sternstunde der Trigonometrie. In wenigen Jahren wird China Europa bei lebendigem Leib verspeisen. Völlig zu Recht! Mal schauen, was Büsra beizutragen hat.
»Nun Jan, das war noch etwas lückenhaft, ging aber in die richtige Richtung. Büsra, kannst du mehr dazu sagen?«
»Ähm, ja. Wir haben uns, ähm, die Flächen angeschaut in Dreiecken oder um die Dreiecke herum? Die haben wir dann irgendwie ausgerechnet. Oder die Seiten der Dreiecke? Ähm, weiß nicht genau. Aber es hatte was mit Pita Gyros und einer Formel zu tun.«
Natürlich, großes Gelächter. Gut, sei’s drum. Das warʼs für heute. Ich habe genug und gebe auf. Immerhin, die ersten zehn Minuten sind um. Was macht es schon für einen Unterschied, ob ich unterrichte oder nicht? Klar, Hauptschule. Vermutlich befinden sich nicht gerade die kommenden Nobelpreisträger unter diesen von Pusteln übersäten Hormonzombies, aber irgendeinen nachweislichen Effekt muss die ganze Mühe doch mit sich bringen. Zumindest etwas, irgendetwas! Scheißegal, was mach ich mir Gedanken?! Da kann ich genauso gut versuchen, das Weltenergieproblem oder den Nahostkonflikt zu lösen. Kopien austeilen und hoffen, dass sich die Lautstärke im Verlauf der verbleibenden dreißig Minuten nicht allzu sehr hochschaukelt. Mehr kann ich jetzt auch nicht tun. Mein Kopf, mein armer Kopf. Ich brauche unbedingt einen kleinen Schluck aus der Thermoskanne.
»Ich muss ins Lehrerzimmer, um einige organisatorische Dinge zu klären. Ich verlasse mich darauf, dass ihr in einer angemessenen Lautstärke an den Aufgabenstellungen arbeitet.«
Klar, und morgen ist im Himmel Jahrmarkt.
Endlich, der verstimmte Dreiklang, der das Ende dieses Trauerspiels einläutet. Was ist zwischenzeitlich eigentlich gelaufen? Ich habe nicht auch nur den Hauch einer Ahnung, aber da alle das Klassenzimmer verlassen, scheint nichts Auffälliges passiert zu sein. Nur die dicke Erika schlängelt mal wieder ziellos durch das Klassenzimmer, um etwas Pausenzeit zu schinden. Eigentlich müsste ich noch das Klassenbuch pflegen, aber wenn Erika mitbekommt, dass ich sitzenbleibe, wird sie versuchen, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Soll sich der Nächste darum kümmern. Ihr hinterlasst mir vollgeschmierte Tafeln, ich hinterlasse euch leere Klassenbücher.
»Erika, Pause! Geh ein bisschen an die Luft«, scheuche ich sie hinaus.
Hoffentlich setzt sich im Lehrerzimmer nicht wieder der verschissene Referendar neben mich. Dem scheint immer dermaßen die Sonne aus dem Arsch, dass einem nur schlecht werden kann. Immer wenn er mich anspricht, kneife ich meine Augen zusammen und schiele ein wenig, um ihn und seine unerträglich blendende Arschsonne nur verschwommen wahrnehmen zu müssen. Da er mich noch nie anders zu Gesicht bekommen hat, hält er meine verkniffene Fratze vermutlich für das entstellende Resultat eines Schlaganfalls. Na? Wer kommt wohl heute angetrudelt, um mir die Pausenzeit zu versüßen? Da es keine feste Sitzordnung gibt, ist die Sitznachbarlotterie in vollem Gange und der Spannungsbogen erreicht allmählich seinen Scheitelpunkt. Hätte ich mir nicht eine viertel Valium zu meinem Kaffee gegönnt, wäre ich jetzt bestimmt ganz aufgeregt. Ach, da kommt der Hajo. Der ist recht erträglich, fast schon in Ordnung, mit dem Hajo kann ich ganz gut. Ein unaufgeregter Typ kurz vor der Pension. Meistens schweigt er für eine Weile, bevor er auf eine Frage antwortet. Aber leider hat er den Alten, Herrn Direktor Kortenbrock, im Schlepptau, und wenn der sich auch nur in meine Nähe setzt, verkommt meine Pause zur Dienstbesprechung. Der Alte ist ein Meister der Beherrschung. Der fällt nie aus der Rolle. Immer ernst, immer Schulleiter. Mensch ist er nur in seiner Freizeit, aber da bin ich mir auch nicht wirklich sicher. Vielleicht ist sein heimisches Arbeitszimmer genau wie sein Büro mit meterlangen, bunten Dienstplänen zugekleistert, zerstochen von kleinen Fähnchen, die haarklein festlegen, wer wofür im Haushalt zuständig ist. Und zum Frühstück, Mittag- und Abendessen bimmelt wohlmöglich eine eigens dafür installierte Klingel. Gebumst wird natürlich auch nur nach Plan und im 45-Minuten-Rhythmus. Hut ab, Herr Direktor, immer im Dienst. Ich drifte ab. Los, Nico, konzentrier dich, sonst fällst du noch auf. Es sieht tatsächlich danach aus, als ob der Alte mit dem Gedanken spielt, sich neben mich zu setzen. Er wirft mir einen kurzen, verheißungsvollen Blick zu, dem ich nicht schnell genug ausweiche. Ich könnte noch schnell anhand der freien Stühle ausrechnen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass er sich doch noch für einen anderen Platz entscheidet. Aber was würde das schon bringen? Vielleicht haben die Schüler recht, wenn sie sagen, dass Mathematik letztendlich vollkommen unnütz ist, und es keinen Sinn macht, sich dafür anzustrengen. Das wahre Leben ist ohnehin unberechenbar, viel zu komplex, um adäquate mathematische Lösungsansätze für seine verworrenen Herausforderungen zu finden. Da sitzt er nun, direkt zu meiner Rechten. Wie immer dunkle Stoffhose, unauffälliges Hemd und akkurat gebundene Krawatte ohne Muster. Alles von hoher Qualität. Der Führungskraft-Nahkampfanzug, dem so viel Autorität innewohnt, dass nur die mutigsten aller Untertanen es wagen, die Entscheidungen seines Trägers infrage zu stellen. Noch hat er mir keine Beachtung geschenkt, weil er sich mit Hajo über irgendwelche Vertretungspläne unterhält. Aber ich bin mir sicher, gleich wird er sich mir zuwenden. Zumindest scheint der Platz zu meiner Linken heute frei zu bleiben. Man muss sich auch über die kleinen Dinge im Leben freuen. Zu den kleinen Freuden des Lebens gehört ebenfalls, nach Schulschluss den richtigen Moment abzupassen, um es unbegleitet zum Parkplatz zu schaffen. Ein kräftiger Ruck, und die Autotür fällt mit blechernem Knall ins Schloss. Wenn niemand in Sichtweite ist, nehme ich mir manchmal etwas Zeit, um ächzend im durchgewetzten Sitz meines an unzähligen Stellen von Rost durchzogenen Fiestas zu versinken. Nach Stunden voller beklemmender Zwänge lasse ich die aufgestaute Körperspannung wie einen aufgescheuchten Vogelschwarm entweichen. Die lädierte Karosserie bietet Schutz und zieht eine klare Grenzlinie zwischen mir und der sich selbst zersetzenden Außenwelt. Sie gewährt mir Unterschlupf und gestattet mir, für einen kurzen Moment innezuhalten. Im Gegensatz zu mir scheint der Fiesta unzufrieden damit, den Schulhof verlassen zu müssen. Wie zum Trotz quietscht und knarrt er an allen Ecken und Enden, wenn ich ihn entgegen seiner Trägheit dazu zwinge, sich gemächlich in Bewegung zu setzen. Sobald die Reifen die Straße vor dem Schulgelände berühren, fällt mein geröteter Blick immer wieder in den Rückspiegel. Ich will sichergehen, dass das Schulgebäude wirklich zu schrumpfen beginnt, bis es endlich hinter der zweiten Kurve vollends verschwindet. Die gewonnene Freiheit nutze ich, um in sicherer Entfernung an einer Tankstelle zu halten. Tanken? Nicht nötig. Die Tanknadel verharrt im oberen Viertel der halbrunden Skala. Aber meine heimischen Alkoholreserven nähern sich dem Ende, daher nehme ich den kleinen Umweg gerne in Kauf.
In meiner Küche stapelt sich dreckiges Geschirr im Spülbecken, und während im Radio eine sonore Stimme gleichgültig von einer humanitären Katastrophe am Ende der Welt berichtet, glotze ich bräsig durch verdrecktes Glas in das diffus ausgeleuchtete Ofenrohr hinein. Geduldig beobachte ich, wie die flirrende Luft den unnatürlich gelben Analogkäse auf der Tiefkühlpizza in eine gestaltlose Fettlache verwandelt. Kaum zu glauben, wie frappierend der Unterschied zwischen der Abbildung auf der Verpackung und der schleimigen Realität in meinem Ofen ist. Die Kluft zwischen dem, was mir versprochen wurde, und dem, was ich letztendlich erhalten habe, lässt mich an die tristen Abende auf den Ü40-Partys denken, die ich gelegentlich aufsuche, wenn unvermeidbares Verlangen mich zum Sklaven meiner Triebe werden lässt. Ich muss schon seit Jahren wie Ü40 aussehen, obwohl ich erst vor einem Jahr die vierziger geknackt habe. Nach einem Ausweis hat mich jedenfalls noch keiner der Türsteher gefragt – zu meinem Glück – denn die verzweifelten Weiber, die sich von mir im Schutz der schummerigen Partybeleuchtung abschleppen lassen, haben es wirklich nötig. Leider sehen die meisten von ihnen ebenfalls nach dem Auspacken unappetitlich aus. Viele haben zudem völlig zu Recht Komplexe und bestehen darauf, das Licht zu dimmen. Im Idealfall bleibt es während der erbärmlichen fünfzehn bis zwanzig Minuten, in denen ich mich vergeblich verausgabe, völlig dunkel. Nach vollendetem Akt liegt die Enttäuschung auf beiden Seiten, und ich mache mich sofort aus dem Staub. Früher bin ich noch aus Anstand einige Stunden geblieben, aber seit der Episode mit der rothaarigen Nicole geht mir die Sache mit dem Anstand am Arsch vorbei. Ich war davon ausgegangen, dass es mit ihr endet, wie es immer endet. Ich verschwinde vor dem Frühstück, und sie stellt sich schlafend und lässt mich türmen, bevor es zu stillen Peinlichkeiten am Frühstückstisch kommt. Aber Nicole war anders. »Willst du denn jetzt schon gehen?«, fragte sie um halbsechs am Morgen. Unter allen Weibern, die ich je abgeschleppt hatte, war Nicole die Verzweifeltste von allen. Ende dreißig, mollig und bereit, alles an sich zu reißen, was sie hätte schwängern können. Die biologische Uhr im Hinterkopf, war sie besessen von dem Gedanken, eine Familie zu gründen. Egal wie, egal mit wem. Aber davon konnte ich natürlich damals nichts ahnen. Nicht einmal der lieblos mechanische, alkoholisierte Sex konnte sie davon abbringen, mich am nächsten Morgen davonschleichen zu lassen. Ich hatte nicht den Arsch in der Hose, um unfreundlich zu sein, also blieb ich zum Frühstück, bei dem sie ohne Punkt und Komma auf mich einredete, während ich ihr müde gegenübersaß und lustlos an meiner Schnitte Brot herumkaute. Das einzig Gute an ihr war die chromglänzende Siebträgermaschine, mit der sie einen wirklich guten Espresso zubereiten konnte. Das war ein überraschendes Highlight. Aber war ein ausgezeichnet aufgebrühter Espresso die ganze Sache wirklich wert? Heute weiß ich es natürlich besser. Noch am selben Abend rief sie an und ging mir auf die Nerven. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, ihr meine Nummer gegeben zu haben. Aber weiß der Teufel. Der Alkohol lässt einen die verrücktesten Dinge tun, für die man im Nachhinein teuer bezahlen muss. Sie hat dann täglich angerufen, häufig sogar mehrere Male, und mir die Mailbox vollgequatscht, wenn ich nicht abgenommen habe. Zu allem Überfluss hat sie auch noch meine Adresse herausgefunden und mir an einem Samstagmorgen vor der Bäckerei aufgelauert. Da hat sie mir dann eine Szene gemacht.
»Du bist mein Traummann, ich will doch mit dir zusammen sein! Wir könnten so glücklich sein! Nico, ich flehe dich an!«, flennte sie ohne jedes Schamgefühl in aller Öffentlichkeit, als wären wir zwei melodramatische Protagonisten einer südamerikanischen Telenovela.
»Wir haben doch nur einmal besoffen gevögelt, du blöde Kuh!«, schrie ich sie an. Die ganzen Leute waren mir in dem Moment scheißegal. Zumindest hatten die jetzt was am Frühstückstisch zu erzählen. Irgendwann gab sie endlich auf, doch es kostete mich ein halbes Jahr, bis ich mich wieder halbwegs unbeobachtet beim Verlassen meiner Wohnung fühlte. Wenn doch nur die unkorrigierten Klassenarbeiten genauso einfach verschwinden würden wie der nervige Rotschopf. Seit Wochen liegen die auf dem Wohnzimmertisch und zwingen mich, an den kommenden Schultag zu denken. Ich sollte endlich mit der Korrektur beginnen. Einige von den Arbeiten liegen schon verdammt lange auf dem immer größer werdenden Stapel. Ich brauche etwas Ablenkung und lasse die Arbeiten zugunsten der allseits beschworenen Work-Life-Balance einfach in einer Schublade verschwinden. Lieber genehmige ich mir einen kleinen Schluck. Schließlich ist es bereits fast fünf, das Entspannungsprogramm kann also ohne größere Gewissensbisse beginnen. Als kleine Beigabe zum Rum gönne ich mir etwas entspannten Jazz – und eine halbe Valium.
Auf dem Sofa liegend starre ich an die Decke und beobachte aufmerksam die Unregelmäßigkeiten im Putz, die sich langsam in Bewegung setzen, um sich nach und nach in einem chaotischen Rauschen zu vermengen.
»Nico, komm zu mir. Ich vermisse dich so sehr. Warum bist du gegangen, als ich dich am meisten brauchte?«
Annas Stimme klingt warm und vertraut, und obwohl ihr Vorwurf wie eine unüberwindbare Schlucht zwischen uns liegt, fühle ich mich unendlich zu ihr hingezogen. Ich sehe Anna deutlich vor mir stehen: wie eine karge Blume, die von Schwäche gekrümmt ihren Kopf zu Boden neigt. Blass, knochig und mit dunklen Ringen unter den tiefsitzenden Augen, die jeden Glanz vermissen lassen. Mein Atem geht schwer, auf meinem Brustkorb lasten zentnerschwere Felsen. Es ist unmöglich, mich länger gegen die aufkommenden Tränen zur Wehr zu setzen. Sie fluten meine Augen und ergießen sich, warme Spuren hinterlassend, über meine Wangen. Der bittere Schmerz, der mit Annas Erscheinen einhergeht, ist wie ein alter Bekannter. Nach all den Jahren, in denen er immer wieder zu mir zurückkehrt, hat er seine Kraft verloren. Er ist mir unnütz geworden und taugt nur noch dazu, mich mechanisch weinen zu lassen. Kein Geschluchze, kein jammervolles Wehklagen. Ich brauche ihn nicht mehr. Was ich brauche, sind Wind und Licht.
Der Herbst zeigt sich von seiner besten Seite, und ich schlendere leicht taumelnd entlang der grauen Schotterwege. Der Wald ist in bunte Farben getaucht, die Luft frisch, der Himmel klar. Meine glasigen Augen verstecke ich hinter einer großen Sonnenbrille, die mich wie ein Insekt aussehen lässt. Trotzdem senke ich meinen Kopf und blicke zur Seite, wenn mir dann und wann Spaziergänger entgegenkommen. Am Waldrand setze ich mich auf eine heruntergekommene Bank und betrachte die gegenüberliegenden Wiesen. Ich begebe mich in einen Standby-Zustand, löse mich von allen Gedanken und verschmelze mit dem Grün zu einer Einheit. Ich erreiche ein Höchstmaß an Achtsamkeit gegenüber der mich umgebenden Stille. Zen-Buddhisten brauchen jahrelange Übung, um diesen Geisteszustand zu erreichen. Mir genügt eine kleine Pille und etwas hochprozentiger Fusel von der Tankstelle. Doch der meditative Zustand scheint mir nicht vergönnt zu sein, denn das friedvolle Aufgelöstsein wird durch ein penetrantes Geräusch gestört. Es ähnelt dem immer stärker werdenden Ächzen einer anfahrenden Dampflokomotive. Genervt wende ich meinen Kopf nach rechts und entdecke in weiter Ferne einen unförmigen Klumpen, der sich mir zeitlupenartig nähert. Meine Neugier ist geweckt, und ich schaue trotz des grellen Lichts, gegen das selbst meine Sonnenbrille mit den stark verdunkelten Gläsern keine Chance hat, in Richtung des Klumpens. Als die unscharfen Umrisse endlich an Kontur gewinnen, fällt es mir schwer zu glauben, was ich zu sehen bekomme. Die dicke Erika! Ihr Körper hat sich in einen unvorstellbar geschmacklosen, viel zu großen Sportanzug aus neonroter Ballonseide gezwungen. Ihre braunen, stumpfen Haare hat sie zu einem strengen Zopf gebunden, was ihren ohnehin viel zu großen Schädel noch aufgeblähter wirken lässt. Mein Gott, was wird das? Was tut sie da? Ist es der verzweifelte Versuch zu … joggen? Egal, eines steht jetzt unwiderruflich fest: Sie hat mich trotz Freizeitkleidung und Sonnenbrille erkannt. Ihr angestrengter Blick weicht einem gequälten Lächeln, und sie hebt den rechten Arm, um zu grüßen. Die Mühe, ihren Gruß zu erwidern, mache ich mir nicht. Frei von jeder Emotion und neutral wie die Schweiz nicke ich kaum erkennbar zurück. Mit etwas Glück läuft sie einfach weiter, und ich kann in Ruhe dazu übergehen, den unästhetischen Fleischpudding aus meinem Kopf zu verdrängen.
»Hallo Herr Tannenberger!«, ruft sie mir nach Luft ringend zu.
»Grüß dich Erika, das ist ja eine Überraschung. Ich wusste gar nicht, dass du Sport treibst.«
Klar, dass sie jetzt stehen bleibt.
»Ich versuch abzunehmen, Herr Rausch sagt auch, dass Sport hilft.«
»Herr Rausch?«, hake ich nach. Warum bloß?
»Herr Rausch, mein Betreuer.«
Stimmt, in einer der letzten Konferenzen wurde erwähnt, dass Erika vor einigen Monaten in einem Heim untergebracht wurde. Ihre leibliche, alleinerziehende Mutter hatte schwerwiegende Probleme. Obwohl mich Erikas privates Schicksal nicht sonderlich interessiert – jeder hat schließlich sein eigenes Päckchen zu tragen – tut sie mir schon ein bisschen leid, jetzt wo sie so unvermittelt vor mir steht. Während sie noch immer auf mich einredet und dabei angestrengt um Luft ringt, läuft ihr Schweiß von der Stirn in die Augen, und sie wischt unentwegt mit ihren fleischigen Fingern im oberen Drittel ihres klobigen Kopfes herum.
»Und was machen sie hier? Sitzen Sie auf der Bank?«
Nein, Erika, ich stimme ein Klavier! Was für eine dämliche Frage. Typisch Erika.
»Ach, ich dachte, ich könnte frische Luft gebrauchen und war etwas spazieren. Jetzt gönne ich mir eine kleine Pause und genieße das schöne Herbstwetter.«
»Das ist schön für Sie. Ich muss jetzt weiter, sonst komme ich zu spät zum Abendessen. Und wenn ich mich nicht an die Regeln halte, bekomme ich bestimmt Ärger. Bis morgen, Herr Tannenberger.«
Wortlos beobachte ich, wie sich der schwere Leib in Bewegung setzt. Es dauert gefühlte Ewigkeiten, bis er endlich an nennenswerter Distanz gewinnt. Der gesamte Bewegungsablauf gleicht einem albtraumartigen Fluchtversuch, bei dem es unter größter Anstrengung einfach nicht gelingen will, von der Stelle zu kommen. Weil ich gar nicht anders kann, starre ich ihr noch eine Weile hinterher. Abendessen hatte ich schon, und niemand ist da, der mir Ärger androht, wenn ich zu spät auftauche. Am liebsten würde ich noch etwas sitzen bleiben und die Ruhe genießen, aber die Begegnung mit Erika stört meinen inneren Frieden. Der stille Ort ist für die nächsten Tage, wenn nicht sogar Wochen, durch Erikas Anwesenheit kontaminiert. Wie könnte ich entspannt auf der Bank sitzen, wenn ich damit rechnen muss, sie könnte jederzeit erneut auftauchen?