Читать книгу Der Aktionskreis Halle - Sebastian Holzbrecher - Страница 35
3.3Themen, Stellungnahmen, Positionen
ОглавлениеEin Großteil der historisch verifizierbaren Arbeit des AKH hat sich in den Vollversammlungen und Rundbriefen vollzogen. Ausgehend von der Struktur und Organisation des Kreises ist jedoch darauf zu verweisen, dass die thematische Orientierung vorwiegend von Impulsen des AKH-Sprecherkreises getragen war.
Die anfangs vierteljährlich abgehaltenen Vollversammlungen des Aktionskreises fanden in den Räumen der KSG Halle, den Pfarreien Heilig Kreuz und St. Marien in Halle Silberhöhe638 sowie vereinzelt in Häusern der evangelischen Kirchen639 statt. Nach der „Denkpause“ 1978 fand sich der Aktionskreis nur noch zweimal jährlich zu einer Frühjahrs- und einer Herbstvollversammlung zusammen. Als regelmäßiger Treffpunkt Gleichgesinnter, offenes Diskussionsforum, Anlaufstelle für Interessierte und Kirchenkritiker, Bezugspunkt der Arbeitsgruppen und beschlussfassendes Organ stellten die Vollversammlungen nicht nur ein strukturelles und inhaltliches Kernelement des AKH dar. Sie waren zugleich Refugien einer erlebten Freiheit, die man in Staat und Kirche einforderte. Die mehr als 50 Vollversammlungen bis 1989 dienten im ostdeutschen Diasporakatholizismus daher nicht zuletzt der persönlichen Kommunikation und Vernetzung von Mitarbeitern und Sympathisanten. Die Veranstaltungen fanden stets an Wochenenden statt und dauerten zumeist von Freitagabend bis Samstagnachmittag. Eingeleitet durch einen Gottesdienst am Samstagmorgen, wechselten sich Vortragseinheiten von AKH-internen oder externen Referenten mit Sitzungen von Arbeitsgruppen und Diskussionsgruppen ab. Die Vollversammlungen wurden entweder mit dem Beschluss von Erklärungen oder konkreten Arbeitsanweisungen für den Sprecherkreis beendet. Seit 1975 wurde der Freitagabend gelegentlich für eine interne Mitgliederversammlung ohne Gäste genutzt, um die Ausrichtung und weitere Arbeit des Kreises zu besprechen.640
Eine zweite Säule der Tätigkeit des AK Halle stellte der regelmäßige Versand der eigenen Rundbriefe dar.641 In der bundesdeutschen Kirche existierte durch die Vielzahl der Solidaritäts- und Priestergruppen ein breites Spektrum derartiger Publikationsorgane.642 Der Rundbrief des AKH war, nachdem der Evangelisch-Katholische Briefkreis von Karl Herbst und Günter Loske 1971 die Arbeit auf bischöfliches Drängen hin einstellen musste643, die einzige aus privater Initiative hervorgehende und überregional versandte katholische Publikation in der DDR. Neben dem von der BOK/ BBK im Auftrag herausgegebenen „Theologischen Bulletin“ (1968-1990)644 und dem „Theologischen Jahrbuch“ stellte er eine nicht unbedeutende Möglichkeit dar, auch an kirchenkritische Beiträge und Informationen zu gelangen. Vor allem die Veröffentlichung von Aufsätzen und Positionen bundesdeutscher Autoren und Gruppierungen, u.a. von Heinrich Böll645, Walter Dirks646, Erich Fromm647, Helmut Gollwitzer648, Norbert Greinacher649, Hubertus Halbfas650, Wolfgang Huber651, Hans Küng652, Johann Baptist Metz653, Jürgen Moltmann654, Karl Rahner655, Dorothee Sölle656, Luise Schottroff657 sowie von den Zeitschriften Imprimatur658 und Publik Forum659, ließen den AKH-Rundbrief zu einem weit verbreiteten und zugleich kritischen Informationsträger für den seit 1961 eingemauerten ostdeutschen Katholizismus avancieren. Die Informationssendungen hatten es sich auch zur Aufgabe gemacht, Themen und Berichte aufzunehmen, die auf anderem Weg nicht in der DDR publiziert wurden, so zum Beispiel die Kölner Erklärung von 1989.660 Die überwiegend aus bundesdeutschen Zeitschriften („Concilium“, „Diakonia“ und der „Herder-Korrespondenz“) übernommenen Artikel und Berichte waren dem kirchenkritischen Grundtenor des AK Halle verpflichtet und unterschieden sich daher von der offiziellen Kirchenpresse in der DDR.661 Unter Nutzung einer rechtlichen Grauzone - lediglich der Druck und Versand sogenannter interner Unterlagen war in der DDR von der strikten und eng limitierten Druckverordnung ausgenommen - verschickte der Aktionskreis seine Rundbriefe mit dem Vermerk „Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch“. Über das allgemeine Informationsinteresse hinaus verfolgte der Sprecherkreis mit dem Versand der Briefe noch weitere Motive. Die Sendungen waren mitunter als „Ferienlektüre“662 angelegt oder sollten eine „bescheidene Weihnachtsgabe auf dem Postweg zustellen“663. Als entscheidenden Beweggrund betonte der Sprecherkreis mehrfach, dass er mit den Briefen die Absicht verfolge, „eine Plattform zu legen für die Beiträge und Gespräche auf“664 den Vollversammlungen. Er bat deshalb die Empfänger: „Lesen Sie diese Texte zur Vorbereitung auf diese Zusammenkunft, diskutieren Sie sie mit anderen Christen in Ihrer Gemeinde und in Gesprächskreisen. Und: Bringen Sie bitte Erfahrungen, Erlebnisse und Ergebnisse eigener Bemühungen nach Halle mit, damit wir sie dort untereinander austauschen können.“665 Als ostdeutsches Spezifikum gilt zu beachten, dass die ständige Papierknappheit und die äußerst geringe Versorgung mit Kopiergeräten die Erstellung dieser Publikationsorgane in nicht unerheblichem Maß beeinflusste. Dem Sprecherkreis oblag es daher nicht nur die für die Erstellung der Rundbriefe notwendigen Kopiermaterialien aus Westdeutschland zu organisieren.666 Auch die aufwendige mechanische Herstellung der Informationssendungen fiel in seinen Aufgabenbereich. Die zu veröffentlichenden Artikel und Informationen mussten recherchiert und aus den überwiegend bundesdeutschen Quellen auf einer Schreibmaschine abgetippt werden, um anschließend im Nienburger Pfarrhaus mittels einer „Ormig-Vervielfältigung“667 aufwendig per Hand kopiert zu werden. Zum Schutz der Kopier-Maschine vor geheimpolizeilichen Konfiszierungen wurde der Apparat unter dem Altar, versteckt durch das Altartuch, aufbewahrt. Bei einem Umfang von durchschnittlich circa 15 Seiten pro Rundbrief, einer Auflage von 350 bis 500 Exemplaren und einer Frequenz von durchschnittlich fünf Sendungen pro Jahr stellte die freiwillige und unentgeltliche Bereitstellung dieser Informationsquelle eine enorme Leistung dar.668
Die Themenvielfalt der bis 1989 insgesamt mehr als 110 AKH-Rundbriefe ist für das vergleichsweise kleine Redaktionsgremium beachtenswert. Der Sprecherkreis und das Redaktionsgremium rezipierten nationale und internationale kirchliche, theologische, gesellschaftliche und politische Entwicklungen und setzten sich mit den sich daraus ergebenden Sachfragen und Streitfällen kritisch und konstruktiv im Sinne der Grundsatzerklärung auseinander. Ihre vollständige Darstellung würde bei Weitem den Rahmen dieser Analyse sprengen. Systematisiert man die über 200 Artikel und Beiträge der Rundbriefe nach inhaltlichen Kategorien, lassen sich vier Hauptgruppen unterscheiden: gesamtkirchliche Themen, kirchliche Fragen und Konflikte in Ostdeutschland, gesellschaftliche Problemfelder und theologische Auseinandersetzungen.669 Als Themen mit gesamtkirchlichem Horizont widmete man sich der „Mischehenregelung“ (1970), der Frage nach einem „Grundgesetz der Kirche“ (1971) sowie der römischen Auseinandersetzung mit dem Fall Hans Küng (1980). Kirchliche Fragen und Konflikte, die konkret auf die ostdeutsche Situation Bezug nahmen, waren neben der Bischofsernennung (1970) die postkonziliare Etablierung der Rätestrukturen (1974), das Themenfeld der Gemeindetheologie (1971-1976), die Dresdner Pastoralsynode (1970-1975), die Zölibatsdiskussion (1976), die Konzilsrezeption(1975/76), die kirchliche Friedensdiskussion in den 1970er und 1980er Jahren sowie schließlich die ökumenische Situation in der DDR (1974-1989). Als gesellschaftsrelevante Problemfelder fokussierte der Aktionskreis Halle vor allem auf die kritische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus und Sozialismus sowie auf die Frage nach dem gesellschaftlichen Engagement der Kirche (1973), was ihn nicht zufällig in Opposition zum bischöflichen Kurs der „politischen Abstinenz“ unter Kardinal Bengsch brachte. In den 1980er Jahren konzentrierte er sich offensiv auf die Problematik der zunehmenden Abwanderung aus der DDR (1984) und auf die sich ausbreitende Frage nach der Ökologie und den ethischen Implikationen. Als explizit theologische Fragestellungen widmete sich die Hallenser Gruppe vor allem und wiederkehrend der Gemeindetheologie (1971/74/76) und dem Verhältnis von Amt und Gemeinde (1977/78). Als eher randständig ist die Beschäftigung mit der Feministischen und Schwarzen Theologie (1982) zu bezeichnen, wohingegen eine Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Engagement der Kirche in der DDR 1973 mit einem deutlichen Interessenzuwachs an der von Lateinamerika ausgehenden Befreiungstheologie korrespondierte. Während sich spirituelle Anleihen in den Rundbriefen kaum finden, sind liturgische Überlegungen hinsichtlich der kirchlichen Bußfeiern wesentlich stärker ausgeprägt.
Grundsätzlich betrachtet lässt sich eine Dominanz innerkirchlicher Inhalte konstatieren, wenngleich es durchaus zu temporär unterschiedlichen Akzentsetzungen und zur Vermischung kirchlicher und gesellschaftlicher Themen kam. Im Vergleich zu den Fragen und Themen bundesdeutscher Gruppen wird zumindest in den 1970er Jahren eine teilweise Parallelität der Auseinandersetzungen deutlich, sodass es durchaus gerechtfertigt erscheint, von einem Ost-West-Thementransfer zu sprechen.670 Wichtig ist allerdings darauf hinzuweisen, dass es der AKH nicht bei der bloßen Informierung durch die Rundbriefe beließ. In eigenen Stellungnahmen, die auf den AKH-Vollversammlungen erarbeitet und demokratisch autorisiert wurden, bezog der Aktionskreis selbst Position und erhob Forderungen gegenüber den Bischöfen und der Kirche. Hier sind die Positionspapiere zur Bischofswahl und zur Mischehenregelung zu nennen. Innerhalb des Themenspektrums des Aktionskreises Halle stechen drei Themen sowohl quantitativ als auch qualitativ besonders hervor: die Dresdner Pastoralsynode, die ostdeutsche Friedensdiskussion und nicht zuletzt das Themenfeld Ökumene. Das Entscheidende dieser drei Themen ist die Verbindung von innerkirchlichen Reformanliegen und gesellschaftsorientierter Ausrichtung der katholischen Kirche in der DDR und wird daher eigens erörert.