Читать книгу Und waren voll Trauer und Sehnsucht - Sebastian Kreuz - Страница 6
2. Kapitel: Die Frau in der Mitte (Jesus und die Ehebrecherin)
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Kapitel 8
1 Jesus aber ging zum Ölberg.
2 Und frühmorgens kam er wieder in den Tempel, und alles Volk kam zu ihm, und er setzte sich und lehrte sie.
3 Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten eine Frau, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte
4 und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden.
5 Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du?
6 Das sagten sie aber, ihn zu versuchen, damit sie ihn verklagen könnten. Aber Jesus bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde.
7 Als sie nun fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.
8 Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde.
9 Als sie aber das hörten, gingen sie weg, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand.
10 Jesus aber richtete sich auf und fragte sie: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt?
11 Sie antwortete: Niemand, Herr. Und Jesus sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.
(zit. n. Luther Bibel 1984)
Markus Evangelium
Kapitel 10
1 Und er machte sich auf und kam von dort in das Gebiet von Judäa und jenseits des Jordans. Und abermals lief das Volk in Scharen bei ihm zusammen, und wie es seine Gewohnheit war, lehrte er sie abermals.
2Und Pharisäer traten zu ihm und fragten ihn, ob ein Mann sich scheiden dürfe von seiner Frau; und sie versuchten ihn damit.
3 Er antwortete aber und sprach zu ihnen: Was hat euch Mose geboten?
4 Sie sprachen: Mose hat zugelassen, einen Scheidebrief zu schreiben und sich zu scheiden.
5 Jesus aber sprach zu ihnen: Um eures Herzens Härte willen hat er euch dieses Gebot geschrieben;
6 aber von Beginn der Schöpfung an hat Gott sie geschaffen als Mann und Frau.
7 Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und wird an seiner Frau hängen,
8 und die zwei werden ein Fleisch sein. So sind sie nun nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch.
9 Was nun Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.
10 Und daheim fragten ihn abermals seine Jünger danach.
11 Und er sprach zu ihnen: Wer sich scheidet von seiner Frau und heiratet eine andere, der bricht ihr gegenüber die Ehe;
12 und wenn sich eine Frau scheidet von ihrem Mann und heiratet einen andern, bricht sie ihre Ehe.
(zit. n. Luther Bibel 1984)
Schwieriges Bibelverständnis
Der Theologe Eugen Drewermann hat einmal das rechte Verstehen der Bibel mit der Lektüre einer Zeitung verglichen. Der geübte Zeitungsleser kann sich leicht orientieren und weiß auch ohne journalistische Vorkenntnisse zwischen Bericht und Kommentar zu unterscheiden, weil die Zeitungsredaktion die Bestandteile vorsortiert und an bekannter Stelle platziert. Auch für den Anzeigenteil, das Kreuzworträtsel und den unterhaltenden Teil sind die Unterbringungsorte unmissverständlich ausgewiesen. Die Bibel macht es uns da weniger leicht. Was ist Historie, wann wird ein Märchen erzählt, wann ein Kommentar nachträglich in eine Geschichte gewebt, ein Plagiat in einen neuen Zusammenhang gestellt? Wann macht Jesus einen Witz? Ja, noch nicht einmal der Verfasser des jeweiligen Buches oder Kapitels ist wirklich bekannt. Die Namen der Evangelien verraten nicht die tatsächlichen Autoren.
Jahrhundertelang war den Menschen die eigene Lektüre der Bibel nicht möglich. Das brachte der Amtskirche den entscheidenden Vorsprung: Es erlaubte ihr nicht nur die alleinige Auswahl aus dem Schatz der Offenbarungsliteratur, sondern gab ihr zugleich die Deutungshoheit über das Verkündete. Heute, wo jedermann sich die eigene Lektüre leisten kann und unüberschaubar viele Kommentare zur Verfügung stehen, ist das Verstehen keineswegs einfacher geworden. Ja, gerade die wissenschaftliche Aufbereitung überfrachtet, macht uns ratlos, unschlüssig und zweifelnd und versperrt oft den Weg zum Kern der Geschichte. Auch wer als Mensch der Gegenwart nicht glauben mag, dass die biblische Literatur durch Gott gewirkt entstanden ist und als „Offenbarung“ gelten kann, wird die Zeitlosigkeit von Altem und Neuem Testament immer dann spüren, wenn ein Interesse an den dort erzählten Geschichten entsteht und man sich in seinem Menschsein wiederfindet.
Wer die Person Jesu und seine Lehre verstehen will, muss lernen, die großartigen von den eher dem Zeitgeist geschuldeten Wundern zu unterscheiden. Die „flachen“ Wunder wie der Gang auf dem Wasser oder die Verwandlung von Wasser in Wein hatten dereinst die Aufgabe, für die neue Religion zu werben und nach „Beweisen“ verlangende Gemüter von der Großartigkeit des Menschensohnes zu überzeugen. Oder einfach nur um zu zeigen, was der Glaube bewegen kann. Dem modernen Christen sagen sie nicht viel, deshalb muss bei Sonntagspredigten weit ausgeholt und viel theologischer und psychologisierender Aufwand betrieben werden, um es über die Jahrtausende in die Gegenwart zu retten.
Jesus wird mit einer Frage der Sexualmoral auf die Probe gestellt.
Eine zeitlose, da radikal gegen den Zeitgeist gerichtete, und überwältigend wundersame Geschichte findet sich im Johannes-Evangelium und erzählt von Jesu Begegnung mit einer Ehebrecherin. Vor diesem Zusammentreffen begegnen wir dem Protagonisten in einer schweren Krise. Anhänger zweifeln, Weggefährten verlassen ihn enttäuscht, seine Lehre provoziert Widerspruch und öffentlichen Aufruhr, ja sein Leben scheint in Gefahr. Zu Wundern, die Zweifel beseitigen könnten, ist Jesus nicht aufgelegt. Überhaupt zieht er sich bei schweren Prüfungen prinzipiell nicht durch Wunder aus der Affäre, koste es auch das Leben.
Seine Lehre bleibt schwer verständlich – damals wie heute. Zu den Menschen spricht er in Rätseln. Niemand versteht genau, was gemeint ist, wenn er über sein Verhältnis zu dem, der ihn gesandt hat, spricht. Die Situation ist angespannt, doch wagt keiner, Hand an ihn zu legen, selbst die Häscher der Pharisäer und Hohepriester kehren unverrichteter Dinge zurück.
Die Eskalation findet vorerst nicht statt. Jeder geht heim und Jesus verbringt die Nacht auf dem Ölberg, ein heiliger Ort in der Nähe von Jerusalem, von dem aus nach jüdischer Vorstellung dereinst der Messias zum Jüngsten Gericht ziehen wird. Was nun folgt, ist in den ältesten Fassungen des Johannes-Evangelium noch nicht enthalten. Es wurde nachträglich eingefügt. Aber anders als sonstige Nachträge spiegelt es weniger den Geist und die Intentionen der historischen Situation wider, in der sich die christliche Gemeinde zum Zeitpunkt der Korrektur oder Ergänzung befindet. Es zeigt Jesus in seiner ureigenen und einsamen Rolle als Freund der Frauen: „der erste und der letzte Freund der Frauen“ in der Geschichte des Christentums, wie die Theologin Uta Ranke-Heinemann einmal bemerkt hat.
Was aber erzählt das 8. Kapitel des Johannes-Evangeliums? Frühmorgens lehrt Jesus wie tags zuvor schon im Tempel. Diesmal aber stellen ihm seine Widersacher eine Falle, die uns zunächst an die Geschichte mit der kaiserlichen Steuer in den drei synoptischen Evangelien erinnert. Damals richteten die Pharisäer in der Hoffnung, Jesus werde sich zu einer politischen Inkorrektheit hinreißen lassen, an ihn die Frage, ob es dem Weg Gottes entspräche, dem Kaiser, einem heidnischen zumal, Steuern zu entrichten. Jesus zieht sich klug aus der Affäre mit dem Verweis auf das den Münzen aufgeprägte Bildnis des Kaisers: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist. Dass Theologie dereinst daraus die Lehre von der politischen Untertänigkeit eines Christenmenschen basteln würde, konnte Jesus zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen. Während Luther die Weltlichkeit der Ehe nicht entgangen ist, hat er den noch weltlicheren Ursprung politischer Herrschaft glatt geleugnet und ihr – anders als Jesus – einen göttlichen Ursprung verschafft.
Wie dem auch sei, mit feinsinniger Ironie einer Sowohl-als-auch-Lösung kann sich Jesus dieses Mal nicht gegen die Widersacher behaupten. Die Schriftgelehrten stellen ihn vor eine harte Entweder-Oder-Entscheidung und haben das Objekt der Entscheidung direkt mitgebracht: eine Frau, die „auf frischer Tat“ beim Ehebruch ergriffen worden ist.
Jesus verweist auf die Erde.
Jesus soll Stellung beziehen zum Gebot Mose, solche Frauen zu steinigen. Die Herausforderer wissen, dass die Bestätigung der Hinrichtung ihn in Widerspruch zu seiner auf Liebe und Toleranz gründenden Lehre, insbesondere gegenüber den Frauen, bringen werde, eine Zurückweisung sich aber gegen das mosaische Gesetz, gültiges jüdisches Recht also, richte. Jesus lässt sich auf keine rechtlich-theologische Diskussion ein, so wie manche späteren Kommentatoren, die mit Hinweis auf Kapitel 22 des 5. Buches Mose gerne darauf verweisen, dass auch dem männlichen Mittäter die Steinigung droht – offenbar in der Absicht, der Ehebrecher-Geschichte die spezifisch weibliche Komponente zu nehmen und Jesu Eintreten als geschlechtsneutralen Kampf gegen eine barbarische Strafpraxis darzustellen. Doch darum geht es in der Episode nicht, ein unzüchtiger Komplize der Ehebrecherin kommt nicht vor; eine einsame Frau steht einer großen Männerschar gegenüber - und dazwischen ein einsamer Jesus, der für die eine oder andere Seite Partei ergreifen muss.
Er bleibt zunächst eine Antwort schuldig, bückt sich und schreibt „mit dem Finger auf die Erde“. Was er notiert, erfährt man nicht. Die Fallensteller lassen nicht locker und bohren hartnäckig weiter. Jetzt richtet Jesus sich auf, und wieder ist es wie schon in der Steuergeschichte ein einziger Satz, der die Heuchler entwaffnet: „Wer unter Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie“. Dann wendet er sich wieder der Erde und seiner Schreibarbeit zu, so als sei alles Wesentliche gesagt. Die Menge – derart entlarvend mit ihrer Selbstgerechtigkeit konfrontiert - löst sich auf, und die „Frau in der Mitte“, so heißt es wörtlich, und Jesus bleiben zurück. Eine Szene wie aus einem Western, in dem der aufgebrachte Mob – einer nach dem anderen – das Feld räumt und den Hauptdarstellern die Bühne überlässt. „Wo sind sie“, fragt Jesus die Frau, „hat Dich niemand verdammt?“ Sie bestätigt: „Niemand, Herr.“ Die zwei kurzen Sätze Jesu, die darauf folgen und die Episode beenden, bringen bis heute die Moraltheologen in höchste Verlegenheit und sind höchst irritierend. Die von der Meute unterlassene Verurteilung nimmt Jesus zum Anlass, seinerseits auf Verdammung und Strafe zu verzichten: „So verdamme ich Dich auch nicht.“ Kein Schuldspruch, keine Buße, keine Moralpredigt über eheliche Treue. Noch nicht einmal das Delikt, wegen dem die Frau kurz vor der Hinrichtung stand, wird beim Namen genannt. „Und sündige hinfort nicht mehr!“ Mit diesem sehr allgemein gehaltenen Schlusswort, das auch lauten könnte: Mach’ s gut, endet die Geschichte mit der „Ehebrecherin“.
Ein Freispruch erster Klasse!
Die Überschrift, die der Geschichte - vom Spätmittelalter - vorangestellt wurde, „Jesus und die Ehebrecherin“, suggeriert, dass es um die Milde Jesu gegenüber einer sündigen und von anderen bereits vorverurteilten Person geht. Doch es steckt weit dahinter mehr als Verzicht auf Strafe, als Güte, Nachsicht, Offenlegung von Heuchelei und Abkehr von Selbstgerechtigkeit und Doppelmoral.
Die Geschichte wirft für den unvoreingenommenen Leser, der sich nicht vorschnell von gelehrter theologischer Deutung überfahren lässt, drei Fragen auf.
1. Warum lassen sich Pharisäer mit nur einem einzigen Satz von ihrem Vorhaben der tatsächlich rechtmäßigen und nach ihrer Meinung sogar pflichtgemäßen Steinigung abbringen?
2. Warum kniet sich Jesus vor der entscheidenden Erwiderung hin, beschreibt den Boden und wiederholt die Prozedur nach dem entwaffnenden Satz?
3. Warum entlässt er die Frau, ohne auch nur die Andeutung einer Verurteilung auszusprechen oder den Hauch einer Sühneleistung einzufordern?
Die erste Frage lässt sich leicht aus dem Kontext der Ereignisse heraus beantworten. Besonders versessen auf die Steinigung sind die anwesenden Pharisäer offenbar nicht, sonst würden sie nicht so schnell von ihrem Vorhaben ablassen. Es geht ihnen, so verrät uns der Beginn der Erzählung, vorrangig um die Bloßstellung des unbequemen Predigers und weniger um die Verurteilung der untreuen Ehefrau. Die Konfrontation mit dem mosaischen Sexualrecht ist nicht die erste und letzte Falle, die dem charismatischen Jesus, bekanntermaßen kein Freund eines buchstabengetreuen Rechtsverständnisses, gestellt wird. Wann endlich wird er das Unbedachte aussprechen, den Bruch mit der jüdischen Tradition sichtbar machen oder gegen Pflichten des römischen Untertanen verstoßen? Doch Jesus lässt seine Widersacher erneut ins Leere laufen, indem er die direkte Antwort meidet und die Heuchelei der Fallensteller geschickt entlarvt. Mit keinem Wort lässt er sich auf die Frage ein, wie mit einer Ehebrecherin zu verfahren sei, und stellt stattdessen die moralische Qualifikation der Ankläger in Frage. Die derart Bloßgestellten geben sich geschlagen, wohl wissend, dass sie selbst in die aufgestellte Falle getappt sind. Sie ziehen von dannen und lassen von einer Hinrichtung ab, an der ihnen von Beginn an nicht viel gelegen war. Wie wir aus dem Fortgang der Geschichte Jesu wissen, sind sie nicht von ehrlicher Einsicht in die Unhaltbarkeit des eigenen Tuns geleitet. Sie werden auf eine neue, bessere Chance warten, den Störenfried zu packen. Jesus soll im Kontext von Recht und Gesetz überführt werden, aber nicht Opfer von Willkür und geschürtem Volkszorn werden. Es muss ein im Sinne jener Zeit rechtsstaatliches Verfahren werden.
Für die Pharisäer ist Jesus die zentrale Figur, für den Erzähler der Geschichte aber ebenso die Frau, die „in der Mitte“ steht, umgeben von lauter Männern.
Zunächst hat es den Anschein, als reagiere Jesus auf die Aufforderung, sich zum rechtlichen Umgang mit einer Ehebrecherin zu äußern, verlegen, als wolle er mit Niederknien und unbestimmter Schreibübung Zeit gewinnen. So wie Schüler mit ihrem Schreibgerät hantieren, wenn sie nicht weiter wissen. Doch er wiederholt das Ritual nach der Kurzansprache. Erst als die Pharisäer verschwunden sind, richtet sich Jesus erneut auf und wendet sich der Frau zu. Der Text der Schreibtätigkeit, wenn denn überhaupt einer entstanden ist, scheint nicht von Bedeutung zu sein. Der Berichterstatter hat keine Kenntnis von in den Boden geschriebenen Worten und enthält sich jeder Hinzufügung. Unzweifelhaft ist der Vorgang des Beschreibens der Erde entscheidend. Es ist übrigens das einzige Mal in allen Evangelien, das von einer Schreibtätigkeit Jesu berichtet wird. Schreibunterlage und Schreibwerkzeug könnten elementarer nicht sein: Erde und Finger.
Jesus ignoriert zunächst die an ihn gerichtete Frage und lenkt die Aufmerksamkeit dorthin, wo er das Problem verortet: auf die Erde, den Ursprung und das Fundament menschlichen Daseins. Nicht eine spezifische Sünde ist durch den vermeintlichen Ehebruch berührt, sondern die Grundlage menschlicher Existenz. Erde (adama) und Mensch (adam) gehören im Hebräischen etymologisch zusammen. In Jesu Ansprachen wird ständig Bezug genommen auf die alten Schriften, die uns als Altes Testament bekannt sind. Meist gemäß dem Muster von Ankündigung in der Überlieferung und Erfüllung in Gestalt von Jesu Leben und Wirken. Jetzt spricht er nicht (wie im Markus-Evangelium) vom Mythos des Anfangs, sondern verweist auf das Material, aus dem der Mensch geschaffen ist. Die Teilnehmer der Szenerie reagieren auf die Ansprache, aber sichtbar nicht auf die Schreibtätigkeit, der Berichterstatter enthält sich jeder Kommentierung. Die Worte Jesu zwischen den beiden gleichförmigen Ritualen („Wer von Euch ohne Schuld ist …“) sind für die die Beschreibung des Bodens nicht erhellend.
Das Wunder der Errettung, das der Frau zuteil wird, wird nur durch den Verweis auf den paradiesischen Mythos, das erdene Fundament von Leben und Liebe, verständlich. Die Umwandlung eines sicheren Todesurteils in einen Freispruch erster Klasse - nicht der Mangel an Beweisen oder die Nachsicht der Ankläger, sondern die Haltlosigkeit der Anklage im Angesicht der Erde! - führt zum Abbruch der Verhandlung.
Es lohnt sich deshalb, die Rolle der Frau im 5. Buch Mose, auf das sich die Pharisäer beziehen, mit dem Frauenbild im 1. Buche Mose, der Genesis, auf die Jesus – die Erde beschreibend – verweist, zu vergleichen. Wir sind beim Kernthema angelangt, der „Frau in der Mitte“, so wie das Evangelium es, anders als die „Ehebrecherin“-Überschrift in heutigen Bibelausgaben, bezeichnet.
In Mose 5, 22 ist tatsächlich – zur großen Erleichterung konservativer Theologie – die Steinigung sowohl für die Ehebrecherin als auch für ihren Liebhaber angeordnet. Zumindest hinsichtlich des Strafmaßes herrscht also Gleichberechtigung. Doch spricht der gesamte Kontext eindeutig für ein frauenfeindliches Recht. Muss doch der Vergewaltiger eines unschuldigen Mädchens selbiges ehelichen, weil sie – derart verdorben – nicht mehr für ordentliche Brautwerber in Frage kommt. Dem Vater des Mädchens müssen zudem 50 Silberstücke Schadensersatz entrichtet werden, 20 mehr als der Verrat an Jesus dem Judas eingebracht hat.
Dem männlichen Mittäter bei einem Ehebruch, dem Verkehr mit einer verheirateten Frau also, dagegen ist solche Sühneleistung nicht möglich, hat er sich doch am Eigentum eines anderen vergriffen und es durch den Beischlaf derart für den Eigentümer unbrauchbar gemacht, dass neben der endgültigen Zerstörung der Frau auch die des Verführers oder Verführten gefordert wird. Eine Wiedergutmachung ist ausgeschlossen. Ist ein verlobtes Mädchen in ein Sexualdelikt verstrickt, hängt die Bestrafung von der geleisteten Gegenwehr ab. Ein Mann, der seine Ehefrau fälschlicherweise beschuldigt, nicht unberührt in die Ehe eingetreten zu sein, wird ausgepeitscht, und er muss dem Brautvater 100 Silberstücke zahlen. „Rechtsschutz für eine verleumdete Frau“, so ist dieses Kapitel kurioserweise in vielen Bibelausgaben überschrieben. Hat der Mann aber mit seiner Anschuldigung recht gehabt – die Beweislast liegt übrigens nicht beim Ankläger, sondern bei den Brauteltern, die mit einem befleckten Laken aus der Hochzeitnacht die Intaktheit ihres Kindes zum Zeitpunkt der Verheiratung nachweisen müssen -, ist die Frau zur Steinigung freigegeben, vor dem Hause ihres Vaters durch die Männer der Stadt. Wie immer, wenn nicht eine einzelne Frau gebrochen werden soll, sondern die Freiheit und sexuelle Selbstbestimmung der Frau als Prinzip attackiert wird, ist ein ganzes Männeraufgebot vonnöten.
Liebe in der Zeitlosigkeit des Paradieses
Alle Männer gegen eine Frau – das ist auch die Konstellation, mit der Jesus konfrontiert ist.
Einen juristischen Disput über das mosaische Recht kann er nicht riskieren – die Pharisäer haben ohne Zweifel das Recht auf ihrer Seite. Ob sie seine Schreibsymbolik verstehen? Wohl kaum. Er verzichtet auch darauf, sie zu erläutern. Die Erde aber, in die sein Finger schreibt, verweist auf ein älteres, tieferes Prinzip, gegenüber dem das im Deuteronomium verkündete Sexualrecht schlichtweg falsch, verdreht und gegen göttliches Diktum gerichtet erscheint. Im 1. Buch Mose, das das paradiesische Vorspiel der Menschheitsgeschichte beschreibt, entdecken wir den Grund und Boden für den Freispruch der Frau.
Dass die Entstrafung der Frau ein Freispruch ist und nicht ein gütiges Verzeihen, legt die Begegnung Jesu mit der Sünderin nahe, von der im Lukas-Evangelium (8,1 – 3) berichtet wird. Hier verhält sich eine Person mit stadtbekannt anrüchigem Verhalten äußerst fürsorglich, demütig, reuig und ehrerbietig gegenüber dem Frauenfreund Jesus. Der stellt ihr entgegen der Verächtlichmachung durch alle anderen Männer Vergebung der Sünden in Aussicht. Jesus hat also bei aller Nachsicht sehr wohl einen festen Begriff von dem, was auf dem Feld der Sexualität eine Sünde ist. Eine Sünde, die es zu verzeihen gilt, wird jedoch in der Episode mit der Ehebrecherin zum Kummer der damaligen Pharisäer und heutigen Kirchenmänner nicht benannt. Die von Steinigung bedrohte Frau hat nichts Unrechtes getan!
Das bestätigt die paradiesische Erzählung im 1. Buch Mose im Gegensatz zu einem von Männern geschriebenen Recht im 5. Buch eindrucksvoll. In der Metaphysik des Paradieses begegnet uns das wahre Fundament der Beziehung zwischen Mann und Frau. Kaum hat der Mensch (von Mann ist noch nicht die Rede) die Frau als ihm zugehörig erkannt, wird das ewige Prinzip im Geschlechterverhältnis verkündet: „Deshalb verlässt ein Mann Vater und Mutter, um mit seiner Frau zu leben.“ Liebe zwischen Mann und Frau ist hier anders als im Deuteronomium die Ablösung von allen Herkunfts- und Verwandtschaftsbeziehungen. Deshalb begegnen sich Mann und Frau in der Genesis auch in absoluter Weise, ohne jegliche biologische oder rechtliche Vorfahren - nackt.
Dass der Mann der Frau folgt und nicht er der Wegweiser ist, erweist sich auch im weiteren paradiesischen Geschehen überdeutlich. Die Frau bringt die Dinge in Bewegung, sorgt dafür, dass aus dem stumpfen und unbewussten, bislang in der Gesellschaft von Pflanzen und Tieren lebenden Menschen ein denkendes, ein sich seiner selbst bewusstes und Gott erkennendes Wesen wird. Was ist aus dieser mit Freiheit und Stärke ausgestatteten Frau des Schöpfungsbeginns im Laufe der Menschheitsgeschichte, zur Zeit von Jesu Wirken in Jerusalem, geworden? Ein unterdrücktes Wesen, das von einer Überzahl selbstgerechter Männer bedrängt wird und mit Steinen beworfen werden soll. Im Paradies schon von sexueller Autonomie der Frau zu reden, wäre sicher verfehlt. Es gibt dort noch keine Sexualität. Aber unübersehbar ist: Niemand macht ihr bezüglich ihres Frauseins irgendwelche Vorschriften. Sie vollbringt sogar das Wunder, den ihr folgenden Mann aus noch gar nicht existierenden Verwandtschaftsbeziehungen zu entlassen.
Die Frau besitzt das göttliche Recht, sich ihren Gefährten zu wählen, und dieser folgt ihr. Die Liebe ist kein Arrangement zwischen Familien oder ein Handel mit unberührter Jungfräulichkeit. Wenn man eine Frau in eine Ehe zwingt und sie anschließend von ihrem gegebenen Recht, einen Mann ihrer (und nicht der väterlichen) Wahl zu nehmen, handelt sie zwar in einer von Männern dominierten Welt äußerst riskant, aber sie begeht kein Unrecht.
„Wo sind sie, Frau. Hat Dich niemand verdammt?“, fragt Jesus die Frau in der Mitte, mit der er allein zurückbleibt. Wo sind im metaphysischen, vorgeschichtlichen Raum des Paradieses die Väter, Ehemänner, Brüder und Steinewerfer, die einer Frau vorschreiben wollen, wen sie zu lieben und zu heiraten hat? Es gibt sie nicht!
Ein Fleisch
Dass Jesus in seiner Haltung gegenüber Liebe und Ehe auf die Schöpfungserzählung und nicht auf das frauenfeindliche mosaische Recht zurückgreift, bestätigt unmissverständlich das 10. Kapitel des Markus-Evangeliums, aus dem die katholische Kirche die Unauflöslichkeit der Ehe und das bis heute verteidigte Scheidungsverbot ableitet.
Tatsächlich geht es zunächst um die Frage, ob „ein Mann sich scheiden dürfe von seiner Frau“, und wieder wird Jesus mit einem Problem des Eherechts und der Ehemoral von den Pharisäern „versucht“. Dass er wiederholt mit diesem Themenkomplex von seinen Widersachern auf die Probe gestellt wird, beweist seine Andersartigkeit und Einzigartigkeit in der Beurteilung der Geschlechterfrage. Selbst die Jünger können ihm darin nicht folgen, verstehen ihn nicht. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Die Jünger der Gegenwart, ranghöchste Vertreter der Amtskirchen, deuten unbeirrt Jesu Botschaft in dieser Sache im Sinne der eigenen frauen- und sexualfeindlichen Moral.
Schauen wir uns unvoreingenommen an, was geschieht und was gesagt wird.
Diesmal ist es Jesus, der selbst, seinen Angreifern zuvorkommend, nach dem Gesetz Mose fragt.
Dieses, so erfahren wir, hat die Scheidung zugelassen im Rahmen eines formaljuristischen Vorgangs, der Ausstellung eines Scheidebriefs. Jesus riskiert - anders in der Begegnung mit der Ehebrecherin - nicht nur die direkte Konfrontation mit dem gültigem Recht, er gibt sogar einen Kommentar dazu ab, der – darin wiederum der Steinwerfermetapher gleichend - ein denkbar schlechtes Licht auf die Herausforderer wirft. „Um Eures Herzens Härte willen hat er (Mose) Euch dieses Gebot geschrieben.“ Demnach ist die Scheidungsregelung nicht Ausdruck eines höchsten Prinzips, sondern der menschlichen (in jener Zeit genauer: männlichen) Unzulänglichkeit geschuldet.
Das Grundsätzliche aber, so Jesus, findet sich nicht im positiven Recht, sondern in der Erschaffung von Mann und Frau. „Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und wird an seiner Frau hängen.“ Und was die Einheit beider bedeutet, bleibt ebenso unzweifelhaft: ein Fleisch! Kann man eigentlich noch deutlicher zum Ausdruck bringen, dass Anhänglichkeit, vor allem des Mannes, und körperliche Vereinigung das Fundament einer Geschlechterbeziehung darstellen und nicht soziale Differenzierung und sexuelle Enthaltsamkeit zwischen Zeugungsakten, von denen bei Jesu Predigten überhaupt nicht die Rede ist.
Die Gegenüberstellung von mosaischem Recht und Schöpfungsabsicht zeigen sehr wohl, dass Jesus zwischen positivem Gesetz respektive seiner Funktion für ein geregeltes Zusammenleben von unzulänglichen Menschen und einem höchsten Prinzip unterscheiden will. Aus seinen Worten ein gesetzlich, kirchenrechtlich zu verankerndes Scheidungsverbot abzuleiten, zeugt vom Nicht-Verstehen(-Wollen) seiner Lehre.
Rechtlich-Normatives lässt sich aus dem Schöpfungsbericht und Jesu Berufung darauf nicht extrahieren. Keinesfalls fordert es zur Enthaltsamkeit auf. Auch nicht zu deren Gegenteil. Allenfalls empfiehlt es Männern, eine Frau zu erkennen und ihr zu folgen. Was Männern auch nachweislich gut bekommt.
Die Frage des Scheidungsverbots
Der Epilog des Scheidungsdiskurses im Markus-Evangelium wirkt nicht nur in der Handlungsfolge, sondern ebenso in seiner moralischen Botschaft nachgeschoben und passt nicht so recht zum zuvor durch Jesus Verkündeten.
„Was nun Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.“ „Daheim angekommen“ (wo immer das sein mag) fragen die Jünger nach, was es mit diesem Satz auf sich hat. Und Jesus, nunmehr fern aller Pharisäer, die ihn zu einer verfänglichen Äußerung verleiten wollen, verschärft seine Thesen: Die Wiederverheiratung nach einer Scheidung stelle Ehebruch dar, für Frau und Mann gleichermaßen. Offenbar gemäß der im Markus-Evangelium nicht ausgeführten Logik, dass die Zusammenfügung von Frau und Mann durch Gott geschehe und dauerhaft Bestand habe, unabhängig davon, wie die Ehe zustande gekommen ist und ob Frau und Mann womöglich wechselseitig die einer Ehe zugrundeliegenden Vereinbarungen und Verpflichtungen aufgekündigt haben. Auch wenn wir den Satz von der unauflöslichen Verbindung noch zu den Ausführungen Jesu im Disput mit den Pharisäern hinzurechnen (was gar nicht so eindeutig ist, denn es könnte ebenso ein Kommentar des Berichterstatters sein), ist die daraus abgeleitete Gleichsetzung von Scheidung mit Ehebruch doch eher juristischen Deduktionen ähnlich als der auf das Grundsätzliche zielende Lehre Jesu. Mit diesem Nachtrag wird die Scheidungsfrage endgültig justitiabel gemacht.
Dass die ursprüngliche Intention des frauenfreundlichen Predigers erst im Nachhinein einer Heiligung der Eheschließung unterzogen wurde, verrät das später entstandene Matthäus-Evangelium noch deutlicher.
Dort ist Jesus nicht mehr nur vorrangig um die äußere Festigung der Ehe bemüht, sondern betreibt unbarmherzig die Verschärfung. Aus der Warnung vor der bösen Tat („Du sollst nicht ehebrechen!“) schmiedet Matthäus die unerbittliche Verdammung der sexuellen Phantasie. „Wer eine Frau ansieht“ (mit begehrlichen Gedanken), „hat schon die Ehe gebrochen“. Dem Verfasser des Lukas-Evangeliums war diese Vorstellung eines Jesus, der die Frage ehelicher Treue bis zum Gedanken- und Phantasieverbot steigert, offenbar suspekt erschienen. Die Kriminalisierung der sexuellen Phantasie wird weggelassen, die Gültigkeit des mosaischen Gesetzes (auch im Eherecht?) bestätigt und das Scheidungsverbot wiederholt.
Vieles spricht dafür, Jesu Auseinandersetzung mit dem mosaischen Scheidungsrecht und dem Schöpfungsbericht (Markus 10,1-8) als den authentischen Kern anzuerkennen. Der Rest ist Zugabe einer jungen christlichen Gemeinde, die das Ideal, die unauflösliche Ehegemeinschaft, unbedingt zum Dogma erheben will. Was auch daran zu erkennen ist, dass die unbedingte Dauerhaftigkeit der Ehe durch Jesus nicht öffentlich verkündet wird, sondern nur im exklusiven Kreis der Getreuen. Eine geheime Lehre für Eingeweihte und Auserwählte – Esoterik.
Die Ehe – ein weltlich Ding
Die Ehe und die damit verbundenen rechtlichen Implikationen sind dem Wandel der Zeit unterworfen, Ewigkeit im Angesicht Gottes können sie nicht beanspruchen. Das Scheidungsverbot, das bis ins 20. Jahrhundert in vielen katholischen Ländern galt, ist als rechtliches Bollwerk zu sehen, die Ehegemeinschaft über das Schwinden der Zuneigung und Anhänglichkeit hinaus zu bewahren und in ihrer sozialen und ökonomischen Funktion zu bestätigen. Ein legitimes soziales Anliegen wird sakramental überhöht. Das Erkennen von Adam und der seiner Rippe entnommenen Frau, ihre wechselseitige Anhänglichkeit sind jedoch institutionell nicht zu fassen. Bereits im Paradies währt der Zusammenhalt beider nicht lange. Von Gott auf frischer Tat beim Tabubruch ertappt, endet bereits die vollkommene Einheit von Frau und Mann. Er schiebt die Schuld auf sie; sie, in Ermangelung weiterer menschlicher Sündenböcke, auf die Schlange.
Was dem folgt, macht das Leben aus, ist aber nicht mehr Teil der Schöpfung und Ausdruck paradiesischen Zusammenseins.
Arbeit zum Zwecke der Sicherung des Lebensunterhalts, Kinder gebären zum Zwecke der Fortpflanzung, Hierarchie zum Zwecke der Herrschaft in der Ehebeziehung sind keine Ableitungen aus der ursprünglichen Einheit von Frau und Mann, sondern die Fron des in die Geschichte entlassenen Menschen. Von der kann er sich zwar nicht befreien, aber ihre Bedingungen verändern – zum Vorteil aller und besonders der Frauen. Die haben ihre Frondienste in der Geschichte gründlich abgearbeitet, während die Männer die ihnen von Gott bei der Vertreibung aus dem Paradies auferlegten Aufgaben teilweise dem anderen Geschlecht mit aufgebürdet haben.