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Mission: "Such den Saufkopf"

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Das erste Mal besoffen war ich mit vier Jahren.

Das tönt jetzt zwar hart, war aber so. Behauptete zumindest Mama, denn seltsamerweise kann ich mich überhaupt nicht daran erinnern. Wenn man hackedicht ist, passiert das schon einmal.

Das wiederum behauptete Papa, und der musste es ja schliesslich wissen. Er war da nämlich so quasi Experte. Und eigentlich war er es auch gewesen, der damals Schuld an der ganzen Misere hatte. Wenn man mit vier Jahren sternhagelvoll ist, ist das nämlich kein Kindergeburtstag, um es mal so zu sagen.

Aber vielleicht ist es doch besser, wenn ich Ihnen die ganze Geschichte erzähle.

Für mich hat alles damit angefangen, dass unsere Familie in einen heruntergekommenen Schuppen im Dorfkern von Mels zog. Wenn Sie noch nie etwas von Mels gehört haben, ist das nicht weiter schlimm, weil bereits wenige Meter jenseits der Ortstafel selbst gebürtige Melser ins Grübeln geraten, wenn man sie nach dem Weg nach Mels fragt.

So heruntergekommen der Schuppen aber auch war, er hatte ein paar entscheidende Vorteile:

-Man hatte ein Dach über dem Kopf

-Er war nur einen Steinwurf von Baggerunternehmen entfernt, in welchem Papa als Baggerführer arbeitete (oder hätte arbeiten sollen).

Aber noch viel wichtiger war:

-Er lag genau gegenüber einer Kneipe.

Eine fast perfekte Lage also, wenn man Papa glauben mochte. Weniger perfekt für den Rest der Familie jedoch, wie sich bald zeigen sollte. Papa machte auf dem langen Weg von der Arbeit nach Hause - es mochten gut und gern 150 Meter gewesen sein - nämlich gerne ein wohlverdientes Päuschen in der Kneipe, um sich ausgiebig von seinem anstrengenden Arbeitstag zu erholen. Zudem musste ja auch der Flüssigkeitshaushalt wieder ins Lot gebracht werden. Die Baggerführerei ist schliesslich harte Arbeit, da schwitzt man viel und oft. Zwar nicht gerade Bier, aber wenn man vom Flüssigkeitsverlust geschwächt in die Kneipe torkelt, nimmt man in der Not halt, was man kriegen kann. Sowas darf man auch nicht überstürzen, beim schnellen Aufstehen wird einem sonst ja nur schwindlig. Also blieb man sitzen, bis Sperrstunde war, gerne auch noch ein bisschen länger, raffte sich ächzend auf (schwindlig war einem dann ja ohnehin), schleppte sich sturzhagelvoll nach Hause und pieselte dort erst mal gemächlich aus dem Schlafzimmerfenster. Auf unserem Plumpsklo stank es nämlich immer fürchterlich und da war es doch schon viel angenehmer, wenn einem beim Pieseln frische Nachtluft ins Gesicht blies. Und während man da so vor sich hin pieselte, wunderte man sich noch über die vielen, beleuchteten Fenster in der Nachbarschaft, bevor man besinnungslos ins Bett kippte. So kurz der Weg nach Hause nämlich auch gewesen sein mochte, der musikalische Nachtschwärmer brachte es immer fertig, ein Medley der gerade gehörten Schlagerhits in die paar Meter zu quetschen. Mit diesem grausigen Gejohle riss er dann unsere gesamte Nachbarschaft aus ihren Betten und sogar im Nachbardorf sollen ein paar, zugegeben hellhörige, Dorfbewohner aus dem Schlaf geschreckt sein. Es versteht sich von selbst, dass unter dem unfreiwilligen Publikum auch Papas Chef war, der auf dem Firmengelände wohnte. Der war, wie sich zeigen sollte, jedoch weniger musikalisch und fand erst wenig Gefallen an den nächtlichen Vorstellungen. Gut, später fand er noch weniger Gefallen daran, aber davon später mehr.

An eine Nacht kann ich mich sogar besonders gut erinnern. Damals war nämlich gerade Wencke Myhres „Abendstund hat Gold im Mund“ sehr populär. Jedes Mal, wenn diesen Schlager heute irgendwo läuft, sehe ich mich wieder als Dreikäsehoch neben meinen Geschwistern im Bettchen liegen, während wir den seltsamen Geräuschen lauschen, die da durch die Nacht hallten.

„Abeendschtundööoo-haad-Gooldimmundeehöhöööäää“ krächzte da jemand, während er über die Strasse torkelte. Dabei wurde der Schreihals immer wieder von Hustenanfällen geschüttelt, die gelegentlich auch in einem trockenen Würgen mündeten. Dann hallte ein Rumsen durch die Nacht, als der Schädel der bis dahin noch unbekannten Person hart mit unserer Haustüre kollidierte und wir wussten: Aha, Papa kommt heim.

Kurz darauf quietschte eine Tür. Schwere Schritte, begleitet von ebensolchem Schnaufen, schleppten sich die Treppe hinauf. Der Erfolg, es fast bis nach oben geschafft zu haben, liess Papa leichtsinnig werden. Siegessicher stimmte er noch einmal seinen Lieblingsschlager an. Schnell stellte sich heraus: Papa mochte vieles gewesen sein, Multitasking-fähig war er nicht.

„Abendschtundööö---oh-verda-aaah“, tönte es, dann polterte und ächzte es ein paar Mal und schon lag Papa wieder unten.

Im ganzen Haus war es auf einmal totenstill. Wir lauschten angestrengt. War das ein leises Stöhnen? Keiner wagte zu atmen. Jemand schluchzte verhalten. Sicher hatte sich Papa beim Sturz sämtliche Knochen gebrochen und rang mit dem Tod. Im Nebenzimmer knarrte es leise, als Mama aufstand, um nach Papa zu sehen. Zaghaft tastete sie nach dem Lichtschalter. Es dauerte eine Ewigkeit, bis endlich Licht unter der Tür durchschimmerte. Im Zimmer herrschte gespannte Stille.

Plötzlich ein Schrei.

„Abendschtundäääöööo..ohhooo..“, hallte es durch das Treppenhaus, um dann in undefinierbarem Gebrabbel zu versickern.

Nun singen Tote in der Regel nicht und auch von Schwerverletzten hört man es eher selten. Unter diesen Umständen mag man es uns sicher nachsehen, dass wir diese Geräusche zum Anlass nahmen, erleichtert in unsere Betten zurückzusinken. Sogar ein Kichern war zu hören.

Wenn auch nur ganz leise.

Nach dieser denkwürdigen Premiere folgten bald weitere Vorstellungen ähnlicher Art. Unterschiede waren, wenn überhaupt, nur in Details zu erkennen. So purzelte Papa nur noch selten die Treppe hinunter (oft legte er sich schon auf der ersten Stufe hin) und auch die ständig alternierende Titelauswahl brachte etwas Abwechslung in die Sache. Da war zum Beispiel „Mendocino“ (Mendösiööää), „Azzurro“ (Assuuurohoo) und sogar die schöne „Monja“ schaute ab und zu auf einen kurzen Sprung vorbei, blieb verständlicherweise aber nie (Mooöönjähää, Mohöönjähäää…).

An diesem Ablauf sollte sich die nächsten Wochen erst mal wenig ändern. Als dann aber auch noch die Wochenenden dazu kamen, hielt es Mama für an der Zeit, meinen Vater ab und zu daran zu erinnern, dass zuhause ein paar hungrige Mäuler zu stopfen wären. Die Besitzer derselben (11 an der Zahl) wurden kurzerhand zwangsrekrutiert und auf Aufklärungstouren in die benachbarten Kneipen geschickt.

Mission: Such den Saufkopf

Heutzutage hält man natürlich auch ein Auge auf die Medienwirksamkeit und bedient sich daher wohlklingender Begriffe wie „Desert Storm“ oder „Enduring Freedom“, die oft kaum Rückschlüsse auf den Zweck der Unternehmung zulassen. Mamas Variante hingegen hatte den entscheidenden Vorteil, auch für einen der englischen Sprache nicht mächtigen Dreikäsehoch leicht verständlich zu sein.

Zumindest, nachdem uns Mama erklärt hatte, dass mit „Saufkopf“ eigentlich Papa gemeint war.

Natürlich lernten wir schnell, dass es ratsam war, Mamas Worte nur sinngemäss wiederzugeben. „Saufkopf“ mochte Papa nämlich nicht so gern genannt werden, vor allem dann nicht, wenn er mit seinen Kumpels am Stammtisch sass. Was er oft tat, der Papa. Eigentlich sehr oft sogar, denn Papa war ein Gewohnheitsmensch. Das vereinfachte einerseits unsere Suchaktionen, beeinflusste andererseits aber auch unsere Wahrnehmung bezüglich Papas Tagesablauf erheblich. Schliesslich hatte uns noch niemand so richtig das Konzept „Arbeit“ erklärt. Wenn Papa nicht zu Hause war, so dachten wir einfältig, so musste er ganz bestimmt in der Kneipe sein.

Nicht ganz zu Unrecht, wie sich zeigen sollte.

Bis zu diesem schicksalsreichen Tag, an dem ich zum ersten Mal mit Alkohol in Berührung kam, hatte ich mich stets unter fadenscheinigen Gründen von dieser lästigen Pflicht drücken können. Damit war nun Schluss. Die Ausrede, ich könne nicht laufen, zog ohnehin schon länger nicht mehr. Hätte ich das vorher gewusst, hätte ich mit der Aneignung dieser Fähigkeit noch zugewartet, aber dafür war es jetzt zu spät. Und als ich mich auch noch auf mein jugendliches Alter berief, um der drohenden Entsendung in die Kneipe gegenüber zu entgehen, wurde Mama deutlicher.

„Jetzt hab dich nicht so, du bist ja schliesslich kein kleines Kind mehr“, murrte sie.

„Doch, Papa sagt schliesslich auch immer ‚mein liebes Kind‘ zu mir.“

„Ha“, lachte Mama, „du tust gut daran, nicht alles zu glauben, was dir der alte Sauf..äh, Papa erzählt. Mir hat er damals auch das Blaue vom Himmel versprochen und das hab ich nun davon.“

„Warum hat Papa dir denn etwas versprochen und nicht gehalten?“

„Na, weil der geile Bock mich rumkriegen wollte, äh, ich meine, weil Papa damals ganz fürchterlich in Mama verliebt war.“

„Was ist denn ein geiler Bock?“

Mama überlegte kurz.

„Das ist ein, äh, ein netter Mann, genau.“

Aha, das war ja interessant. Diesen Ausdruck musste ich mir merken, falls wieder mal jemand nett zu mir war. „Vielen Dank, Sie geiler Bock“ kam sicher viel besser an als bloss „Vielen Dank“.

„So, jetzt aber genug gemosert“, unterbrach Mama meine Überlegungen, „du gehst jetzt rüber in den ‚Rosengarten‘ und holst deinen Papa.“

„Und wenn er gar nicht da ist? Vielleicht ist er ja auf der Arbeit.“

„Ha, der und arbeiten, das wäre ja noch schöner. Aber wenn du ihn nicht siehst, fragst du halt Benno, das ist der Wirt dort, das ist so ein Dicker mit Glatze. Vielleicht ist er ja auch im Löwen. Da fragst du dann am besten ‚Beinebreit Rosi‘, das ist so eine schwarzhaarige mit..“

„Wieso heisst die denn ‚Beinebreit Rosi‘?“

„Ähm, naja, weil sie, äh, fürchterliche O-Beine hat, darum.“

„Also eine Schwarzhaarige mit O-Beinen.“

„Genau“, nickte Mama. „Aber nicht, dass du in den Löwen reinmarschierst und nach ‚Beinebreit Rosi‘ fragst, hast du verstanden?“ Sie gab mir einen Klaps auf den Hintern und schob mich in Richtung Tür. „So, und jetzt schleich dich.“

Und so kam es, dass ich nur wenig später das erste Mal in meinem Leben eine Kneipe betrat. Eigentlich hatte ich mich schon länger gefragt, wie wohl der Ort aussehen würde, an dem Papa so viel Zeit verbrachte. Der Blick, der sich mir von der Tür aus bot, war jedoch ernüchternd. Statt der erwarteten Wohlfühloase erwartete mich nämlich bloss ein muffiger Schankraum, dessen Einrichtung selbst in der schummrigen Beleuchtung nicht an Liebreiz gewann. Die Attraktivität des Hauses lag wohl eher in dem grossen, runden Tisch begründet, an dem mein Papa sich gerade lautstark mit ein paar Männern unterhielt. Man war sich offensichtlich uneinig darüber, welcher Gemüseladen in der Gegend die schönsten Früchte im Angebot hatte.

„Ich sag euch, die Rosi aus dem ‚Löwen‘ hat die dicksten Melonen weit und breit“, verkündete Papa und wedelte mit seiner Zigarre.

„Jaja, aber ich kann euch sagen, die von meiner Hanni sind auch nicht ohne“, behauptete der Herr mit der dicken, roten Nase, der ihm gegenüber sass.

Der Mann, der neben Papa sass, stiess ihn mit seinem Ellbogen in die Seite.

„Nur, dass das nicht das Einzige ist, was an ihr gross ist“, feixte er.

Das schien den Herrn mit der roten Nase furchtbar böse zu machen.

„Was willst du denn damit andeuten?“, schrie er und schüttelte drohend seine Faust. „Halt bloss dein elendes Schandmaul, du..“

„Schandmaul ist gut. Deine Frau..“

„Jetzt hört doch auf damit“, mischte sich Papa beschwichtigend ein. „Also, wenn ihr mich fragt, kann es Elli aus dem Sternen mit ihren Riesenbirnen mit allen beiden aufnehmen.“

Das brachte sofort wieder Ruhe in die Runde, während man ernsthaft diskutierte, ob diese Birnen nun grösser als Rosis Melonen (aus dem Löwen) wären. Und spätestens, als der Herr, der neben Papa sass, noch hinzufügte, dass es aber noch mehr Pflaumen mit schönen Melonen gäbe, kehrte wieder Friede ein und man prostete sich unter grossem Gelächter zu.

Dann schrie man nach einer gewissen „Greti“ und verlangte lauthals „noch eine Runde“. Bei dieser „Greti“ schien es sich wohl um die blonde Dame mit den Zöpfen zu handeln, die hinter dem Tresen herumfuhrwerkte. Als sie kurz darauf mit einem Tablett voller Flaschen an den Tisch trat, wurden die Männer seltsam still. Sie hatten wohl Angst, dass sie das Tablett mit den Bierflaschen, welches sie vor ihrem grossen Busen vor sich hertrug, fallenlassen würde und liessen es darum nicht aus den Augen. Und als sie das Tablett auf dem Tisch abstellte, kam ihr Papa sogar noch galant zu Hilfe und stützte sie, indem er ihr den Arm um die Hüften legte. Die üppige Dame schien jedoch auch ganz gut ohne fremde Hilfe zurechtzukommen. Sie schüttelte kurz ihr rundes Hinterteil, murrte etwas und schon rutschte Papas Hand von ihrer Hüfte. Dann nickte sie kurz in meine Richtung und fragte beiläufig: „Gehört der Bub zu euch?“

Vier Männeraugen drehten sich zu mir um.

„Au, verdammt, das ist ja mein Jüngster“, tuschelte Papa, dass man es bis auf den Parkplatz hören konnte. „Den hat mir sicher meine Alte auf den Pelz geschickt. Wartet nur, den bin ich schnell los.“ Er beugte sich vor und breitete scheinheilig seine Arme aus. „Ja, Sebastian“, rief er, „was tust du denn hier, mein liebes Kind?“

Uns so nahm das Schicksal seinen Lauf.

Papa hatte nämlich, wie sich herausstellen sollte, wenig Lust, bei seiner „Alten“ vorstellig zu werden. Kurzerhand setzte er mich raffiniert ausser Gefecht, indem er mich aus jedem Glas auf dem Tisch einen Schluck probieren liess. Bis ich merkte, dass es sich bei der Flüssigkeit in den Gläsern weder um Apfelsaft noch Himbeersirup handelte, war es freilich schon zu spät. Ich heulte wie ein Schlosshund, klammerte mich ans Hosenbein meines Vaters und kotzte ihm die Brühe glatt wieder auf seine Schuhe.

Diese peinliche Vorstellung passte meinem Papa wiederum überhaupt nicht. Der Balg vertrug ja kaum was. Und so einer wollte auch noch ein Liebowitz sein. Da musste man sich ja schämen, aber sowas von.

In Anbetracht dieser Umstände traf es sich also gut, dass die blonde Greti (mit den schönen Zöpfen) meiner Mama bereits die Kunde von meiner Unpässlichkeit überbracht hatte und dieser eine zeitnahe Evakuierung ihres Sprösslings ans Herz legte. Mama machte sich sofort auf den Weg und marschierte nur ein paar Sekunden später fuchsteufelswild in der Kneipe ein. Das tat sie recht geräuschvoll, was dazu führte, dass die Eingangstür der Kneipe seither etwas schief in den Angeln hing.

Papa hatte gerade noch Zeit, seine Kumpels mit den Worten „oha, meine Alte“ vor dem aufziehenden Sturm zu warnen, da zog dieser schon über ihn her. Schäumend vor Wut hielt sie ihm vor allen Leuten die längst überfällige Standpauke und nahm dabei wenig Rücksicht auf Empfindlichkeiten. So reziklierte sie das bereits altbekannte „Saufkopf“ gleich mehrfach, bevorzugt in Kombination mit anderen, recht einfallsreichen, wenn auch wenig schmeichelhaften, Begriffen.

Mama war zwar nur knapp ein Meter fünfzig gross und wog kaum mehr als 40 Kilogramm, aber wenn sie loslegte, war sie eine Naturgewalt. Das wusste auch Papa und so hielten er und seine Saufkumpane es für besser, die Böden ihrer Biergläser einer stummen, aber eingehenden, Überprüfung zu unterziehen, bis sich das tobende Weibsbild mit ihrem reihernden Balg verzogen hatte. Das tat sie dann wiederum recht temperamentvoll, und noch Jahre später sollten zahlreiche Risse in der Wand rund um den Türrahmen stummes Zeugnis von dieser ereignisreichen Nacht ablegen.

Papa liess sich von diesem kleinen Zwischenfall zwar nicht davon abhalten, seine Präsenzzeiten in der Kneipe weiter nach oben zu schrauben, aber wenigstens hielt er sich von nun an mit der Sprösslings-Alkoholverkostung am väterlichen Stammtisch zurück. Nicht ganz uneigennützig, wie mir schien.

Man hätte nun meinen können, dass durch diesen frühen Kontakt mit Alkohol, Papas Erbgut und seinem zweifelhaften Vorbildverhalten die Weichen für eine mehr oder weniger erfolgreiche Karriere als Alkoholiker bereits gestellt gewesen wären. Glücklicherweise hatte der grosse Bahnhofsvorsteher im Himmel aber andere Pläne mit mir und instruierte das zuständige Stellwerk, ein Treffen zu arrangieren.

So ergab es sich, dass ein intelligenter, älterer Herr, der sein einziges Kind gerade in die Ehe entlassen hatte (und sehr darunter litt), eines Tages in einer Kneipe auf einen bestenfalls bauernschlauen, etwas jüngeren Mann traf, der eine zahlreiche Kinderschar sein eigen nannte (und sehr darunter litt). Und man sorgte auch dafür, dass Mama mich pünktlich losschickte, um dem Treffen der beiden beizuwohnen.

Mittlerweile schon ein altgedienter Veteran in Sachen Saufkopfaufklärung, marschierte ich an diesem so erlebnisreichen Tag schnurstracks in die Kneipe gegenüber, wo ich, wie erwartet, Papa auf seinem angestammten Platz vorfand. Kurzerhand kroch ich neben ihm auf die Sitzbank und hatte schon bald einen Sirup vor mir stehen, den mir die freundliche Greti (mit einem umso unfreundlicheren Blick auf Papa) serviert hatte.

Wir waren schon länger zu einer stillen Übereinkunft gekommen, mein Papa und ich. Ich blieb still und bekam dafür einen Sirup, und Papa blieb still, wo er war. Oder manchmal auch weniger still. Dafür blieb er aber wenigstens immer, wo er war.

Und so liess ich, genüsslich am Röhrchen nuckelnd, meinen Blick schweifen und bemerkte erst jetzt den seltsamen Herrn, der Papa gegenüber sass. Seltsam darum, weil er irgendwie ganz anders aussah, als die Hallodris mit ihren roten Birnen und dem grossen Durst, die normalerweise am Stammtisch hockten, ein Bier nach dem anderen kippten und die Bude vollrülpsten. Der komische Herr hatte nämlich weder eine rote Birne, noch rülpste er. Und wenn man zum Massstab nahm, wie er an seinem Bierchen nippte, schien er auch nicht allzu grossen Durst gehabt zu haben.

Nachdem ich diesen komischen Herrn eine Weile beobachtet hatte, fragte ich meinen Vater leise, wer der Herr denn sei und ob ihm denn das Bier nicht schmecke, weil er nach einem Schluck nie „aahhh“, sage.

Im Gegensatz zu Papa schienen meine Fragen den Herrn sehr zu amüsieren und er erkundigte sich, wem das aufgeweckte Bürschchen denn gehöre.

Papa war jedoch eher der Trinker, weniger der Redner.

„Gehören?“, knurrte er. „Der Balg gehört höchstens heim ins Bett, jawohl. Den hat mir sicher meine Alte wieder auf den Pelz gejagt. Klebt mir ständig wie eine Warze am Arsch, der Balg. Nicht einmal in der Kneipe hat man seine wohlverdiente Ruhe, nachdem man sich die ganze Woche lang jeden Tag über halbtot geschuftet hat.“

Das war an einem Donnerstag um 3 Uhr nachmittags.

Einfallsreich, wie er war, hatte er für diesen unhaltbaren Zustand aber schon eine Lösung parat.

„Wenn dir der Galgenstrick schon so gefällt, kannst du ihn ja gerne mitnehmen“, schlug er vor, nahm einen Schluck und beobachtete den Fremden erwartungsvoll mit seinen listigen Äuglein über den Rand seines Bierglases hinweg.

Der Fremde grübelte ein wenig und musste dann zugeben, dass dies gar keine so schlechte Idee sei. Seine Tochter habe kürzlich geheiratet und sei ausgezogen. Im ganzen Haus sei es nun auf einmal so still und auch seine Frau werde immer schwermütiger. Ob er sich da auch ganz sicher sei, dass er mich nicht vermissen werde?“

„I wo auch“, höhnte Papa, „der Bengel nervt eh nur rum. Einer weniger, der Brot frisst.“

Diese wenig schmeichelhaften Worte liessen den Fremden nun doch etwas zögern. Mein Vater merkte wohl, dass er die Ware vorteilhafter anpreisen musste, wenn er diese erfolgreich an den Mann bringen wollte. Nachdem er den Preis für den offensichtlichen Ladenhüter eher am unteren Ende angesetzt hatte, konnte er ja dummerweise keinen Preisnachlass mehr gewähren.

„Naja, aufgeweckt ist er, das gebe ich zu“, räumte er widerwillig ein, „der bringt dir sicher wieder Leben in die Bude.“ (Und dann etwas beiseit, damit es der Fremde nicht hören konnte: „ist auch etwa das Einzige, was der ausser Fressen und Quengeln kann.“)

Der Fremde fing nun an, sorgsam das Für und Wider einer Temporärobhut abzuwägen. Und da das Hirn sehr empfindlich auf Flüssigkeitsentzug reagiert, wurde dieser Vorgang durch ein Bierchen, es mögen auch zwei oder drei gewesen sein, unterstützt. Sowas dauert natürlich, und so war es schon früher Abend, bis er sich schliesslich doch noch ans Telefon hängte und seinem frischgebackenen Schwiegersohn telefonierte. Der tat, was ein Schwiegersohn eben so tut, wenn er es sich mit seinem Schwiegervater nicht verscherzen will. Er liess alles stehen und liegen und machte sich unverzüglich auf den Weg. So ging es nicht einmal eine halbe Stunde, da holperte sein VW Käfer schon auf den Parkplatz, wo er von seinem Schwiegerpapa in Empfang genommen und tuschelnd über den unerwarteten Fahrgast in Kenntnis gesetzt wurde, den man etwas verstohlen auf den Hintersitz verfrachtete. Diese Nacht und Nebel Aktion wurde dadurch begünstigt, dass ich ja bloss die Sachen besass, die ich am Leibe trug. Es kann eben auch seine Vorteile haben, mit, wie man so schön sagt, „leichtem Gepäck“ zu reisen. Damit entfiel natürlich auch die Gefahr, zuhause auf Mama zu treffen, die, unvernünftigerweise, wie Mütter nun mal so sind, in letzter Minute noch ihr Veto hätte einlegen können. Mama einzuweihen, hielt Papa für „vööllig“ unnötig, war er sich doch sicher, dass diese nur lobende Worte für seinen genialen Schachzug finden würde. Ganz so war es dann zwar doch nicht, aber Mama hat auch nicht gerade nächtelang durchgeheult, um es mal so zu sagen. Ein hungriges Kindermaul weniger war eben immer noch ein hungriges Kindermaul weniger, da biss die Maus keinen Faden ab.

Und während sich Mama noch wunderte, wo denn ihr jüngster Sprössling so lange blieb, fuhr dieser gerade mit wildfremden Leuten einer ungewissen Zukunft entgegen.

Kindsjahre

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