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Plumpsklo-Bouquet
ОглавлениеUnser neues Heim mitten im Wald bot viele Vorteile. Einer davon war, dass man tun und lassen konnte, was man wollte. Unser einziger Nachbar war ein Doktor aus Zürich nebst Ehefrau, die nur an den Wochenenden ihr schmuckes Einfamilienhäuschen bewohnten.
Diese Abgeschiedenheit, zwischen unseren Häusern lagen gut 150 Meter, bot willkommenen Schutz vor lärmigen Nachbarn. Da pöbelte niemand mitten in der Nacht besoffen rum, es gab keine Rabauken, die wildes Indianergeheul ausstossend ums Haus tobten, Fensterscheiben waren von Pfeilen sicher, der Briefkasten wurde nicht zum Marterpfahl, die Gartenmöbelabdeckung nicht zum Indianertipi umfunktioniert und die Gartenlaube ging nicht als Feueropfer an den grossen Manitu in Flammen auf.
Zumindest, bis wir nebenan einzogen.
Danach war mit dem Einklang von Seele und Natur erstmal Schluss. Dafür sollte der Missklang mit den Nachbarn die Wochenenden beherrschen. Nicht, dass sich Herr Doktor etwas anmerken hätte lassen und auch seine Frau war die Höflichkeit in Person. Trotzdem führte das Überangebot an unwillkommener Unterhaltung - die beiden waren kinderlos und vieles deutete darauf hin, dass dies beabsichtigt war - schon bald dazu, dass Herr und Frau Doktor nur noch selten im Ferienhaus weilten. Und schon nach wenigen Wochen hatten sie die Nase voll und versuchten, die mittlerweile nicht mehr so idyllisch gelegene Immobilie abzustossen.
Leider waren ihre Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt. Interessenten gab es zwar zuhauf, das schon, aber aus irgendeinem Grund kamen die Verhandlungen nach einer Besichtigung des Häuschens (und deren Umgebung) stets ins Stocken. Natürlich waren auch hartnäckigere Charaktere dabei, die bei der mittlerweile spottbillig angebotenen Immobilie das grosse Geld witterten, aber selbst die verloren ihr Interesse, wenn Papa den Fremdenführer gab.
Dass dieser jeweils zugegen war, wann immer Interessenten sich das Häuschen ansahen, kam nicht von ungefähr.
Der Trampelpfad ins Dorf war nämlich nüchtern eine Herausforderung, besoffen eine Gefahr für Leib und Leben. Und da Papa selten nüchtern, dafür aber umso häufiger besoffen war, machte er sich kurzerhand die Not zur Tugend und soff nur noch zuhause. Dabei leistete ihm Mama immer öfters Gesellschaft. Ihr mangelte es an Abwechslung und so suchte sie diese immer öfters auf dem Boden einer Bierflasche. Fündig wurde sie jedoch nur selten, womit sie gezwungen war, die Suche regelmässig wiederaufzunehmen.
So kam es, dass die beiden den grössten Teil ihrer Freizeit in trauter Gemeinsamkeit am Küchentisch sitzend verbrachten und dabei mit leerem Blick auf das Tischtuch starrten. Meine Eltern hegten zum uralten Wachstuch eine innige Beziehung. Gerüchtehalber war sogar von Adoption die Rede, die aber nie über das Planungsstadium hinauskam.
Die seltsame Zuneigung lag darin begründet, dass das Tischtuch aufgrund jahrelanger Fuselbesprenkelung über einen recht beachtlichen Alkoholgehalt verfügte. Es dankte den beiden die liebevolle Zuwendung, indem es wacker Alkoholdämpfe von sich gab und so für den kleinen Extrakick sorgte, wenn sie wieder einmal mit dem Kopf auf der Tischdecke vor sich hindösten.
Die Tatsache, dass man einem schlichten Wachstuch weit mehr Aufmerksamkeit als den eigenen Kindern zuteilwerden liess, gipfelte nicht selten in unschönen Eifersuchtsszenen. Schliesslich sollte es noch Jahre gehen, bis Hans soweit dem Alkohol verfallen war, dass seine Rülpser einen ähnlichen Alkoholpegel vorweisen konnten. Bis dahin war er jedoch längst abgenabelt und in den Genuss seiner Rülpser kamen höchstens noch seine Freundinnen, die diesem Effekt aber wenig Positives abgewinnen konnten.
Das Bild, welches sich in den nächsten Monaten in unserer Küche bieten sollte, hatte durchaus etwas von einem Proletarier-Stillleben. Die Früchte fehlten zwar, dafür sorgte eine ständig alternierende Auswahl von Bier- und Weinflaschen für Abwechslung. Sonst änderte sich nicht viel, wenn man von den gelegentlichen Abstechern meiner Eltern auf das Plumpsklo absieht. Dieses schloss direkt an die Küche an, was sich als äusserst günstig herausstellen sollte, denn der Weg dorthin wurde ja nicht selten mit von übermässigem Alkoholgenuss wacklig gewordenen Beinen in Angriff genommen. Etwas weniger günstig war das vom Aroma her. Meine Mutter hatte nämlich die Angewohnheit, zumindest das kleine Geschäft bei offener Tür zu verrichten, um dabei den Küchentisch im Auge behalten zu können. Vor allem, wenn der Fusel zu Neige ging, kamen die beiden schon einmal durcheinander und tranken dann „versehentlich“ aus dem falschen Glas. Das musste natürlich verhindert werden und so hielt Mama ständigen Blickkontakt zu „ihrem“ Bierglas (wobei sich stets auch ein bisschen Sehnsucht in ihrem Blick spiegelte, aber das nur nebenbei). Natürlich war die Art des „Geschäftes“ eher zweitranging. Ein Plumpsklo hat ja die Eigenart, immer zu stinken, egal, ob gross oder klein. Und wenn überhaupt kein Geschäft ansteht, stinkt es sogar noch mehr. Zumindest, wenn der Deckel nicht aufliegt, was bei uns so gut wie immer der Fall war. Vom Trennungsschmerz überwältigt, verzichteten die beiden nämlich auf jeden überflüssigen Handgriff und eilten hurtig an den Küchentisch zurück. Die Betonung liegt dabei auf „jeden“ überflüssigen Handgriff.
So eine Klopapierrolle hielt bei uns gute zwei Wochen.
Damals war man halt noch nicht so pingelig, für etwas trug man schliesslich Unterhosen. Eine pro Kind reichte völlig, man musste sie ja nicht immer gleich herum tragen. Getauscht wurde grundsätzlich nur, wenn die alten Unterhosen bereits in Fetzen am Körper hingen. Und selbst dann durfte man nur die alten Unterhosen seines Bruders austragen. Schön eingetragen und markiert mit dem damals üblichen Liebowitz’schen Corporate Design. Mit ähnlichen Streifen hatte es ja auch ein grosser Sportartikelhersteller zu Berühmtheit gebracht. Nur, dass diese etwas prominenter auf den Hosen platziert waren und auch von der Farbvielfalt her mehr zu bieten hatten als Braun auf Weiss. Zudem kamen sie ohne Eigengeruch daher, was der Popularität des Designs auch nicht geschadet haben dürfte.
Schön eingetragene Unterhosen mit Racing Streifen, eine Mutter, die sich sogar mit einem unterhielt, wenn sie auf dem Plumpsklo sass, Eltern, die viel Zeit für ihre Kinder hatten, das hatte schon was. Armut und gemeinsame Unterwäsche verbindet eben.
Gegen so etwas konnte damals noch nicht einmal mein Mitschüler Tristan anstinken.
Der Schnösel war zwar Einzelkind und Sohn eines Rektors einer Privatschule in der Gegend, aber obwohl er von seinem Vater ständig mit dem Porsche durch die Gegend gekarrt wurde, kam es, nicht nur mangels passendem Equipment, sicher nie zu einem Plumpsklo-Schwatz in trauter Familienrunde. Die Ärmsten hatten nämlich noch nicht einmal ein Plumpsklo. Es gibt eben Dinge, die man sich mit Geld nicht kaufen kann.
Zugegeben, dass uns Plumpsklo Geruch um die Nase wehte, während wir uns die Bäuche vollstopften, war eher selten der Fall. Zwar mangelte es nicht am Plumpsklo Geruch, welcher, da billig, massenhaft vorhanden war, aber wir hatten schlichtweg nichts zu beissen. Die Gelegenheiten zu einem Schwatz mit Plumpsklo-Odeur hielten sich also schon alleine deswegen in Grenzen. Und wenn es was zu beissen gab, stand meist ohnehin bloss dünner Zichorien Kaffee und trocken Brot auf dem Speiseplan, manchmal sogar mit Marmelade in der beliebten Geschmacksrichtung „Brombeer-Plumpsklo“. Dazu gab es von Mäusen angefressenes Brot, welches, mit zahlreichen Mauskötteln garniert, auch gut als Vielkorn-Biobrot hätte durchgehen können.
Die frugale Kost hatte weitreichende Auswirkungen. Dazu gehörte, dass Mama immer weniger Gelegenheit hatte, am Herd zu stehen. So schwang sie den riesigen Kochlöffel bald nur noch, um uns damit den Hintern zu versohlen. Das soll nun nicht heissen, dass sie eine schlechte Köchin war, ganz im Gegenteil. Nur gab es nach dem verfrühten Ableben unserer beiden Hasen kaum mehr Gelegenheiten, bei welchen sie ihre Kochkunst hätte unter Beweis stellen können. Aber wenn, dann konnte sie aus jedem überfahrenen Dachshund noch ein leckeres Ragout zaubern. Und manchmal, so meine Vermutung, wohl auch nur aus Hund, ganz ohne Dachs. Hätten wir an der Autobahn gelebt, würden wir heute wohl alle an Gicht leiden, so aber blieb Fleisch ein seltener Genuss. Nicht nur darum wird der Nationalfeiertag, an dem Tante Gerti eine Wurst für jeden spendierte, wohl für immer unvergessen bleiben.
An diesem Nachmittag hatte sich die ganze Familie auf der Wiese versammelt, um die Ankunft der mit Spannung erwarteten Würste..
Entschuldigung, noch mal von vorn.
..um die Ankunft der mit Spannung erwarteten Tante Gerti mitzuerleben.
Als Tante Gerti dann endlich den Pfad hinaufschnaufte, umringten wir sie aufgeregt und versuchten, einen Blick auf ihre kostbare Fracht zu werfen. Selbst Papa bereitete seiner Schwester für einmal einen erstaunlich emotionalen Empfang und umarmte sie stürmisch.
„Ja, das Hertilein“, rief er, während er hinter ihrem Rücken in die Einkaufstasche schielte, „ja, wenn das mal keine Überraschung ist. Was hast du denn da Feines?“
Wir warfen uns verwunderte Blicke zu. Nachdem uns Papa schon eine Woche lang mit dem Spruch „und am ersten August kommt Tante Gerti und bringt uns allen feine Servelats“ den Mund wässrig gemacht hatte, konnte das für ihn so eine Überraschung nicht sein. Aber es sollte noch dicker kommen.
„Ja, was denkst du denn, Servelats natürlich“, verriet Tante Gerti und strahlte stolz in die Runde. „Und zwar eine für jeden.“
Wie erwartet, sorgte ihre Ankündigung für Freudentaumel bei den Kindern, während Papa zwar auch taumelte, sich dabei aber theatralisch an sein Herz griff.
„Servelats? Du hast uns..“ stammelte er ergriffen, während er sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischte, die aber keiner sehen konnte. „Also, das hätte ich ja nie erwartet, hätte ich das.“ Er leckte sich über die Lippen. „Äh, soll ich dir die Tasche abnehmen?“
„Untersteh dich“, rief Tante Gerti und schlug lachend Papas Hand weg, die er bereits nach den Würsten ausgestreckt hatte. „Bis heute Abend rührt die keine an, dass du’s grad weisst.“ Sie wedelte spielerisch mit dem Zeigefinger. „Und das gilt auch für dich, Hermann. Ich kann mich noch gut genug an unsere Feiertage erinnern, wo du mir alles weggefressen hast.“
Und mit diesen Worten packte sie die Tasche fester und liess sich von uns ins Haus eskortieren, wo die wertvolle Fracht in den Vorratsschrank wanderte. Es folgte eine semi-offizielle Amtshandlung, während dieser Mama den Küchenschrank feierlich verschloss und den Schlüssel mit grosser Geste in der Tasche ihrer Schürze verstaute. Und zu guter Letzt bezog Papa auch noch mit seinem Kleinkalibergewehr vor dem Schrank Stellung und liess diesen bis am Abend keine Sekunde aus den Augen. Oder zumindest nur dann, wenn er sich zur Stärkung einen Schluck Bier genehmigte, was schon ab und zu mal vorkam.
Wir hingegen wanderten alle naselang in die Küche und schlichen uns unter einem Vorwand zum Vorratsschrank, um zumindest den herrlichen Geruch der knackigen Cervelats einzuschnuppern. Bis es Papa schliesslich zu bunt wurde. Wild brüllend und sein ungeladenes Kleinkalibergewehr schwenkend warf er uns hinaus und schloss auch noch die Türe zur Küche ab. Also verzogen wir uns, begleitet von Tante Gerti, nach draussen und versuchten uns mit verschiedenen Spielen abzulenken, was uns nicht so recht gelingen wollte. Immer wieder schielten wir zur Sonne, die sich heute, an diesem ersten August, besonders viel Zeit zu nehmen schien, bis sie endlich hinter dem Horizont verschwand.
So lange wollten wir nicht warten. Schon beim ersten Anzeichen einer Dämmerung rannten wir zurück in die Küche und verlangten polternd nach Einlass. Papa hatte uns schon erwartet und führte die Prozession mit geschultertem Gewehr auf die Wiese vor dem Haus. Zuerst musste natürlich ein Lagerfeuer errichtet werden, welches in Rekordzeit vor sich hin prasselte. Dann zückten wir unsere Spiesse, die wir am Nachmittag schon zurechtgeschnitten hatten. Mit diesen stellten wir uns wie Soldaten in einer Reihe auf und liessen uns von Tante Gerti, die einem General gleich die Reihen abschritt, je eine Wurst auf den Spiess stecken. Nachdem dies erledigt war, zückte Tante Gerti zufrieden grinsend ihren Fotoapparat und machte ein Bild, welches lange unser Fotoalbum zieren und, soviel sei schon verraten, zum Alptraum zukünftiger Besucher avancieren sollte.
Das damals entstandene Foto zeigt eine Grossfamilie, die stolz und mit glänzenden Augen ihre auf einen Ast gespiessten Würste in die Kamera hält. Es fällt allerdings auch auf, dass die glänzenden Augen nicht auf die Kamera, sondern auf die Würste gerichtet sind. Und wenn man genau hinsieht, kann man auch einige Zungenspitzen sehen, die sich über feuchte Lippen lecken.
Das war kurz, bevor Papa endlich den Startschuss gab. Danach herrschte nur noch Chaos.
Sofort entbrannte ein wildes Gerangel um die ersten Plätze am Lagerfeuer, bei dem es hart zur Sache ging. Jeder kämpfte gegen jeden, wobei wir die Rechnung ohne die Mädchen gemacht hatten. Diese stürzten sich gemeinsam auf uns Jungs und wenn Tante Gerti nicht entschlossen dazwischen gegangen wäre, hätte es übel enden können. Ich verlor bei dem Handgemenge einen Schneidezahn und nur seinen gestählten Reflexen ist es zu verdanken, dass mein Bruder German nicht ein Auge verlor. Am schlimmsten jedoch traf es Hans, der um seinen rechten Arm fürchten musste, weil sich die zahlreichen Bisswunden auf demselben zu entzünden drohten. Die Gemüter beruhigten sich erst wieder, als die Würste in unseren Mägen verschwunden waren, was in den seltensten Fällen mehr als zehn Sekunden in Anspruch nahm. Danach zeugten nur noch ein Foto und ein paar leere Spiesse, von denen sogar die Rinde genagt war, von dieser unrühmlichen Episode in der sonst auch nicht viel ruhmreicheren Geschichte der Familie Liebowitz.