Читать книгу Kindsjahre - Sebastian Liebowitz - Страница 4
Im Wohlstandsexil
ОглавлениеDie Sonne war schon längst hinter den Bergen verschwunden, als wir nach einer halbstündigen Autofahrt endlich das Haus betraten, welches für die nächsten Wochen mein Heim werden sollte. Aber vielleicht hatte sie sich auch bloss vorzeitig aus dem Staub gemacht, weil sie ahnte, was uns beiden blühte. Die Haustür war nämlich kaum hinter uns ins Schloss gefallen, da wurden wir schon von einer Dame um die fünfzig abgefangen, die aus der Küchentüre gestürmt kam. Angriffslustig einen Kochlöffel schwenkend, baute sie sich vor uns auf und wollte dann von dem netten Herrn wissen (und zwar sofort), was ihm eigentlich einfalle, so spät erst nach Hause zu kommen. Dabei streifte sie mich mit einem flüchtigen Blick, der anschliessend etwas ratlos zu der bereits geschlossenen Haustür wanderte. Ihr war nicht entgangen, dass der nette Herr die Tür bereits hinter uns abgeschlossen hatte, womit sich die Anzeichen mehrten, dass mein Besuch wohl von dauerhafter Art war. Dem netten Herrn wiederum war dieser Blick nicht entgangen und so bemühte er sich um Aufklärung, während er verlegen den Hut in seiner Hand begutachtete. Leider beschränkte er sich bei seinen Ausführungen auf die harten Fakten und hielt sich mit Zusatzinformationen, die ein Licht auf meine Anwesenheit hätten werfen können, etwas zurück. Eine nicht ganz zweckdienliche Herangehensweise, wie sich bald zeigen sollte.
„Und das ist der Sebastian, der ab jetzt eine Weile bei uns wohnen wird“, verkündete er und legte mir dabei unbeholfen die Hand auf die Schulter. Ganz so, als ob es da ausser mir noch jemanden gegeben hätte, auf den diese Beschreibung hätte zutreffen können.
Diese Worte sollten der streitlustigen Dame für einen Moment den Wind aus den Segeln nehmen. Sie schnappte nämlich nach Luft und wäre wohl rücklings auf den Hinterkopf gefallen, wäre ihr der Türpfosten nicht im Weg gewesen. So lehnte sie sich mit wogendem Busen an denselben und riss ihre Augen auf, um mich mit denselben ungläubig anzustarren. Nachdem sie den ersten Schreck überwunden hatte, ging sie schnell auf mich zu, packte mich mit finsterer Miene an den Schultern und drehte mich einmal rundherum. Vermutlich suchte sie dabei nach einer Retouradresse auf meinen Rücken, die im ganzen Trubel allerdings wohl vergessen worden war.
Nach einem vielsagenden Nicken in Richtung der Küchentür von ihrer und einem zuversichtlichen Nicken in meine Richtung von seiner Seite liessen mich die beiden schliesslich im Gang stehen und verzogen sich in die Küche. Dabei liessen sie die Tür einen Spalt offen, was mir sehr zupass kam, konnte ich doch so alles verstehen, was die beiden da tuschelten.
Es war eine weibliche Stimme, die den Schlagabtausch eröffnete.
„Sag mal, hast du jetzt eigentlich völlig den Verstand verloren? Und du sagst mir jetzt sofort, wieviel du wieder getrunken hast, und zwar auf der Stelle.“
„Naja, nur so ein..“
„Aha, wusst ich’s doch. Der Herr hat sich wieder einmal sinnlos volllaufen lassen.“
„Aber..“
„..und weil man gerade nichts Besseres zu tun hat, schleppt man irgendein Kind an, was man auf der Strasse aufgelesen hat.“
„Wieso denn ‚auf der Strasse aufgelesen‘? Ich hab..“
„Nichts hast du. Schleppt mir einfach irgendein wildfremdes Kind ins Haus. Ich glaub es nicht. Ich-glaub-es-nicht.“
„Ich dachte mir..“
„Ja, ‚denken‘ sagt er. Ich wünschte mir, du würdest einmal dein Hirn einschalten, bevor du so einen Blödsinn machst. Und was soll denn deiner Meinung nach jetzt mit dem Kind passieren, ha? Na, los, ich warte.“
„Man…“
„Man, sagt er ‚man‘. Du weisst genau, dass wieder alles an mir hängen bleibt. Du verziehst dich ja jeden Morgen und kommst erst am Abend wieder. Dir kann ja egal sein, wie es derweil um deine Frau steht.“
„Ich muss ja schliesslich zur Arbeit..“
„‘Arbeit‘, sagt er, und sitzt dabei den ganzen Tag im Büro auf seinem faulen Hintern. Ja, denkst du denn, was ich mache, ist etwa keine Arbeit? Als Anita damals ihre Zähne bekommen hat, ja denkst du, der Herr hätte sich einmal bemüht und wäre in der Nacht aufgestanden? Die ganze Nacht durchgeschnarcht hat er, der Herr.“
„Aber das geht jetzt wirklich..“
„Ach, erzähl mir doch keine Geschichten. Und jetzt denkt er, er könne einfach irgendeinen verwahrlosten Balg ..“
Hier nun verlor ich etwas den Faden, weil mir das Wort „verwahrlost“ Rätsel aufgab. Bei „Balg“ war ich mir ziemlich sicher, dass ich gemeint war, aber „verwahrlost“? Ich sah an mir herunter und betrachtete meinen von Flecken übersäten Pullover mit den löchrigen, viel zu langen Ärmeln. Dann wanderte mein Blick weiter zu meinen Knien, die aus den durchgeschabten Hosen lugten und landete schliesslich auf meinen nackten Füssen, die so dick mit Dreck überzogen waren, dass sie auch als Schuhe hätten durchgehen können. Und während ich noch grübelte, was es mit diesem „verwahrlost“ auf sich haben könnte, bemühte sich der Inhaber der männlichen Stimme weiterhin redlich, seine Frau von den Vorteilen einer temporären Inobhutnahme eben diesen „verwahrlosten Balgs“ zu überzeugen.
„Ach komm schon, du kannst den armen Buben doch nicht einfach so aburteilen, nur, weil er ein bisschen dreckig hinter den Ohren ist. Sicher hat er schon länger keine Seife mehr gesehen, aber die Familie des Kleinen ist nun mal bettelarm. Du hättest sehen sollen, in was für ärmlichen Verhältnissen die Familie lebt.“ Das hatte er zwar auch nicht, aber das hatte er ja auch nicht behauptet. „Sieh doch nur“, säuselte er weiter, „es ist ja schon acht Uhr vorbei. Wir können das arme Kind doch nicht mitten in der Nacht wieder nach Hause schicken. Der Bub ist sicher hundemüde und schon halb verhungert. Ich sag dir, die Ärmsten leben von der Hand in den Mund, der Vater ein armer Hilfsarbeiter, der kaum Geld nach Hause bringt..“ (dass er hier nicht „weil er den Rest gleich immer versäuft“ hinzufügte, fand ich sehr raffiniert von ihm) „..und sein Kind in eine fremde Familie geben zu müssen, bricht ihm das Herz. Er weiss aber auch, dass dieser verzweifelte Schritt in der momentanen Situation das Beste für den Buben und die Familie ist.“
Mir dämmerte langsam, dass so ein Gespräch zwischen Mann und Frau gewissen Regeln folgte, die ich jedoch nicht ganz verstand. Sicher würde es einen Grund haben, dass der nette Herr seiner Frau an dieser Stelle nichts von der Runde erzählte, die Papa „zur Feier des Tages“ hatte springen lassen, weil er „endlich einen Dummen gefunden habe, der ihm den Rotzlöffel abnehme“. Stattdessen sprach er weiter mit Engelszungen auf seine Frau ein.
„Ich mach dir einen Vorschlag“, flötete er, „lass den Buben doch diese Nacht hier schlafen. Morgen sehen wir dann weiter. Wenn du den Buben partout nicht hier haben willst, sagst du es ihm und ich bringe ihn wieder zu seiner Familie. Es wird natürlich ein herber Rückschlag für die Armen sein, die nun wieder ein Maul mehr zu stopfen haben und der Bub wird wohl auch ein paar Tränen vergiessen, aber wenn es nun mal sein muss…“
Mit diesem unterschwelligen Appell an ihre Mildtätigkeit hatte er einen deutlichen Punktsieg gelandet. Für ein paar Sekunden war es ruhig.
„Mh, also gut“, lenkte die weibliche Stimme schliesslich ein. „Aber nur eine Nacht. Damit ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, lass dir das gesagt sein.“
Dann machte die Dame des Hauses ihrem Ehemann noch einmal unmissverständlich klar, dass sie auf ein unbefristetes Rückgaberecht bestehe, sollte die Ware sich als mangelhaft herausstellen. Oder, wie sie es ausdrückte, „uns der Bengel noch das Dach über dem Kopf anzündet“.
Kurz darauf traten die beiden wieder aus der Küche, er lächelnd, sie mit einem entschlossenen Zug um die Mundwinkel. Bevor ich wusste, wie mir geschah, hatte mich die Dame schon an den Schultern gepackt und in einen Waschzuber gesteckt, während meine verlausten Lumpen im Ofen ein lustiges Feuerchen abgaben. Nach zahlreichen Waschgängen mit 40 Grad und mit frisch ausgekämmten Haaren muss ich recht passabel aus der von der Nachbarsfamilie geliehenen Wäsche geschaut haben. Die Leihaktion war notwendig geworden, nachdem das Veto meines Gönners die Ausstaffierung meiner Wenigkeit mit den von der Tochter zurückgelassenen Kleidungsstücken verhindert hatte. Obwohl die Dame des Hauses mit einem geblümten Rock liebäugelte, der, wie sie meinte, hervorragend zu meinen Locken passen würde, musste sie dann am Ende doch zugeben, dass mir ein Paar Cordhosen auch nicht schlecht standen.
Nachdem sie mein Äusseres zu ihrer Zufriedenheit generalüberholt hatte, war es an der Zeit, sich um mein leibliches Wohl zu kümmern. Ich wurde gründlich mit köstlichen Würstchen und herrlichem Kartoffelsalat vollgestopft, die ich mit Unmengen von süsser Limonade hinunterspülte. Etwas zu gierig, wie ich bald merkte. Mein Magen war sich die reichliche Kost natürlich nicht gewöhnt und rebellierte rumorend gegen die unvertraute Nachtschicht. Erst, als sich der Speisebrei seinen Weg die Speiseröhre hinauf zurück in meinen Mund zu suchen drohte, wurde mir bewusst, dass es vielleicht doch nicht so eine gute Idee wäre, jetzt auch noch den Teller leer zu schlecken. Gesättigt lehnte ich mich zurück und warf einen schläfrigen Blick auf meine Gönner. Das letzte, an was ich mich erinnern kann, ist das zufriedene Lächeln, welches die Dame des Hauses ihrem Gatten zuwarf, bevor ich sanft einschlummerte.
In den kommenden Tagen sollte jedoch nicht nur das überreichliche Nahrungsangebot, sondern auch der Umgangston, der im Hause herrschte, für Wohlgefallen sorgen.
Er redete seine Frau stets liebevoll mit „Mutter“ an, hing nicht in Kneipen rum und wenn er mal pieseln musste, öffnete er nicht einfach das nächstbeste Fenster, sondern ging aufs Klo. Zumindest nahm ich das an, denn er hielt sich eher bedeckt, was seine Pinkelgewohnheiten anging. Zudem hatte er immer ein Lächeln auf den Lippen, grad so, als würde er sich stets über das amüsieren, was in der Welt um ihn herum vorging.
Sie wiederum redete ihren Mann liebevoll mit „Vater“ statt „Saufkopf“ an und benutzte den Teppichklopfer nur für den Teppich, statt damit den Hintern eines Kindes zu malträtieren. Bei uns zuhause war das grad umgekehrt. Eine Zweckentfremdung, die sich aufgrund des Überangebots an Kinderhintern geradezu aufdrängte, wohingegen wir keinen einzigen Teppich unser Eigen nennen konnten.
Natürlich waren gewisse Konzessionen meinerseits notwendig, um mein dauerhaftes Verbleiben in dieser Idylle zu sichern. So liess ich mir zum Beispiel meine Haare weiter wachsen, um der Illusion einer Quasitochter statt eines Adoptivsohnes wenigstens einigermassen gerecht zu werden. Zwar nur von hinten, aber immerhin. Von vorne klappte das nicht ganz so gut, aber das Leben ist ja schliesslich kein Wunschkonzert. Zudem bemühte ich mich um einen gepflegten Jargon, denn mit den Ausdrücken, die ich zuhause aufgeschnappt hatte, liess sich in diesem Haushalt schlecht punkten. Somit musste sich auch die Auflösung des Rätsels „was ist ein versoffener Schafspimmel“ (ein Begriff, den ich bei meiner Mutter aufgeschnappt hatte) noch einige Jährchen gedulden und auch mit den väterlichen Trinksprüchen wie „Statt nur blöd herumzufurzen, kipp ich lieber einen Kurzen“ hielt ich mich vorerst zurück. Sowas hörte man hier nur ungern, speziell bei Tisch.
Wobei es sich bei dem „hier“ um ein wunderschönes Doppeleinfamilienhaus in einer gepflegten Siedlung handelte. Dort standen die schmucken, weissen Fachwerkhäuschen in Reih und Glied und glichen sich wie ein Ei dem anderen, was der Gegend auch ein bisschen den Anstrich von einem Sozialprojekt gab.
Ein Begriff, der auch auf mich gepasst hätte, denn neu eingekleidet, mit Schuhen versehen und vom Dreck befreit, hatte mein neues „Ich“ wenig Ähnlichkeit mit dem rotznasigen Bengel, den „Vater“ vor ein paar Tagen aufgelesen hatte. Rotznasig war ich zwar immer noch, aber statt in den Ärmel des Pullovers zu schnäuzen, benutzte man hier Stofftücher, die man speziell für diesen Zweck bei sich trug. Das schöne, rundum bestickte und mit Initialen versehene Stofftuch nur für diesen Zweck zu verwenden, hielt ich jedoch für Verschwendung und so sinnierte ich über weitere Einsatzmöglichkeiten dieses so unterbewerteten Tuchs nach. Die Tatsache, dass es hier auf dem Klo spezielles Papier gab, mit dem man sich den Hintern abwischen konnte, nahm mir zwar etwas den Wind aus den Segeln, aber ich konnte bald mit zahlreichen anderen Ideen aufwarten. Aber was auch immer ich mir einfallen liess, meine Bemühungen, das Teil einer universelleren Bestimmung zuzuführen, stiessen stets auf Ablehnung.
So war „Mutter“ wenig erfreut, als ich ihr eines Tages mit meinem Schnupftuch beim Geschirrtrocknen zur Hand ging und auch als Brillenputztuch für „Vater“ konnte ich damit nicht wirklich punkten. Umgekehrt konnte er es nicht ausstehen, wenn man in dasselbe schnäuzte, was ich sehr seltsam fand.
Und auch meine Idee, mein Schnupftuch als Serviettenersatz bei einem der seltenen Restaurantbesuche zu verwenden, fand keinen Anklang. Womit sich auch das etwas säuerliche Lächeln der Serviertochter erklärte, als ich ihr stolz den mittlerweile recht verklebten Stoffballen unter die Nase hielt.
Dass man in einem Wirtshaus nicht nur trinken, sondern auch essen konnte, war mir hingegen neu, und auch zahlreiche andere Verbesserungen meiner Lebensumstände sollten bei mir für Wohlgefallen sorgen. Im Vergleich zu zuhause lebte es sich bei meinen Ersatzeltern nämlich wie im Schlaraffenland. Jeden Tag schlug man sich pünktlich morgens, mittags und abends den Bauch voll und vor dem Zubettgehen gab es sogar noch ein Täfelchen Schokolade. Und am Sonntag gab es immer Hefekuchen zum Frühstück und Rindsbraten zu Mittag satt.
Dieses Schlemmerleben mochte ich bald nicht mehr missen.
Ich wünschte mir, ich könnte dasselbe vom Kirchenbesuch behaupten, zu dem man mich gleichentags nötigte.