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ОглавлениеKAPITEL 3
Das zweite Satori und sich selbst feiern lernen
Das zweite Satori
Als ich drei Jahre alt war, zog unsere Familie von Oxford in England nach Hawaii. Mein Vater trat eine Professorenstelle in Vergleichender Religionswissenschaft an, mit den Religionen Indiens als Spezialgebiet. Zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen gehören seine Vorlesungen, in die ich mitgehen durfte. Eines Morgens sprach er über den Taoismus und über Zen. Sein Thema war der chinesische Begriff des Wu Wei – Handeln, ohne etwas zu erzwingen. Das Wort »Wu« bedeutet»nicht« oder »ohne«, und »Wei« kann mit »handeln« oder »tun« übersetzt werden. Der Begriff bezieht sich also sowohl auf das Nichthandeln als auch auf das Handeln im Einklang mit der Natur, ohne jeden Zwang.
Stell dir vor, du hältst die Blüte einer Blume in der Hand. Wenn dein Griff zu leicht ist, fliegen die Blütenblätter davon. Wenn er zu fest ist, zerdrückst du sie. Wu Wei, Handeln ohne Zwang, ist ein Beispiel für Anmut. Es veranschaulicht außerdem ein Paradox, das eigentlich jeder Aktivität innewohnt. Wenn du dich in einer Beziehung nicht genug deinem Partner zuwendest, läuft sie Gefahr, schwächer zu werden und zu zerbrechen. Wenn du hingegen deinem Partner nicht genug Raum lässt und sie oder ihn erdrückst, auch dann zerstörst du die Beziehung. Das gilt auch für unwillkürliche und unbewusste alltägliche Handlungen, wie eine Unterschrift leisten, küssen, schlucken, atmen, sexuelle Erregung, jemanden zu grüßen oder sogar beim täglichen Stuhlgang. Wenn du willst, dass eine Katze zu dir kommt, musst du ihr schmeicheln und gut zureden.
Mein Vater wollte dieses Paradox in seiner Vorlesung vor etwa zweihundert Studenten demonstrieren. Er nahm dazu ein Blatt Papier und zerknüllte es. Dann erklärte er, dass er nun versuchen werde, es in den Papierkorb zu werfen, der sich am anderen Ende der Bühne des Auditoriums befand. Er zielte genau, warf das Knäuel in Richtung Papierkorb und verpasste ihn, wie nicht anders zu erwarten war, um einen oder zwei Meter. Er hob das Papier wieder auf, ging an seinen Ausgangspunkt zurück und sagte: »Jetzt versuche ich es noch einmal, aber diesmal im Sinne des Wu Wei. Das heißt, ich muss mich nur völlig entspannt auf den Moment einlassen und präsent sein. Ob ich treffe oder nicht, ist dabei belanglos.« Dann drehte er sich herum und sagte: »Natürlich wird es wahrscheinlich nicht klappen, aber …« Und wie absichtslos warf er das Papierknäuel über seinen Rücken in Richtung Papierkorb hoch durch die Luft.
Hast du jemals das Gefühl, dass ein gerade vergangenes Ereignis unbedingt genauso eintreten musste, wie es passiert ist, dass es aber, falls es sich eine Million Mal wiederholen würde, in Millionen Varianten dieses Universums, jedes Mal eine leicht veränderte Version des Geschehens geben würde, allerdings mit genau demselben Ergebnis? Ähnlich wie am Beispiel des Schicksals und der Hand, die sich dir entgegenstreckt, gelingt es auch hier der lebendigen Schöpferkraft, eine Furche der Schönheit in den Acker der Zeit zu graben. Das ist die Natur der Schöpferkraft. Sie kann sich beim Backen eines leckeren Kuchens ausdrücken oder in der anmutigen Landung eines Vogels auf einem Zweig. Mit ihrer Hilfe werden Babys gezeugt und sie ist der Prozess, durch den sich der universale Geist manifestiert, in dir und durch dich.
Die Papierkugel landete im Papierkorb. Von den Studenten war kein Ton zu hören. Es war, als sei der Wurf einer ewigen Schleife der Unvermeidlichkeit gefolgt. Mein Vater reagierte verwundert auf diese Ironie: »Mein Gott, es ist wirklich passiert.« Er und ich hatten für einen Moment Blickkontakt. Das war mein zweites Satori.
Satori ist ein buddhistischer Begriff, der aus dem japanischen Wort »satoru – verstehen« abgeleitet ist. Der Ausdruck bezieht sich auf einen Moment des Erwachens, eines plötzlichen und totalen Verständnisses. Wenn der Boden eines Eimers durchfällt, verliert der Eimer das ganze Wasser auf einmal. Plötzlich verstehst du, so wie dich die Pointe eines Witzes trifft. Du verstehst, ohne darüber nachdenken zu müssen. Alles wird klar in diesem Augenblick, wie in einem Aha-Erlebnis. Es kommt plötzlich und unerwartet. Es ist, als werde ein elektrischer Schaltkreis geschlossen.
Wenn sich dieser eine Augenblick in unzähligen Variationen und in einer unendlich großen Anzahl von möglichen Universen wiederholen würde, dann wäre Satori die sofortige und unmittelbare Erkenntnis der einen Wahrheit, die gleichzeitig in all diesen Varianten sichtbar wird. Äußerlich nehmen alle Varianten eine andere Form an. Das Erwachen jedoch, also der Prozess, durch den der Geist sich selbst anerkennt, klingt durch alle auf identische Weise hindurch. Diese Erkenntnis ist das Satori.
Sich selbst feiern lernen
In der Grundschule und dann auch später auf dem Gymnasium fühlte ich mich stark zum Theater hingezogen. Mir gefielen sowohl die Aufwärmübungen als auch das Theaterspielen selbst, da beides mir erlaubte, tiefere Muster des Werdens zu entdecken. Die Übungspraxis in der Theaterwerkstatt bot mir zum allerersten Mal die Gelegenheit, so etwas wie eine gemeinschaftliche Meditation zu erleben. Wenn die üblichen Schranken fallen – Alter, Klassenunterschiede, Geschlecht, Rasse, Religion und Nationalität –, dann kann man sich selbst in einer Atmosphäre größerer Freiheit besser kennenlernen und man braucht weniger Angst davor zu haben, dass man von anderen verurteilt wird.
Charakteristisch für diese Atmosphäre ist, dass man sich einander unvoreingenommen begegnen kann. Oft wissen die Teilnehmer am Anfang nichts übereinander und können daher vorurteilsfrei miteinander umgehen. Es ist, als sei man die unausgesprochene Vereinbarung eingegangen, zusammen einen Raum für freien Selbstausdruck und Selbsterforschung zu schaffen. Hier sind die Beziehungen zueinander dynamisch, humorvoll, authentisch, intim und somit förderlich für persönliches Wachstum. Jeder erlaubt dem anderen, sich frei auszudrücken, ohne von kulturbedingten Vorannahmen eingeschnürt zu sein. Es wird dann möglich, sich einander mit aufrichtiger Neugier zu begegnen. Wäre es nicht wundervoll, wenn wir Menschen im Allgemeinen in der Lage wären, so miteinander umzugehen? Eine derartig energische und gleichzeitig einfühlsame Haltung wäre eine Methode, die zur gegenseitigen Befreiung führt. Wie viele intime und intensive Beziehungen könntest du zu ganz verschiedenen Menschen haben, wenn es auch im alltäglichen Leben eine solche unausgesprochene Vereinbarung gäbe wie im Theater.
Der deutsche Psychologe Fritz Perls machte die sogenannte Gestalttherapie populär. Ziel dieser Therapie ist es, die Bewusstheit zu schärfen. Dazu gehört es, die eigenen Gefühle besser zu erkennen, Empfindungen in dem Moment wahrzunehmen, in dem sie auftauchen, und größere Aufmerksamkeit darauf zu richten, was im zwischenmenschlichen Umgang von Augenblick zu Augenblick emotional passiert. Perls Grundidee war, dass jeder Mensch untrennbar von seiner Umwelt ist. In diesem Sinne sind Selbsterkenntnis, das Verstehen der Mitmenschen und das Verstehen des Kontextes, sowohl innerlich als auch äußerlich, Aspekte ein und desselben Prozesses. Es ist nicht verwunderlich, dass Perls sich auch besonders für die Schauspielkunst interessierte. In der Theaterpraxis gibt es viele Übungen, durch die man seine Kommunikationsfähigkeit verbessern kann, besonders was Kreativität und Spontaneität betrifft.
Eine der Theaterübungen, die Perls an die Gestalttherapie angepasst hat, heißt »leerer Stuhl«. Ein Patient oder Klient sitzt einem unbesetzten Stuhl gegenüber. Er stellt sich vor, dass jemand auf diesem Stuhl sitzt – das kann eine andere Person sein oder aber auch ein Teilaspekt des eigenen Ich. Die Übung besteht darin, dass der Klient dann mit der in der Fantasie vorgestellten Person kommuniziert. Dadurch, dass die andere Person oder die personifizierten eigenen Gefühle und Gedanken auf den leeren Stuhl projiziert werden, können Dinge ausgedrückt und näher untersucht werden, die ansonsten unterdrückt blieben. Im zweiten Schritt kann sich dann der Klient auf den leeren Stuhl setzen und die Rolle des anderen spielen. Der Effekt dieser Übung kann es sein, dass man widersprüchliche Teilaspekte in sich selbst versöhnt oder dass man seine Perspektive in Hinsicht auf die Beziehung zu einem anderen erweitert. Dieselbe Übung gibt es in verschiedenen Varianten, mit oder ohne Stuhl oder mit anderen Requisiten. In jedem Fall geht es darum, eine Erfahrung ins Hier und Jetzt zu bringen, um sie dann untersuchen und verarbeiten zu können. Genau das ist auch die Aufgabe des Schauspielers, wenn er oder sie eine Rolle verkörpert. Es ist auch die Aufgabe eines Menschen, der sich vollständig auf das Leben einlassen will.
Als ich klein war, las ich oft Comics aus Indien, in denen zahlreiche Menschen, Götter, Göttinnen, Krieger, Dämonen, anthropomorphe Wesen und Tiere vorkamen. Viele der Geschichten aus der vedischen und hinduisti- schen Tradition hatten ein Thema gemeinsam: die Fluidität, mit der verschiedene Wesen sich zwischen allen Daseinsebenen ein- und ausbewegen. Die Schöpfungskraft des Lebens drückt sich auf unendlich vielfache, wild kreative Weise aus. Somit bist du ein Avatar Gottes, der ursprüngliche Ausdruck einer Stimme, die niemals wieder auf exakt dieselbe Weise wiedergegeben werden kann, genauso wie eine mythologische Figur in einem Theaterstück, dessen Autor du bist und in dem du selbst mitspielst, als Schauspieler, dessen Aufgabe es ist, den gegenwärtigen Augenblick hervorzubringen. Du bist beides, das Geschöpf und der Schöpfer, der unentbehrliche Mitarbeiter an der Erschaffung neuen Lebens.
In dem Augenblick, in dem es dir klar wird, dass genau das deine Rolle ist, wird das Leben zu einem großen Abenteuer. Das, was du als Beitrag bringst, kann von keinem anderen gebracht werden. Niemand kann dich kopieren. Diesen Beitrag zu bringen, ist also nichts weniger als eine göttliche Aufgabe.
Martin Buber stellte die Teilnahme am Leben in den Kontext der Beziehung zwischen dem Ich und dem Du. Das Du ist dabei das Auge Gottes, der Puls allen Seins, die Heiligkeit der Schöpfung. So wie du der Chefkoch bist, der ein göttliches Mahl kocht, bist du das süße Salz, welches die Essenz des Mahles ausmacht. Und ebenso bist du der Dirigent des Symphonieorchesters und gleichzeitig der Musiker, der die erste Geige spielt. Und genau jetzt, in dem Augenblick, in dem du diese Worte liest, bist du das Christuskind, das im Begriff ist, geboren zu werden, und du bist auch die Hebamme, die bei seiner Geburt assistiert. Wenn du im Wald stehst, kannst du die Rinde eines Baumes bewundern, dem Wind zuhören, wie er die Äste verbiegt, die kühle Brise auf deiner Haut spüren und den Duft verborgener Blumen sanft und sacht in deine Nasenlöcher einlassen. Du spürst und empfängst und nimmst diesen Wald in dich auf und genauso spürt und empfängt und nimmt er dich auch in sich auf. Ihr kommt beide von demselben Nichts und bewegt euch durch dasselbe All. Du bist ich und du bist du, du bist verschieden und doch gleichzeitig ein und dasselbe.
An einem Sonntagabend, als ich ungefähr sieben Jahre alt war, veranstalteten mein Vater, mein Bruder und ich eine kleine Feier zu Hause in Hawaii. Die Orte, an denen mein Vater wohnte, waren immer durch einen bestimmten Geruch charakterisiert und mit einem speziellen Gefühl verbunden. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass er in den Siebziger- und Achtzigerjahren so stark unter dem Einfluss von Indien stand, aber auf jeden Fall gab es immer brennende Räucherstäbchen, deren Geruch sich mit dem von Marihuana und Haschisch vermischte. Dazu indische Musik im Hintergrund, mit exotischen Akkorden, Trommeln, melodischen Gesängen. Gläser rochen nach Gin, Limonen, Tonic und Rotwein, Rasierwasser und Feuerzeugbenzin. Gerösteter Knoblauch, angebrannter Curry, Holzschnitzereien und ganze Stapel alter Bücher – alles Gegenstände, die seit Jahren von diesen Gerüchen durchtränkt worden waren.
An diesem Abend war es schon sehr spät, deutlich nach Mitternacht, und am nächsten Tag mussten wir früh aufstehen, um mit meinem Vater zur Uni zu fahren. Wir hatten den ganzen Abend Karten gespielt und schließlich schlug mein Vater vor, albern und verspielt wie immer, auf die Straße zu gehen, um den Planeten Mars am Himmel zu suchen. Gerade als wir den roten Planeten durch die nebligen Wolken scheinen sahen, fing ein tropischer Regen an. Wir rannten zum Haus zurück und als wir an der Tür ankamen, hörten wir das rhythmische Klopfen der schweren Regentropfen auf dem Dach unseres einstöckigen Hauses.
Natürlich hatte mein Vater wieder den Schlüssel vergessen und wir waren aus dem Haus ausgeschlossen. Das war nicht das erste Mal, aber vorher war ich immer klein genug gewesen, um durch die Hundetür ins Haus hineinzukriechen und die Haustür von innen zu öffnen. Jetzt war ich aber nicht mehr fünf, sondern sieben, und ich passte nicht mehr durch die enge Öffnung hindurch. Daher versuchte mein Vater, das Schloss mit seiner Kreditkarte aufzumachen. Der einzige Erfolg war, dass die Alarmanlage losdröhnte.
»Es darf doch nicht wahr sein, du machst wohl Witze!«, rief mein Vater. Das »du«, zu dem er sprach, war wohl er selbst, und das »es« war das »es« in »es regnet«. Der Regen stürzte weiter herab und wir waren schon völlig durchnässt. So standen wir vor unserem Haus, um ein Uhr nachts. Der Alarm war so laut, dass wir auf die Straße zurückgingen, bis an die Ecke des Nachbargrundstücks. Der Regen wurde noch stärker, fast wie ein Monsun. Mein Bruder, der ein paar Jahre älter war als ich, fragte: »Was machen wir denn jetzt?« Mein Vater war völlig wach und gegenwärtig und hatte keine Ahnung, was zu tun war. Plötzlich rief er: »Okay, jan ken po«, was so viel bedeutete wie »Spielen wir eine Runde Schere, Stein, Papier«. »Ich verstehe nicht«, sagte ich, als mein Bruder und er tatsächlich anfingen, zu spielen. »Komm, Sebastian, spiel mit, einfach nur so«, sagte mein Bruder. Und diese Begründung ist so gut wie jede andere.
Da standen wir zu dritt, mitten in der Nacht, klatschnass an der Straßenecke. Die Alarmanlage schallte durch die Nachbarschaft, der warme, orangefarbene Glanz des Wohnzimmerlichtes fiel auf die Zufahrt zum Haus. Indische Musik spielte immer noch fern im Hintergrund und verschmolz mit dem Peitschen des Windes, dem strömenden Regen und dem schrillen Klang des Hausalarms. Wir gaben uns ganz hin, an uns selbst, einander, an die Nacht, an das Leben als Ganzes, an den ewigen Augenblick, das ewige Ich und das mystische Du … Wir spielten unser Spiel und wir lernten, uns selbst zu feiern.