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Sechstes Kapitel

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Ich muss ein paar Dinge über Tennyson Bouguereau sagen. Denn der wurde zusammengeschlagen. Was damit zu tun hatte, dass er es war, der Jas Jonski eine Weile gefangen gehalten hatte. So wurde später geredet: ein Schwarzer, der Herr über einen Weißen gewesen sei. So etwas bezeichneten diese dummen Leute als aufmüpfig. Im Henry County gab es viele Leute, die dergleichen nicht hören konnten, ohne ihn bestrafen zu wollen. Die wussten, wie man’s anstellt.

Ich war mir sicher, dass Jas Jonski sich nicht scheute, in der Stadt seine Unschuld zu beteuern. Er gehörte zu einer Gruppe junger Männer in seinem Alter, die alles ausposaunten. Ausposaunten und Blech redeten.

Ich weiß noch, wie in den alten Tagen in der Prärie auch die jungen Lakota-Burschen gemeinsam unterwegs waren. Ich vermute, junge Weiße sind genauso. Ein Mädchen bleibt mehr für sich. Dennoch erinnere ich mich an die drei Tage Tanz, wenn ein Mädchen endlich ihren Mond bekam. An das Lakota-Wort kann ich mich nicht mehr erinnern, aber es bedeutete »Mond«. Ich erinnere mich an das Singen und Tanzen und daran, wie stolz man auf die junge Frau war. Als ich meinen Mond bekam – ich muss wohl zwölf oder so gewesen sein –, war ich schon nicht mehr bei meinem Volk, ich war beim Dichter McSweny in Grand Rapids, während Thomas McNulty und John Cole in Kriegsdingen unterwegs waren. Der Dichter McSweny war dunkelhäutig, genau wie Rosalee, und ein berühmter Türsteher am dortigen örtlichen Theater. Als ich meinen Mond bekam, glaubte ich, ich müsse sterben, und er glaubte es auch. Damals war er an die neunzig Jahre alt, hätte es also besser wissen sollen. Aber wir zwei da in seinem Haus waren unwissende Geschöpfe. Er rannte zu Doc Ganley, der ein paar Türen weiter wohnte, und der Doc kam mit ihm zurückgerannt, und als er sah, wie’s um mich bestellt war, musste er lachen. Der Dichter McSweny wurde über die Tatsachen des Lebens aufgeklärt und musste eines seiner alten Bettlaken zu Binden schneiden. Das war’s aber auch schon. Kein Tanz, kein Gesang und keine Frauen, die wussten, was zu tun war.

Jas Jonski war jung wie alle anderen jungen Männer, die je gelebt haben, ob weiß, ob schwarz, ob rot. Damals wusste ich nicht, ob er es war, der Tennyson Bouguereau in der Stadt gesehen hatte. Denkbar wäre es. Unser Pferdewagen wurde halb umgestürzt im Wald aufgefunden, und die arme, noch angeschirrte Jakes, unsere beste Stute, zitterte traurig. Wenn ich mich recht erinnere, war die Stelle nicht allzu weit vom Haus des Anwalts Briscoe entfernt, und so führten einige Männer Pferd und Wagen dorthin, und ich denke, sie waren der Meinung, ihrer Pflicht damit Genüge getan zu haben. Dem armen Schwarzen, der bewusstlos auf der Straße lag, schenkten sie nicht die geringste Beachtung.

Falls Sie sich je ein Bild des Leidens gewünscht haben sollten – ein reisender Fotograf hätte eine Daguerreotypie von Rosalee Bouguereaus Gesicht anfertigen können, als sie die Nachricht erhielt. Ich stürzte auf sie zu und zog sie an mich. Sie weinte ohne Unterlass.

»Schon gut, Rosalee, sei still«, sagte Lige Magan, »wenigstens isser nich’ tot.«

Später in jener Nacht kamen John Cole und Lige Magan mit Rosalees Bruder zurück. Nachdem sie von den Brüdern Sugrue die schlimme Nachricht vernommen hatten, waren sie auf Maultieren losgeritten, und jetzt kamen sie mit denselben Maultieren zurück, hinten an den Wagen gebunden, und die große Blechlampe warf auf alles ihr Licht. Jakes, die Stute, zitterte noch immer. Ein Pferd ist ein kundiges Geschöpf. Und auf der Ladefläche des Wagens lag Tennyson Bouguereaus armer, zerschundener Körper. Sein hübsches Gesicht war voller Schrammen, blutig und geschwollen, und seine Kleider, die er immer so in Ordnung hielt, glichen den Lumpen eines Bettlers.

Deshalb wollte ich ein paar Dinge über Tennyson sagen. Tennyson Bouguereau war – zumindest bei uns – berühmt für seinen geschickten Umgang mit dem Gewehr. Lige Magan erzählte uns oft, wie Tennyson einmal einen Grashalm aufgerichtet hatte, fünfzehn Meter zurückgegangen war, sich dann umgedreht und den Grashalm mit seinem Spencer-Karabiner in zwei Teile zerschossen hatte. Lige Magan wusste diese Fertigkeit zu würdigen, war er doch in der Armee selber Scharfschütze gewesen, wenn auch kein so scharfer wie Tennyson. Tennyson Bouguereau hatte eine natürliche, gottgegebene Befähigung. Als ehemaliger Sklave durfte er natürlich nur bei sich zu Hause Waffen tragen. Für kurze Zeit hatte es für diese Sklaven etwas besser ausgesehen. Auf Farmen, für die sie nicht mehr arbeiten wollten, hatten sie ihre Werkzeuge niedergelegt. Sie hatten das Stimmrecht erhalten, nun ja, zumindest die Männer. Sie konnten einem Weißen in die Augen sehen und offen mit ihm reden. Für kurze Zeit. Jetzt schwang das Pendel wieder zurück. Wenn die schwarzen Landarbeiter nicht blieben, hatten die Farmer niemanden, der ihre Felder bewirtschaftete. Sie drehten durch. Von großen Gewaltausbrüchen war die Rede, Böses wurde gesagt und getan. Tennyson Bouguereau war ein Fürst von einem Mann. Wenn jemand Hilfe gebraucht oder ihn um Hilfe gebeten hätte, er hätte jedem geholfen.

Er konnte nicht lesen oder schreiben, aber auf Rosalees hübschem Papier konnte er dein Gesicht zeichnen. Er zeichnete gern die Rotkehlchen im Hof, und wie eine Nachtschwalbe aussah, wusste ich nur deshalb, weil Tennyson eine eingefangen hatte – auf dem Papier.

Die Männer, die ihn zusammenschlugen, interessierte das alles nicht. Die meisten Weißen sehen nur Sklaven und Indianer. Den einzelnen Menschen nehmen sie nicht wahr. Dass jeder von ihnen ein Kaiser ist für die, die ihn lieben.

An diesem Abend mussten wir Reste essen. Rosalee säuberte ihren Bruder von all dem Blut und ließ sich von Lige Magan dabei helfen, Tennyson in das schmale Schlafzimmer auf der Rückseite des Hauses zu bugsieren, in dem er schlief. Dort sollte er genesen. Ich sah, wie sie ihm das Haar mit etwas von der Pomade einrieb, die John Cole gehörte. Tennyson gab kein Wort von sich. Er war all seiner Worte beraubt. Sie flehte ihn an, ihr zu verraten, wer die Tat begangen hatte, doch er starrte sie nur an wie ein verängstigtes Kind. Wo mit einem Werkzeug auf seinen Schädel eingeschlagen worden war, sah ich einen langgestreckten Bluterguss, dunkel wie Erde, die gerade umgepflügt worden ist. Er wurde immer dunkler. Rosalee trug mir auf, die Blumenköpfchen der Hyazinthen zu zerdrücken, die sie im Frühling des Vorjahres gesammelt und getrocknet hatte und die sie mir immer verabreichte, wenn ich meinen Mond bekam. Etwas davon gab sie in das Wasser, mit dem sie Tennyson wusch, so dass er ein wenig nach Frühling roch. Sie versuchte, die Gewalt von ihm abzuwaschen.

Jetzt war Rosalee die Traurige und ich die Suppenzubereiterin. Meine Fürsorge für Rosalee übte einen gewissen Reiz auf mich aus. Die Traurigkeit eines anderen Menschen kann die eigene ein wenig lindern. Habe ich festgestellt. Doch so seltsam ist das gar nicht, denn die Welt ist ohnehin mysteriös.

Sie war bestürzt, ihren Bruder so malträtiert zu sehen. Es weckte Erinnerungen an die Schrecknisse früherer Zeiten, als sie nicht wussten, ob sie für immer in Knechtschaft gefangen oder frei sein würden. Trotz allem mussten sie bittere Wahrheiten schmecken, das war gewiss.

Ich komme aus der traurigsten Geschichte, die es auf Erden je gegeben hat. Ich bin eine der Letzten, die noch weiß, was mir genommen wurde und wie es war, bevor es mir genommen wurde. Das Gewicht dieser Trauer hat schon so manchen Kopf zermalmt. Jemals einen betrunkenen Indianer gesehen, jemals einen Indianer in Lumpen gesehen? Das passiert, wenn ein König von Trauer überwältigt wird. Aber es ist nicht nur das. Wir glaubten, alles, was wir waren, sei Reichtum und Wunder. Wir wussten, dass dem so war. Wie sonst war es möglich, als Kind so glücklich gewesen zu sein? Eine Welt, die ein guter Ort ist für ein Kind, ist eine gute Welt. Es war ja nicht nur so, dass diese Welt beseitigt, sondern dass so oft der Befehl ergangen war: Tötet sie alle. Fragen Sie Thomas McNulty, er hatte ihn oft genug gehört. War losgezogen und hatte gehorcht. John Cole auch. Dieser wilde Bursche Starling Carlton. Sogar Lige Magan. Es kam nicht drauf an, ob’s ein Säugling war, ein Mädchen oder eine Mutter.

Allein die Berührung eines weißen Mannes, schon sein Nahen war der Herold des Todes.

Wir legten großen Wert auf jeden Einzelnen von uns. Aber der Wert, den die Weißen uns beimaßen, war nicht der gleiche. Wir waren ein Nichts – wenn man uns tötete, tötete man ein Nichts, und es bedeutete nichts. Es war kein Verbrechen, einen Indianer zu töten, weil ein Indianer nichts Besonderes war.

Das alles weiß ich, deswegen schreibe ich es auf.

Inzwischen war Tennyson Bouguereau jedoch eine Art Bürger, insofern war es vielleicht doch ein Verbrechen, ihn zusammenzuschlagen. Hatten sie den ganzen Krieg nicht genau deshalb geführt? Man sollte es meinen. Deshalb hatte der Dichter McSweny Thomas McNulty und John Cole dazu geraten, in den Kampf zu ziehen. Vielleicht hatte Thomas den Dichter McSweny aber einfach nur angesehen und erkannt, was für eine bemerkenswerte Menschenseele er war. Ich meine, auch er war ein König, wenn auch ein ziemlich trauriger, aber doch ein Mann, um dessen ergrautes Haupt ein goldener Lichtschein leuchtete wie auf Gemälden die goldene Scheibe hinter Jesus Christus. Der Dichter McSweny. Zu der Zeit waren Thomas und John Cole lange fort, und ich hätte ihre Nähe gebraucht. Damals war ich vom Leben noch nicht geheilt. Vielleicht bin ich’s auch jetzt noch nicht, aber damals ganz gewiss nicht. Doch der Dichter McSweny mit seinem dunklen, schmalen Gesicht und seinen Flusskieselaugen, der bemühte sich um mich, schulte mich und schimpfte mich und verrichtete das Werk einer Mutter.

Wie kam es, dass ich das Glück hatte, Männer um mich zu haben, die so gut wie Frauen waren? Ich glaube, nur eine Frau weiß, wie man leben soll; ein Mann ist meist zu hastig, vorschnell. Diese Waffe mit schon halb gespanntem Hahn verwundet aufs Geratewohl. In meinen Männern dagegen fand ich unerschütterliche, lebendige Weiblichkeit. Welches Glück! Welche Fülle von wirklichem Reichtum!

Selbst jetzt, wo Tennyson Bouguereau ans Bett gefesselt war, vielleicht sogar deswegen, waren die Männer im Freien und eggten das Erdreich, das zum Frühling hin schon lockerer wurde. Die Maultiere hatten ihr nahrhaftes Futter erhalten und waren vor das alte schwarze Zinkengerüst gespannt worden, und so zogen sie von einem Acker zum andern, um unsere dunkle Erde zu zerkrümeln. Mit einem Wanst voller Hafer ist ein Maultier ein glücklicher Gesell. Fast erwartest du, dass es lacht, so arbeitslustig sieht es aus.

Natürlich war Lige der Einzige, der jetzt noch nach Paris fahren konnte, um Vorräte einzukaufen, zumindest für den Augenblick. Günstigerweise gab es in Paris gleich fünf Geschäfte für Trockenwaren, und so verlor Mr Hicks uns als Kunden.

»Kann diesen schmierigen Jas Jonski einfach nich’ mehr sehn«, sagte Lige.

»Weil du ihn umbringen könntest«, sagte John Cole ruhig.

Ich war gerade draußen auf der Veranda, um Unterwäsche hereinzuholen, die ich für Rosalee getrocknet hatte, als ich auf der anderen Seite unseres noch brachliegenden Ackers einen Reiter erblickte. Furcht ergriff mich. Rosalee und Tennyson waren nicht die Einzigen, die schreckhaft geworden waren. Wenn’s irgendwo leichte Beute gab, dachte ich, dann waren wir diese Beute.

Wer immer es war, er kam nicht allein. Ich sah einen Trupp anderer Männer, die auf ihren Ponys auf und nieder hüpften. Meine Männer hielten sich auf zwei großen Feldern weiter nördlich auf. Wenn ich aufs Dach geklettert wäre, hätte ich sie sehen können, ihre schwarzen Gestalten, klein wie Rüsselkäfer, und die schwarzen Maultiere im Miniaturformat. Tennysons Spencer-Karabiner lag immer im Wohnzimmer – abgesehen davon, dass es eine ausnehmend schöne Waffe war, hatte jemand auf das Verschlussstück den Namen Luther eingraviert, ein mysteriöses, aber charakteristisches Merkmal –, und den holte ich mir nun und nahm dann wieder meine Position auf der Veranda ein, mit dem Karabiner als Verbündetem. Ich wusste recht gut, wie man ein Gewehr abfeuert, auch wenn’s für ’n Mädchen ’ne ziemlich große Waffe ist.

Der vorderste Reiter war Sheriff Flynn. Ich wusste nicht, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war. Er war kein Mensch, den ich besonders gut kannte. In der Stadt hatte ich ihn manchmal vorbeigehen sehen, dann klackten seine Stiefel auf den Holzbrettern des Gehsteigs. Jetzt hatte er drei Männer dabei. Drei zottelige Typen. Er ritt lässig vorneweg. Hatte keine Eile, bei mir anzukommen. Ließ sich alle Zeit der Welt.

Schließlich kam Sheriff Flynn aber doch bei mir an und befand sich, rittlings auf seinem Pferd, auf Augenhöhe mit mir, die ich auf der Veranda stand.

»Du gehst rein und holst Elijah, Schatz«, sagte er.

Noch nie in meinem Leben hatte ich jemanden Liges vollen Namen sagen hören. Noch nie in meinem Leben war ich Schatz genannt worden. Den Spencer-Karabiner schien er nicht zu sehen. Ich hielt ihn schräg in meiner Linken, doch er schien ihn gar nicht wahrzunehmen. Ich war mir nicht sicher, ob er überhaupt geladen war. Ich dachte, vielleicht nicht, denn, nun ja, ich wusste es nicht. Ich wusste, dass die Burschen mich umstandslos erschießen würden, so wie man am Feldrain ein Kaninchen schießt. Und genauso schnell. Ich spürte, wie mir unter meinen Röcken die Pisse an den Beinen herablief. Ich wollte nicht, dass jemand es sah. Mein Körper hatte Angst, aber mein Herz war voller Mut. Der Groll, den ich wegen Tennyson empfand, nahm mir die Furcht, und in der Tat glaubte ich, dass Tennysons Gewehr eine geheime Kraft enthielt. Dass er es sein Eigen nennen durfte, war Tennysons ganzer Stolz, und allein es in den Händen zu halten verlieh mir Mut.

Ich gab Sheriff Flynn keine Antwort. Weil ich nicht wusste, ob ich sprechen sollte oder nicht.

Sheriff Flynn war ein dunkelhaariger Mann von rauem Äußeren, aber um seinen Schnurrbart herum waren seine Wangen glatt rasiert. Vermutlich war er um die vierzig, und die Frauen in der Stadt werden ihn wohl ziemlich attraktiv gefunden haben. Seine Hilfssheriffs waren eine Bande abgerissener Männer. Jetzt, wo ich sie aus der Nähe sah, erkannte ich einen von ihnen wieder, Frank Parkman. Ein Busenfreund von Jas Jonski.

Ich war erstaunt, wie viele Gedanken mir durch den Kopf schossen, während ich dort stand, ohne Sheriff Flynn eine Antwort zu geben.

Sheriff Flynn stieg vom Pferd und kam die Stufen vor dem Haus herauf, und als er zu mir auf die Veranda trat, hob er die Rechte und wollte mir wohl, wie ich heute glaube, die Hand schütteln. Damit rechnete ich nicht, und so war mein erster Gedanke, dass er mich schlagen wollte. Ich sprang zurück, stolperte dabei über das Gewehr und fiel zu Boden. Sofort rappelte ich mich wieder auf. Einem Bären oder Kojoten musst du zeigen, dass du keine Angst hast. Das Gewehr war über die Bretter geschlittert. Wenn ich versuche, es zu holen, dachte ich, wird er mich erschießen. Zu diesem Zweck steckte griffbereit ein glänzend polierter Revolver in seinem Gürtel. Offenbar war er Linkshänder, das, was Thomas McNulty einen ciotóg nannte.

»Is’ Elijah da?«, fragte Sheriff Flynn.

»Sie hat Angst, dass du ihr den Arsch versohlst«, sagte Frank Parkman lachend.

»Halt deine verdammte Klappe, Parkman«, sagte Sheriff Flynn. »Oder ich versohl dir den Arsch, du verdammter Narr.«

Aber es kam nicht dazu. Denn in diesem Augenblick bogen Thomas McNulty und John Cole um die Ecke des Hauses, und von der anderen Seite näherte sich Lige Magan. Vom Eggen waren alle drei mit schwarzer Erde bedeckt. Sie trugen Stiefel aus schwarzer Erde, aber natürlich waren es keine echten Stiefel. Nach vielen, vielen Stunden Arbeit kamen sie zum Abendessen.

»Na, Elijah?«, sagte Sheriff Flynn.

»Na?«, sagte Lige Magan.

Entspannt stützte sich Sheriff Flynn mit den Unterarmen aufs Verandageländer, und das war für seine Männer das Signal, sich in ihren Sätteln zurückzulehnen. Frank Parkman stieg ab, hängte sich die Zügel in die Armbeuge und begann, die kleine Tonpfeife zu stopfen, die er aus seiner Manteltasche genommen hatte. Ich wusste nicht, was Thomas und John Cole dachten, aber sie beschlossen, sich rittlings auf die alten Stühle zu schwingen, die immer draußen standen, und vor der dunklen Tür, die ins Haus führte, nahm Lige Magan eine Art Wachposten ein. Ohne recht zu wissen, was er tat, schlug er die Tür rasch zu.

»Ihr pflanzt dieses Jahr wieder Tabak?«, fragte Sheriff Flynn, aber es war keine richtige Frage, sondern eher eine Feststellung. Er nickte zu der schwarzen Erde hin, die ihre Spuren hinterlassen hatte.

»So isses«, sagte Lige.

»Du baust den Tabak an, ich rauch ihn auf«, sagte Frank Parkman und paffte vor sich hin.

»Kein Markt für Runkelrüben oder sonst was«, sagte Lige. »Ich denk an ’n bisschen Mais vielleicht. Hoffe, dass ich vierzig Cent für ’n Scheffel krieg. Aber das weiß nur Gott allein. Falls überhaupt jemand.«

Der Sheriff sagte lange Zeit nichts, und Frank Parkman stand mit einem halben Lächeln da und nuckelte an seiner Pfeife.

Es juckte mich, den Spencer-Karabiner wiederzuholen, der auf dem Boden lag.

»Bist du nicht der Bursche, der oben in Leavenworth war«, fragte Sheriff Flynn und schaute mit einem gewissen Maß an Freundlichkeit zu Thomas McNulty hinüber, als werde diese Frage tagtäglich im ganzen Land gestellt, als wisse er über Thomas McNulty etwas ganz Belangloses und spreche es einfach nur aus. Thomas McNulty musste entschieden haben, dass das Schweigen, mit der er die Frage bedachte, die klügste Antwort sei.

»Er hat ’ne Entlassungsurkunde und all das bekommen«, sagte John Cole.

»Hab nichts Gegenteiliges behauptet«, sagte Sheriff Flynn.

Frank Parkman brach in Gelächter aus, und seine Pfeife blubberte vor Spucke.

»Vermutlich seid ihr überrascht, zu hören, dass ich gekommen bin, euch allen zu helfen«, sagte Sheriff Flynn. »Vermutlich seid ihr überrascht, zu hören, dass mich der Anwalt Briscoe aufgesucht hat. Und vermutlich seid ihr überrascht, zu hören, dass die ältere Mrs Flynn mit Rosalee Bouguereau zusammen auf der Schule war und sie in guter Erinnerung hat.«

»Ziemlich viele Überraschungen auf einmal«, sagte John Cole.

»Denk ich auch«, sagte Sheriff Flynn. »Ich möchte herausfinden, wer Tennyson Bouguereau und wer Winona Cole Verletzungen zugefügt hat. Deshalb bin ich bei schönstem Sonnenschein die ganzen sieben Meilen hier herausgekommen.«

Jetzt herrschte ein ganz anderes Schweigen. Ich war erstaunt, aber auch verängstigt. Den Gedanken, das Gewehr abzufeuern, hatte ich aufgegeben, doch wie konnte ich Antworten geben, wenn ich von dem wahren Hergang nichts wusste?

»Um ’ne Indianerin scheren die Leut sich ’n Dreck«, sagte John Cole. Er klang wie ein Prediger, der aus der Bibel las. »Warum sind Sie hergekommen? Wir wissen selbst, wie damit umzugehn is’. Sobald Tennyson verrät, wer ihn zusammengeschlagen hat, satteln wir die Maultiere und töten die Männer, wer immer es getan hat.«

»Der Plan gefällt mir nicht«, sagte Sheriff Flynn. »Es sind unruhige Zeiten. Man muss Salomos Richterhut aufsetzen.«

»Uns gefällt er gut«, sagte John Cole. »Wir brauchen keine Abzeichen und keine Gesetzeshüter. Wir tun unsere Arbeit selbst. Und falls uns Winona irgendwann verrät, wer ihr wehgetan hat, satteln wir gleich wieder auf und töten den, der so viel Böses in sich hat, wer immer es is’.«

»Ihr seid hier nicht im Westen«, sagte Sheriff Flynn. »Das hier ist die neue Welt der Farmen, der eingelegten Birnen und des Friedens, und dazu gehören Zurückhaltung und Sheriffs.«

»Sehen Sie«, sagte John Cole, »genau da machen wir nich’ mit. Denn um ’ne Indianerin – oder ’nen Schwarzen – scheren die Leute sich ’n Dreck.«

»Ihr tut, was du sagst, und ihr Jungs seid hier im Henry County erledigt«, sagte Sheriff Flynn.

»Dass es im ganzen Land unruhig zugeht, stimmt, und ich weiß nich’, wie wir’s hier aushalten sollen, wenn wir die Unruhe noch vergrößern«, sagte Lige Magan, als wollte er ausprobieren, ob Salomos Richterhut ihm passte.

»Und doch muss es Gerechtigkeit geben in diesen unruhigen Zeiten, und ich bin bestrebt, euch diese Gerechtigkeit widerfahren zu lassen«, sagte Sheriff Flynn.

»Ich weiß nicht, warum Sie …«, setzte Frank Parkman in jähem Zorn an.

»Parkman, ich hab dir gesagt, du sollst die Klappe halten«, sagte Sheriff Flynn. Aber Frank Parkman wollte nicht.

»Dies Mädchen ist ein Nichts«, sagte er, und ein sonderbarer Quengelton schlich sich in seine Stimme. »Diese Leute sind Abschaum.«

Sheriff Flynn trat auf ihn zu und schlug ihm so fest ins Gesicht, dass ihm der Hut wegflog. Eine Hand auf seinem Colt, wartete er darauf, dass Parkman noch ein Wort sagte. Doch der Hilfssheriff rieb sich nur die gerötete Wange.

Jetzt herrschte ein eigentümlich beredtes Schweigen. Selbst unser Wintergast, die Nachtschwalbe, die geneigt gewesen war, ihr seltsames Lied anzustimmen, nun da das erste Abenddunkel hereinsickerte, hielt sich zurück. Ich hatte lange genug mit Thomas McNulty und John Cole gelebt, um zu wissen, dass sie Männer waren, die nachdachten, doch galten ihre Gedanken immer nur der Frage, wie man weiterlebt. Außerdem lebten und dachten Thomas McNulty und John Cole wie eine Person. Sollte einer von ihnen sterben, gäbe es für den anderen kein Leben mehr. Aber ihre wahren Gedanken waren in all dem enthalten, was sie mich als Tochter gelehrt hatten. Sie umgaben sich mit Leuten, die mich achteten, und wer es an Achtung fehlen ließ, den schnitten sie heraus wie ein Krebsgeschwür. Sheriff Flynn war ein Mann von etwa vierzig Jahren in einem Morast aus gewalttätigem Hass und einer Unzahl von Verstümmelungen – die ganze Geschichte des Krieges, die Geschichte all dessen, was der Krieg im tiefsten Inneren der Menschen anrichtet, und dann noch, was nach ihm kommt. Krieg macht den Menschen im Handumdrehen zu einem Gewalttäter, Verstümmler und Mörder, es sei denn, da ist ein Herz, das mäßigt, und die Bereitschaft, zu lieben. So war das bei Thomas McNulty, und bei John Cole auch. Und hier war ein halb rauer, halb rasierter Sheriff, der erstaunlich neue Dinge sagte und tat.

Hätte ich vorhin mehr Mut besessen, dachte ich, hätte ich ihn mit dem Karabiner erschossen. Damit hätte die Sache ein Ende gehabt, und wir hätten dieses seltsame Gerede nie gehört. Der Fluss der Dinge strömt unaufhörlich voran, doch manchmal macht er eine Wendung, oder es bilden sich Strudel. Natürlich endet er trotz aller Schleifen, Untiefen und Stromschnellen schließlich im Meer. Auch die Geschichte eines Lebens führt immer nur an dieselbe Küste. Ich hätte Sheriff Flynn erschießen können, dann hätte es in meiner Geschichte eine jähe Wendung gegeben.

Später aber kam, genau wie bei einem Fluss, alles auf das Gleiche hinaus.

Tausend Monde

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