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Fünftes Kapitel

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»Dann hat der’s also getan?«, fragte Lige Magan.

Wir waren im Haus, am vertrauten Tisch. Rosalee Bouguereau saß auf meiner einen und Thomas McNulty auf meiner anderen Seite. Thomas McNulty hatte die Arme verschränkt, sah mich an und nickte mit seinem graubärtigen Kopf. John Cole stand am Fenster, aber falls er hinausschaute, strafte der seltsam blinde, starre Blick in seinen Augen ihn Lügen. Tennyson Bouguereau war nicht da, er war mit Jas Jonski drüben in der Wäschekammer.

»Das hat er nich’ gesagt«, antwortete Thomas McNulty. »Er hat gesagt, er war’s nich’. Er hat gesagt, warum in drei Teufels Namen er herkommen würd, wenn er’s war, der’s getan hat. Das hat er gesagt, grad eben. Selbst als du ihm dein Gewehr unters Kinn gehalten hast, Lige, hat er geschworen, dass er’s nich’ war.«

»Dann müssen wir ihn wohl so lange verprügeln, bis er die Wahrheit sagt«, sagte Lige Magan aufbrausend. »Auf mich wirkt er schuldig. Als er mich hat rauskommen sehn, wollte er gleich das Weite suchen. Wollte weglaufen, ganz wie einer, der schuld is’. Wie ich den Schuss abgefeuert hab, isser stehn geblieben wie ’n Standbild. Dann hat er sich umgedreht, kreidebleich im Gesicht. Dann kommst du, Thomas, und ich stell ihm die Frage, und er sagt nichts, und die Pisse läuft ihm in die Hose, und dann frag ich noch mal mit Hilfe des Gewehrs, und er sagt, er hätt nichts verbrochen. Er sagt, er weiß nich’ mal, was passiert is’. Hat zehn Tage gewartet, dass Winona sich meldet, aber kein Wort. Seine Verlobte, hat er sie genannt. Is’ nur hergekommen, um rauszufinden, was los is’.«

Lige Magan musterte Thomas McNulty mit diesem speziellen Blick, der bedeutete: Und was sagst du dazu?

Doch Thomas McNulty antwortete nicht. Er legte mir die Hand auf den verschwitzten Rücken. Ich weinte wie ein Frühlingsregen. Ich zitterte. Zitterte von neuem. Mir war übel, als hätte man mich vergiftet. Thomas McNulty gab acht auf meine Rede, diese seltsame Rede ohne Worte, die aus mir hervorquoll. Noch nie hatte ich mich so freudlos, so fiebrig und so furchtsam gefühlt. Nicht einmal, als ich versucht hatte, mit Lana Jane Sugrues Brüdern nach Hause zu gelangen. Ich wusste nicht, was mit mir los war, vermochte es nicht zu deuten. Ich wollte kein Gerede mehr hören. Ich wollte, dass alles wieder so wäre wie vorher, ich und das weiße Kleid, meine Arbeit für den Anwalt Briscoe, die Vorstellung, Jas Jonski zu küssen.

»Wir müssen endlich wissen, was zu tun is’«, sagte Lige Magan, und sein Zorn verflog ebenso rasch, wie er gekommen war. »Verdammt, wenn er nichts getan hat, kann ich ihn nich’ gefesselt in der Wäschekammer lassen.«

»Falls wir ihm glauben, lassen wir ihn laufen«, sagte John Cole bestimmt. »Weiß nur nich’, ob’s mich kümmert, ob ich ihm glauben kann. Is’ ’n Lump.«

»Es wird dich aber kümmern, wenn Sheriff Flynn mit zwanzig Hilfssheriffs hier rauskommt und alles in Stücke schlägt«, sagte Lige Magan. »Wir müssen rauskriegen, was passiert is’.«

Dann blickte er mich an. Ich nahm ihn nur durch eine Kaskade von Tränen wahr. Ich wusste nicht, was Rosalee Bouguereau ihnen erzählt hatte. Von dem, was gerissen war. All das. Ich hatte den Kerl nicht einmal geküsst. Hatte er mich so zerrissen? War er es, der das getan hatte? Innerlich schrie ich mich selbst an, schrie mit offenem Mund. Nicht, dass sie es gesehen hätten. Aber Thomas McNulty war ein weiser alter Mensch, der spüren konnte, was andere Leute empfanden, das denke ich schon.

»Wenn du dich an nichts erinnerst«, sagte Thomas zu Lige Magan, »heißt das längst nich’, dass es nich’ passiert is’, so viel steht fest.«

»Ich werd mein Mädchen ins Bett bringen und ihr meine Kaninchensuppe verabreichen«, sagte Rosalee Bouguereau, ebenfalls wütend, rückte ihren Stuhl ab und erhob sich. »Schaut euch das Mädchen doch mal an. Kann ja nich’ mal sitzen.«

Ich spürte, wie ich wegschmolz. Ich glaubte, wie Wasser zu sein, hatte aber keinen Becher, der mich fasste. Wie klein ich mich fühlte. Der Welt war es gleich, das wusste ich. Der Welt außerhalb Liges Haus. Die Welt wollte, dass indianischen Mädchen Schlimmes widerfuhr. Das war es, was ich dachte, wenn ich überhaupt etwas dachte. Meist versuchte ich, meinen schmelzenden Kopf hochzuhalten. Meine schmelzenden Arme, meine schmelzenden Beine. Ich war doch nur ein Mädchen, nicht wahr? Ich war so froh, dass Rosalee da war, eine so freundliche Frau.

Aber sie waren alle freundlich. Nur wussten sie nicht, was zu tun war; dabei hatten sie in finsteren Zeiten tausendmal gewusst, was zu tun war. Deshalb waren sie noch am Leben, deshalb war ich noch am Leben. Ich war noch am Leben, und jetzt hatte ich Angst, irgendwie tot zu sein. Ich glaubte, dass jemand mich getötet hatte. Wie sollte ich jemals wieder auf die Beine kommen? Wie sollte ich die Herrschaft über meine Gliedmaßen wiedererlangen? Wie sollte ich je wieder glücklich sein, so närrisch glücklich, wie man es in diesem Leben sein muss? An einem Frühlingsmorgen auf der Veranda zu stehen und die Kälte im Sonnenlicht zu spüren, aber auch die Vorboten des Sommers? Was für ein närrisches kleines Kind ich doch gewesen war – aber in der ganzen Weltgeschichte war das die beste Art, zu sein. Ein närrisches kleines Kind, das von allen geliebt wurde, die es kannten, es sei denn, es handelte sich um einen ignoranten Bauernjungen in der Stadt, der nur das schwarze Haar einer Indianerin wahrnahm. Vielleicht war’s ein närrischer Bauernjunge, der mir wehgetan hatte, vielleicht war’s ja das. Jetzt blickte ich zurück, blickte zurück und versuchte, es wieder vor mir zu sehen, bis mir fast der Kopf platzte. Ach, wenn es nicht Jas Jonski war, dann bestand ja vielleicht doch noch Hoffnung für mich.

»Ich sage nicht, dass es Jas war«, sagte ich.

Dann war ich nicht mehr da. So hat’s mir Rosalee erzählt. Ich sank ohnmächtig zu Boden, und Thomas McNulty hob mich hoch, und dann, erzählte Rosalee, wurde ich in mein Bett getragen – das tiefe warme Bett, das ich mit ihr teilte –, und mir wurde gesagt, Lige Magan habe den Satz ernst genommen, sei in die Wäschekammer gegangen und habe Jas Jonski freigelassen. Jas Jonski habe seinen klapprigen Gaul geholt und sei geflohen.

Etwas später tauchte der Anwalt Briscoe auf. Joe Sugrue kutschierte ihn mit dem Buggy.

Es war der beste Buggy im Henry County. Meiner Meinung nach hatte er ihn für seine vornehme Frau benötigt, und jetzt war ihm nur noch der vornehme Buggy geblieben, der ihre Vornehmheit befördert hatte.

Als ich ihn kommen sah, heulte ich nur noch Rotz und Wasser – so war mein Gemütszustand.

Er trat durch die Tür. Der dunkle Raum nahm seinem Gesicht den Schimmer, so wie ein Löffel, der in eine Schale Haferschleim getaucht wird, seinen Glanz verliert. Rosalee Bouguereau war ungewöhnlich tollpatschig und ließ die Kaffeekanne auf den Herd krachen, aufgeregt, einen so bedeutenden Mann zu sehen.

Der saß zufrieden in einem alten Eichenholzsessel, den Lige Magan ihm gleich neben dem Herd zurechtgerückt hatte. Denn die ganze Nacht über hatte in den vertrockneten Wiesengräsern der Raureif gewütet. Trotzdem behielt er seine Pelzmütze und seinen Pelzmantel an. Er sprach kurz übers Wetter, fragte Lige Magan, wie es um die Pflanzarbeiten stehe, und kommentierte den misslichen Zustand von allem und jedem im Henry County, und o Herr!, werde es jemals wieder auf die Füße kommen, und nachdem der Gepflogenheiten Genüge getan war, sagte er, was zu sagen er gekommen war. Er sagte, er habe beunruhigende Nachrichten über seine Angestellte gehört – so nannte er mich – und halte es für seine Pflicht, moralisch wie gesetzlich, herzukommen und nachzuschauen, was vorgefallen sei.

»Nun«, sagte Lige Magan, »sie hat ’n großen Schreck bekommen, so viel is’ mal klar.«

»Ist mir zu Ohren gekommen. Joe Sugrue hat mir davon berichtet, und ich war sehr verärgert, es zu hören«, sagte er. »Aber die Zahlen rechnen sich nicht von allein zusammen, und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Winona instanter zu mir zurückkommen könnte.«

Ich stand wie ertappt in der Mitte des Zimmers und nahm all meine Kraft zusammen, um mich würdig zu benehmen. Man kann nicht sein ganzes Leben lang ein Geysir an Tränen sein.

»Sie muss ’ne gesetzliche Entschädigung erhalten«, sagte Lige Magan.

»Eine Indianerin ist keine Bürgerin, und das Gesetz findet nicht in gleicher Weise Anwendung«, erwiderte der Anwalt Briscoe.

»Meinen Sie das ernst?«, fragte John Cole sehr leise, aber gewürzt mit einer hübschen Prise Bedrohlichkeit.

Die Männer blickten einander an und ließen das, denke ich, erst einmal auf sich wirken. John Cole sah aus, als könnte er jeden Moment in Flammen aufgehen, die nächste Stufe nach der Drohung.

»Nun heißt es friedlich sein und ruhig leben. Sie sind alte Männer, genau wie ich«, sagte der Anwalt Briscoe. »Zum Teufel, wie alt sind Sie, Lige, weiß Gott das überhaupt?«

»Ich glaub nich’«, sagte Lige, der in Gelächter auszubrechen drohte, es sich jedoch, so gut er konnte, verbiss.

John Cole, der sich im Hintergrund hielt, trat von einem Stiefel auf den andern – wie ein Pferd im Stall, das das Bedürfnis verspürt, sein Gewicht zu verlagern.

»Ich bin erst vierzig«, sagte Thomas McNulty, obwohl er in Wahrheit gar nicht genau wusste, wie alt er war. »Und ich glaube, ein niederträchtiger Mensch …«, fuhr er fort, doch dann fehlten ihm die Worte.

»Sie glauben was?«, fragte der Anwalt Briscoe scharf.

»Ich glaube, ein niederträchtiger Mensch muss für das, was er Winona angetan hat, zur Rechenschaft gezogen werden«, sagte Thomas, »wo Sie schon danach fragen.« Plötzlich hatte er die Worte wiedergefunden.

»Das glaube ich auch«, sagte Rosalee Bouguereau. Der Anwalt Briscoe starrte sie einen Moment lang an. War er überrascht? Nein. In diesem Augenblick hatte Rosalee endlich den Kaffee zu ihrer Zufriedenheit aufgebrüht und die Kanne samt einem Becher, dessen Henkel sie sich an den Finger gehängt hatte, zu ihm gebracht.

»Ich denke, wir finden heraus, wer die Tat begangen hat, und erschießen den Mann«, sagte John Cole.

Thomas McNulty und Rosalee sahen einander zustimmend an. Thomas McNulty öffnete die Hände, wie um zu fragen: Wie wär’s damit, Mr Briscoe?

»Trinkt sonst keiner Kaffee?«, fragte der Anwalt Briscoe. Niemand antwortete, und so erlaubte er Rosalee, seinen Becher zu füllen.

»Haben Sie Melasse da?«, fragte er sie leise, als wäre er plötzlich an einem anderen Ort mit ihr, als wären wir anderen gar nicht vorhanden.

»Haste nich’ noch was von der Melasse aus New Orleans?«, sagte Lige Magan zu Thomas McNulty, trotz allem bestrebt, seinem Besucher zu gewähren, wonach es diesen verlangte.

»Hab sie weggeschüttet«, sagte Thomas McNulty grob.

»Mögen Sie Rohrzucker, Herr Richter?«, fragte Rosalee.

»Ja doch, ja«, antwortete der Anwalt Briscoe. »Und ich danke Ihnen, Miss Bouguereau. Übrigens bin ich kein Richter.«

Dann holte Rosalee den Zucker, tat etwas davon in den Becher, und der Anwalt Briscoe trank seinen Kaffee.

Solange er trank, sprach er nicht. Das tat auch sonst niemand. Jeder von uns drehte und wendete in seinem Gehirn, was gesagt worden war und was nicht.

Ich wusste nicht, was ich hören wollte. Wenn Hochwasser eine Farm überschwemmt, stürzen zahlreiche Bäume um, und die Pflanzen, sofern sie bereits hoch stehen, werden niedergedrückt. Die ärgste Überschwemmung wird noch das letzte Feld, ein ganzes Königreich, verheeren; es muss von neuem gepflügt und von neuem geeggt werden, und vielleicht ist es schon zu spät, um in dem betreffenden Jahr noch eine weitere Aussaat vorzunehmen. Hat man nach der Überschwemmung erst einmal seine Kleidung getrocknet, merkt man womöglich, dass man im kommenden Jahr nicht so viel zu essen haben wird wie in diesem. Aber es ist klar wie der Tag, dass man der Stärke der Flut, des Tornados oder des heftigen Sturms mit ebenso großer Stärke begegnen muss. Um aufzubauen, was zerstört wurde, um das, was aus seiner Verankerung gerissen und von seinem Haken getrennt wurde, wieder an seinen Platz zu tun.

Ruhig trank der Anwalt Briscoe weiter seinen Kaffee.

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