Читать книгу Tausend Monde - Sebastian Barry - Страница 8
Viertes Kapitel
ОглавлениеWir hörten, dass Menschen anderswo hungerten. Im letzten Kriegsjahr war der gesamte Süden niedergebrannt worden, und mitunter hieß es, danach könne nur noch Unkraut gedeihen. Und dann ging die ganze weite Welt zum Teufel. Kein Geld auf den Banken. Wozu waren Banken denn sonst da, als Geld auf ihnen zu haben? Und der Paris Invigilator sprach von Countys, in denen ziellos große Mengen freigelassener Sklaven umherzogen. Fälle von Mord und Notzucht wurden aufgeführt, und niemand schien zu wissen, wann die Dinge eine Wendung zum Besseren nehmen würden. Wir hatten einen Präsidenten namens Andrew Johnson gehabt, der immer wieder behauptete, des armen toten Lincoln Abgesandter auf Erden zu sein, in Wahrheit aber die geschlagenen alten Rebellen liebte. Sagte Thomas. Und die geschlagenen Rebellen standen auf, standen überall wieder auf.
Es war nicht das erste Mal, dass die Welt für mich aus nichts als Flut und Flammen bestand, auch nicht das erste Mal, dass ich schöne Tage genoss. Oder dass äußere Einflüsse sich gegen das Glück verschworen. Als ich noch ein kleines Mädchen war, tat meine Mutter alles, um mich mit Glück zu überschütten. In meinem Volk war es ein Segen, ein Kind zu sein. Die erwachsenen Frauen hielten das Lager in Ordnung, die Männer jagten und kämpften, und unsere kleine Aufgabe als Kinder war es, herumzuspringen und glücklich zu sein. Daran zumindest erinnere ich mich deutlich. Wir rannten zwischen den Tipis umher, und es gab nichts, was uns daran hindern konnte, ausgenommen vielleicht der Zorn eines übellaunigen Hundes. Während der heftigen Winterstürme mussten wir auf engstem Raum zusammenhocken, aber was machte das schon? Wir bekamen lange Streifen Trockenfleisch, und der Schnee wurde auf dem Feuer geschmolzen. Im tiefsten Winter muss unser Tipi wie eine im hohen Schnee verborgene Kuppe gewirkt haben, und nur die nach oben steigenden Rauchfahnen verrieten, wo wir kauerten. Meine Mutter hatte gute Geschichten im Kopf; die erzählte sie uns, während wir uns an ihre Beine schmiegten, um uns zu wärmen. Damals hatten wir unsere eigene Sprache, und selbst heute noch höre ich ihre murmelnde Stimme. Wenn ich zu ihr aufblickte, war ihr Atem wie ein leichter Windhauch auf meinem Gesicht. Ihre Arme ruhten auf unseren Rücken wie herabgefallene Äste, die man dort vergessen hatte. So erzählte sie ihre Geschichten. Von Wundern und seltsamen Zeiten. Indem sie jeden Moment unseres kindlichen Daseins zu einem guten Moment machte, vermittelte sie uns einen Eindruck vom weiten Land der Ewigkeit. Wie oft musste ich an ihren Knien weinen, weil ich so glücklich war!
In unserem Stamm stand meine Mutter im Ruf großer Unerschrockenheit. Einmal, als sämtliche Männer fort waren, streifte ein Trupp Crow-Indianer, unsere Feinde, in der Nähe des Dorfes umher. Nur Frauen, Kinder und Alte waren zurückgeblieben. Diese Crow würden sich greifen, was sie nur konnten, und uns töten oder was immer sie mit uns vorhatten. Meine Mutter löste sich aus unserer kleinen Gruppe und ging bis zu der Stelle, wo sich die Crow versammelt hatten. Sie begrüßte sie freundlich und begann, mit ihnen zu sprechen, und bald unterhielten sie sich aufs Angenehmste, und so wurde die Katastrophe durch die Zauberkraft ihres Mutes abgewendet. Die Leute sprachen von diesem Moment als von einer heiligen Sache und begegneten ihr mit großer Ehrerbietung. Drei- oder viermal forderten die Männer sie auf, mit ihnen in den Krieg zu ziehen, weil sie glaubten, sie verfüge über besondere Kräfte. Sie legte Männerkleidung an und ritt davon. Sie wusste genau, wo im Gelände der Feind sich befand, selbst wenn er sich versteckt hielt. Kein Mann auf Erden hätte sich an sie heranschleichen können. Viele sagten mir, eine wie sie habe es noch nie gegeben. Auf diese Weise war auch sie eine Geschichte.
Eine andere Geschichte, die sie erzählte, nannte sie »Der Fall«. Eine große Krankheit sei über uns gekommen, sagte sie, vor tausend Monden. Fast alle starben. Sie fielen um, und nur wenige Stunden später waren sie tot. Oh, wie wir uns vor dieser Geschichte fürchteten! »Vor tausend Monden« war ihr größtes Zeitmaß. Es war ein ähnliches Zeitmaß wie Thomas McNultys »hundert Jahre«. Einmal fragte ihn ein Wanderprediger: »Wann seid’s Ihr nach Amerika gekommen, Thomas?« »Vor hundert Jahren«, lautete seine Antwort. Für meine Mutter war die Zeit eine Art Reifen oder Kreis, keine lange Schnur. Wenn man weit genug laufe, sagte sie, könne man auf lebendige Menschen stoßen, die schon in tiefster Vergangenheit gelebt hätten. »Tausend Monde auf einmal«, nannte sie das. So weit könne man gar nicht laufen, sagte sie, aber das bedeute nicht, dass die Menschen nicht da seien. Alle möglichen Vorstellungen hatte sie, die uns Kindern sehr gut gefielen und uns zugleich Angst machten.
Aber natürlich haben die Soldaten sie getötet, und sie haben meinen Vater und meine Onkel getötet. Sie haben meine Schwester und meine Tanten getötet, sie haben ungezählte Menschen getötet. Sie müssen’s getan haben, denn keiner von ihnen war mehr am Leben. Danach gab’s nur noch mich, so jedenfalls fühlte es sich an.
Für sie waren wir ein Nichts. Ich muss daran denken, wie viel Wert wir darauf legten, was wir waren, und ich frage mich, was es bedeutet, wenn ein anderes Volk dich für so wertlos hält, dass du nur noch getötet werden kannst. Wie unser Stolz auf alles so zerschmettert wurde, dass er sich verflüchtigte, dass er nur noch ein kleines Stäubchen war, das der Wind verwehte. Wo war da der Mut meiner Mutter? War auch sie zu Staub geworden? Wir glaubten, der Name der Welt sei Schildkröteninsel, aber das stellte sich als Irrtum heraus. Was hat das mit deinem Herzen gemacht, was mit meinem?
Nichts, nichts, nichts, wir waren ein Nichts. Ich denke darüber nach und halte es für den Gipfel der Traurigkeit.
Aber vielleicht war das ja der Grund, weshalb Thomas McNulty und John Cole mich liebten – weil ich ein Kind des Nichts war.
Nur wenige von uns kleinen Kindern scheinen dem Massaker entkommen zu sein, um wie Stecklinge aus dem einen Leben herausgeschnitten und plötzlich in ein anderes verpflanzt zu werden. Wo mir Mrs Neale im Fort Englisch beibrachte und mich schließlich Thomas McNulty übergab, als der sie darum bat. Mrs Neale fragte mich, ob ich mitgehen wolle. Und obwohl ich ein kleines verlorenes Mädchen war und er nur ein grober Soldat, mochte ich ihn. Ich weiß noch, wie ich, ganz klein und adrett, vor Mrs Neale saß und meine Entscheidung traf. Ja. Er wollte mich nur als Bedienstete mitnehmen. Vielleicht hätte sie mich ihm in jedem Fall übergeben. Aber das weiß ich nicht, weil ich ja gesagt hatte. Mrs Neale hatte an Thomas Gefallen gefunden, und sie vertraute ihm. Inzwischen weiß ich, dass viele indianische Mädchen zu sündhaften Zwecken übergeben wurden. Dieser verrückte Starling Carlton, nun, es war weithin bekannt, dass er ein Kinderdieb war und Leuten Kinder aus dem Westen zuführte, aus Gründen, so finster, dass keine Jahreszeit und keine Sturmnacht ihnen gleichkamen.
Nein, ich glaube, es stimmt, dass ich mich an das Gemetzel nicht erinnern konnte. Ich glaube, ich konnte es wirklich nicht.
Und nun gab es ein zweites Ereignis, an das ich mich nicht erinnern konnte, und das war mir erst jüngst widerfahren.
Unterdessen tauchte Jas Jonski auf. Nach zwei Wochen kam er auf einem alten Gaul, den er wohl seinem Freund Frank Parkman vom städtischen Mietstall abgebettelt hatte, den Weg heraufgetrappelt. Natürlich war ich seit dem Vorfall nicht mal mehr in der Nähe der Stadt gewesen, und ich vermute, er hatte darauf gewartet, dass ich mich wieder zeige. Wer weiß schon, was er so bei sich dachte? Es war ein recht kalter Spätfrühlingstag mit wenig Sonnenschein. Mit dem bloßen Auge war mein Zittern nicht mehr zu erkennen, doch Jas Jonskis Anblick, dieses rote Gesicht, das auf dem jämmerlichen Gaul hin und her schwankte, tat mir gar nicht gut. Ich war ohnehin nicht darauf erpicht, ihn wiederzusehen. Ganz und gar nicht. Ich stand in einer dunklen Ecke des Wohnzimmers und sah, wie er sich näherte und dabei der Schimmelstute die Sporen in die Weichen grub. Die Männer waren seit fünf Uhr draußen, aber nicht weiter weg als der Tabakschuppen, weil sie dort zu arbeiten hatten, also nur hundert Meter vom Haus entfernt.
Rosalee reinigte gerade Tennysons Gewehr. Die Waffe lag in Einzelteilen auf dem Küchentisch, der ganze Raum roch nach Öl.
»Wer kommt da den Weg rauf?«, fragte sie, dabei hatte sie nicht einmal aufgeblickt. Sie hatte wohl das Klappern der Hufe gehört. Wie gesagt, jeder Fremde war eine mögliche Gefahr.
»Dieser Bursche Jas Jonski«, sagte ich.
Rosalee ließ die Waffe ihres Bruders liegen, trat ans Fenster und sah hinaus. Sie spähte angestrengt, dann warf sie einen Blick auf die auseinandergenommene Waffe, als hätte sie sie gern schussbereit gehabt.
»Willst du ihn sehen?«, fragte sie.
»Nicht unbedingt.«
»Hast du ihm schon von der Hochzeit erzählt?«
»Hab ihm gar nichts erzählt.«
»Willst du, dass ich ihm sage, er soll ein andermal kommen?«
»Ich will, dass du ihm sagst, er soll nie mehr kommen.«
Als sie an mir vorbeiging, legte sie mir freundlich die Hand auf den Rücken, dann trat sie hinaus ins kalte Morgenlicht. Sie stapfte die Stufen der Veranda hinab. Inzwischen war Jas Jonski vielleicht zwölf Meter von ihr entfernt, und ich sah, wie er sich mühte, die Zügel seiner Stute an den Pflock zu binden. Aber die Stute warf immer wieder den Kopf zurück. So war Rosalee schon bei ihm, als sie ihn ansprach.
Rosalee war eine stämmige Frau, und im Vergleich zu dem schmächtigen Jas Jonski hatte es fast den Anschein, als gäbe es gleich zwei von ihr. Ich konnte sehen, wie er sein Lächeln lächelte und sein kleines blechernes Lachen lachte, und ich konnte sehen, wie er ihr die Hand auf den Rücken legte, genau wie sie es bei mir gemacht hatte. Irgendwie wirkte seine achtlose Berührung besitzergreifend. Doch im Gegensatz zu mir trat Rosalee entschlossen einen Schritt zurück und stemmte die Arme in die Hüften. Ich weiß nicht, was sie sagte, aber Jas Jonski kräuselte die Lippen und warf ihr einen Blick zu, als hätte sie ihm auf den Schuh gepinkelt. Wenn auch keine Sklavin mehr, so war sie doch in seinen Augen ein niedrigstehender Mensch. Dann stieß er sie trotz seiner geringen Körpergröße herrisch beiseite und ging auf das Haus zu. Auf mich und das Haus.
Nun, ich trat den Rückzug an, aus dem Wohnzimmer in den Hof hinterm Haus, und so flink, wie meine Angst es mir erlaubte, rannte ich über das vom Winter zerzauste Unkraut. Fast hätte ich den Riegel der Schlupftür am großen Scheunentor abgerissen. Lige Magan stand mit dem großen Rechen in der Hand ein paar Schritte weit in der Scheune und harkte den Tabakstaub und all den anderen Staub zusammen, der sich überall auf dieser Erde ansammelt, und oben, über den Gefachen, wo der Tabak getrocknet wurde, konnte ich Thomas McNulty und John Cole sehen, die mit Schlamm und Mörtel aus schweren Eimern Ritzen verklebten. Lige würde all den Staub verbrennen, um den schädlichen Schimmel und die anderen kleinen Pilze loszuwerden, die in jeder Ernte lauern. Tennyson Bouguereau sah ich nicht. Doch, ich sah ihn – hinten in einer Ecke schärfte er die Eggen. Den ganzen Spätwinter über hatten die Männer den gefrorenen Erdboden umgepflügt, bis die Pflugscharen kreischten. Bald wären die Eggen an der Reihe.
Unter meinem Kleid war ich feucht von Schweiß, ich zitterte, und ich stürmte quer durch den Schuppen und die große Leiter hinauf zu John Cole und umschlang ihn, als wäre ich noch ein kleines Mädchen. So viel dazu, dass ich mich selbst um die Dinge kümmerte … Seine Hände, seine Arme und sein Schoß waren schlammverkrustet. Er hinterließ überall Abdrücke auf meinem Kleid. Die zehn mit Stricken angebundenen Maultiere, die sich unter den Leitern gegen die Kälte zusammendrängten, erschauderten und wichen auf dem harten Boden ein paar Schritte zurück.
John Cole wollte wissen, was mir fehlte, und ich sagte ihm, Jas Jonski stehe vor dem Haus.
»Du musst ihn vertreiben«, sagte ich.
»Und wieso das?«, fragte John Cole.
Ich antwortete, das wisse ich auch nicht so recht, aber ich wäre ihm sehr dankbar, wenn er hinausginge und Jas Jonski genau das sagen würde. Und würde er Jas Jonski sagen, dass er sich nicht die Mühe machen solle, wiederzukommen?
Thomas McNulty war von Kopf bis Fuß mit Schlamm bedeckt, und um ihn loszuwerden, klopfte er sich, als er auf uns zukam, mit beiden Händen Brust, Beine und Hintern ab, was aber nicht viel nutzte. Dann sah er mich an.
»Ich geh raus und rede mit ihm«, sagte er, und seine Stimme klang so düster wie noch nie.
»Tu das, Thomas«, sagte John Cole.
Unterdessen war Lige Magan hinter mir die Leiter heraufgeklettert. In der Schule hatte Liges Vater Rosalee neben seinen Sohn gesetzt. Dergleichen hätte nur in alten Sklavenzeiten passieren können. Das war lange her. Vielleicht war Rosalee die einzige Schwarze in Tennessee, die Griechisch, Latein und Hebräisch beherrschte. Ihr Bruder Tennyson konnte weder lesen noch schreiben, somit waren ihre Kenntnisse eine Seltenheit. In all der Zeit, da ich ihn kannte, habe ich Lige Magan kein einziges Buch lesen sehen, aber er musste von Rosalees Weisheit irgendetwas abbekommen haben. Jedenfalls gebot er Thomas McNulty Einhalt.
»Ich schätze, am besten geh ich runter und überbring ihm den Befehl«, sagte er.
Damit meinte er, dass er Jas Jonski Bescheid stoßen wollte. Für Lige war die Welt eine einzige Armee.
Wenn ich es recht bedenke, waren wir im Henry County etlichen Gefahren ausgesetzt, mit drei Männern, die für die Union gekämpft hatten, aber genau darum ging es. Sie waren Soldaten durch und durch. Selbst Tach Petrie hatte feststellen müssen, dass er sie nicht aus dem Weg räumen konnte, und der hatte fünf, sechs Männer befehligt, kampferprobte Männer, die graue Uniformröcke trugen.
Lige Magan stieg die Leiter hinab ins staubige Innere der Scheune und griff nach seinem Gewehr. Er bedachte uns mit einem kurzen, eiligen Blick und schob sich durch die Schlupftür. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, und in die Scheune kehrte wieder Dunkelheit ein. Wir wandten unsere Gesichter der Stelle zu, wo Lige Magan unserer Meinung nach auf dem Weg zu Jas Jonski den Hof durchquerte.
Ein, zwei Minuten verstrichen. Hatten wir überhaupt ausgeatmet? Dann gab es einen großen Knall. Thomas McNulty sah erschrocken aus, er blickte John Cole an und versuchte, eine Entscheidung zu treffen: bleiben oder gehen, und dann musste er wohl gedacht haben, es sei besser, zu gehen, falls Jas Jonski doch eine Waffe bei sich führte – und eilte davon.
Danach herrschte lange Zeit Stille. Kein Geräusch, das uns etwas verraten hätte.