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Siebentes Kapitel

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Eines lässt sich nicht leugnen: Bei uns in Värmland waren die Wälder weit und die Äcker klein, die Hofplätze waren groß, die Häuser aber eng, die Wege schmal, die Hügel aber steil, die Haustüren niedrig, die Schwellen aber hoch, die Kirchen unansehnlich, die Gottesdienste aber lang, die Lebenstage kurz, die Sorgen aber zahllos. Darum waren die Värmländer aber doch keine Kopfhänger oder Jammerlappen.

Wohl raffte der Frost die Ernte dahin, wohl wüteten die wilden Tiere in den Herden und die rote Ruhr in der Kinderschar, aber trotzdem hielten die Leute den Mut und die gute Laune so lange wie möglich aufrecht. Wohin wäre es sonst auch mit ihnen gekommen?

Dies beruhte aber vielleicht darauf, dass es in jedem Haus einen Tröster gab. Es gab einen, der sowohl zu den Reichen als auch zu den Armen kam, einen, der nie versagte und nie müde wurde.

Aber glaubt doch ja nicht, dieser Tröster sei etwas Feierliches oder Großartiges gewesen, so wie Gottes Wort oder Gewissensfrieden oder Liebesglück! Und glaubt auch nicht, es sei etwas Gemeines und Gefährliches gewesen, wie Trunksucht oder Würfelspiel! O nein, es war nur etwas ganz Unschuldiges und Alltägliches, nämlich nichts anderes als das Feuer, das an den Winterabenden auf dem Herd flammte.

Lieber Gott, wie machte es doch in der kleinsten Hütte alles so schön und behaglich! Und wie trieb es mit den Leuten seinen Spaß, den ganzen Abend hindurch! Es knisterte und prasselte, es war, als lachte es sie aus. Es zischte und sprühte, und dann war es, als wollte es jemand nachmachen, der misslaunig und zornig war. Bisweilen wusste es durchaus nicht, wie es mit einem knorrigen, alten Klotz fertig werden sollte. Dann füllte es die ganze Stube mit Rauch und Dunst an, wie wenn es den Leuten zu verstehen geben wollte, dass es von der Kost, die ihm dargereicht werde, nicht leben könne. Bisweilen, und gerade, wenn die Leute im besten Arbeitseifer waren, nahm es die Gelegenheit wahr und sank plötzlich zu einem Gluthaufen zusammen, sodass die Leute die Hände in den Schoß legen und hell auflachen mussten, bis es sich wieder zum Aufflammen bequemte.

Am allermutwilligsten aber war es, wenn die Hausfrau mit dem dreibeinigen Kochkessel daherkam und das Essen kochen wollte. Ein einziges Mal zeigte es sich da willig und dienstfertig und machte seine Sache rasch und gut, sehr oft aber tanzte es stundenlang leicht und ausgelassen um den Kochtopf, ohne ihn zum Sieden zu bringen.

Oh, wie leuchtete es in den Augen des Hausvaters auf, wenn er nass und verfroren aus dem schmutzigen Schnee heimkam und ihn das Feuer mit Wärme und Behaglichkeit empfing! Wie gut war es für ihn, an das wachende Licht zu denken, das gleich einem Leitstern für arme Wanderer in die dunkle Winternacht hinausströmte, zugleich aber auch ein Zeichen zum Erschrecken für Luchs und Wolf war!

Das Herdfeuer aber konnte noch mehr als wärmen und leuchten und Essen kochen. Es verstand sich auf noch merkwürdigere Dinge als Funkeln, Sprühen, Prasseln und Treiben von Unsinn. Es war auch imstande, die Lust zum Spiel in der Menschenseele zum Leben zu erwecken. Denn was ist die Menschenseele, ja auch sie, anderes als eine spielende Flamme! Sie flattert in und über und um den Menschen her, wie die Feuerflamme über und um das raue Holz, ja, in ihm drinnen flackert. Wenn nun die an einem Winterabend um das Herdfeuer Versammelten eine Weile schweigend dagesessen und in die Flammen geschaut hatten, dann begann das Feuer mit jedem Einzelnen in seiner eigenen Sprache zu reden: »Bruder Seele«, sagte die Feuerflamme, »bist du nicht auch so eine Flamme wie ich? Warum bist du so traurig und bedrückt?« – »Schwester Flamme«, antwortete wohl die Menschenseele, »ich habe Holz gespalten und den ganzen Tag den Haushalt versorgt. Jetzt kann ich nichts anderes mehr tun, als still dasitzen und dich ansehen!« – »Ja, das weiß ich wohl«, antwortete dann das Herdfeuer. »Jetzt ist Feierabend. Mach es wie ich, flackere, und leuchte! Spiele, und wärme!«

Und die Seelen gehorchten dem Herdfeuer und begannen zu spielen. Sie erzählten Geschichten, sie gaben einander Rätsel auf, sie strichen die Geigensaiten. Sie ritzten Ranken und Rosen in Werkzeuge und Ackergeräte. Sie spielten allerlei Spiele und sangen Lieder. Sie lösten Pfänder aus und erinnerten sich an alte Sprichwörter. Und unterdessen taute die Eiseskälte in ihren Gliedern, die Missgestimmtheit in ihren Herzen auf. Sie lebten wieder auf und wurden vergnügt. Das Herdfeuer und das Spiel vor dem hellen Feuer weckten in ihnen wieder die Lust, das karge, mühselige Leben fortzusetzen.

Was aber vor allem zu dem Herdfeuer gehörte, das war doch wohl das Erzählen von merkwürdigen Heldentaten und Abenteuern. Das war es, was Alt und Jung erfreute, ja, es war etwas, wovon sie nie genug bekommen konnten. Denn Heldentaten und Abenteuer hat es ja, Gott sei Dank, von jeher genug auf dieser Welt gegeben.

Niemals aber gab es deren so viele wie zur Zeit des Königs Karl. Er war der Held unter den Helden, und von ihm und seinen Mannen gab es eine Überfülle von Geschichten zu berichten. Sie vergingen nicht mit ihm selbst und mit seiner Herrschermacht, nein, sie lebten nach seinem Tod weiter, und sie waren seine beste Hinterlassenschaft.

Von niemand erzählte man so gern wie vom König selbst; aber gleich nach ihm redete man am liebsten vom General auf Hedeby, den man ja selbst noch gesehen und gesprochen hatte und von Kopf bis Fuß beschreiben konnte.

Der General war so stark gewesen, dass er Eisen biegen konnte, wie andere Hobelspäne auseinanderrollen. Als er einmal hörte, drunten in Svartsjö wohne ein Schmied, der die besten Hufeisen in der ganzen Gegend mache, ritt der General gleich hinunter in die Schmiede und bat den Michel, ihm sein Pferd zu beschlagen.

Als nun der Schmied mit einem fertigen Hufeisen aus der Schmiede trat, fragte der General, ob er es ansehen dürfe. Das Hufeisen war stark und gut gemacht; der General aber lachte nur, als er es sah. »Das nennt ihr hier ein Hufeisen?«, sagte er, und zugleich bog er das Hufeisen auseinander und zerbrach es. Der Schmied erschrak, er glaubte, er habe eine schlechte Arbeit geliefert.

»Es muss ein Sprung im Eisen gewesen sein«, sagte er und brachte rasch ein anderes Hufeisen herbei. Es ging aber mit diesem genau wie mit dem vorigen, nur mit dem Unterschied, dass der General dieses wie eine Schere zusammendrückte, bis es auch zerbrach.

Doch nun begann Michel Lunte zu riechen, und er sagte: »Entweder bist du der König Karl selber, oder du bist der Starke Bengt auf Hedeby.«

»Ei, Michel, da hast du nicht schlecht geraten«, versetzte der General, und dann gab er ihm die volle Bezahlung für vier neue Hufeisen und überdies noch für die zwei, die er vor den Augen des Schmiedes zerbrochen hatte.

Es waren auch noch viele andere Geschichten über den General im Umlauf, und sie wurden ins Unendliche erzählt und wieder erzählt; im ganzen Bezirk gab es niemand, der nichts von dem General gewusst und nicht Ehrfurcht und Bewunderung für ihn gehegt hätte. Und von seinem Ring wusste man natürlich auch.

Man wusste, er war mit ihm begraben worden; die Habgier der Menschen aber war so groß gewesen, dass er ihm von seinem Finger weg gestohlen worden war.

Wenn also irgendetwas imstande war, die Leute im höchsten Grade neugierig und erregt und empört zu machen, so war es die Nachricht, dass der Ring zwar wiedergefunden worden, jedoch abermals verloren gegangen war, sowie dass man Ingilbert im Wald tot aufgefunden und die Ivarssöhne nun im Verdacht habe, sich den Ring angeeignet zu haben, und dass sie deshalb jetzt im Gefängnis saßen. Als die Kirchenbesucher am Sonntagnachmittag heimwärts wanderten, wurde ihnen daheim kaum erlaubt, ihren Sonntagsstaat auszuziehen und einen Bissen zu essen, nein, sie mussten von allem berichten und was darüber gesagt und was eingestanden worden war, was für ein Urteil das Gericht gefällt hatte, und zu welcher Strafe die Angeklagten wohl verurteilt würden.

Es wurde von gar nichts anderem mehr gesprochen. Jeden Abend hielt man in großen Häusern wie in kleinen Hütten, beim Taglöhner ebenso wie beim Großbauern, am Herdfeuer sozusagen Gerichtssitzung ab. Es war eine abenteuerliche und seltsame Sache, der man nur schwer auf den Grund kommen konnte. Nein, es war nicht leicht, ein entscheidendes Urteil zu fällen, denn es war zu schwierig, ja fast unmöglich, zu glauben, die Ivarssöhne und ihr Pflegesohn hätten einen Mann totgeschlagen, um sich in den Besitz eines Ringes zu bringen, einerlei wie kostbar er auch sein mochte.

Da war zuerst Erik Ivarsson, ein reicher Mann mit vielen Äckern und vielen Häusern. Wenn er überhaupt einen Fehler hatte, war es der, dass er etwas zu selbstbewusst war und allzu viel auf seine Ehre hielt. Und gerade deshalb wollte es einem durchaus nicht einleuchten, dass irgendein Kleinod auf der Welt ihn dazu gebracht haben könnte, eine unehrenhafte Handlung zu begehen.

Und noch weniger konnte man seinen Bruder Ivar verdächtigen. Er war allerdings arm, wohnte bei seinem Bruder und bekam von ihm alles, was er sich nur wünschen konnte. Er war ja so gutherzig, dass er alles, was sein Eigentum gewesen war, hergegeben hatte. Wie hätte es einem solchen Mann einfallen können, einen andern zu ermorden und zu berauben?

Und was Paul Eliasson betraf, so wusste man, in welch hoher Gunst er bei den Ivarssöhnen stand. Er war ja mit Marit Erikstochter, der einzigen Erbin ihres Vaters, verlobt. Sonst hätte man allerdings ihn am ehesten in Verdacht haben können, weil er ein geborener Russe war, und das wusste man ja: Die Russen hielten es für keine Sünde zu stehlen. Ivar Ivarsson hatte ihn einst mitgebracht, als er aus der russischen Gefangenschaft heimkehrte. Er war damals drei Jahre alt gewesen und ganz elternlos und verlassen; daheim in seinem Lande hätte er wohl Hungers sterben müssen. Nun war er ja in Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit aufgezogen worden und hatte sich immer gut gehalten.

Marit Erikstochter und er waren zusammen aufgewachsen; sie hatten einander von jeher lieb gehabt, und es wäre wahrhaftig unverständlich gewesen, wenn ein Mann, den Glück und Reichtum erwarteten, all das aufs Spiel gesetzt hätte, nur um einen Ring zu stehlen.

Andererseits musste man aber auch an den General denken, an den General, von dem man von ganz klein auf so viele Geschichten gehört hatte, und den man ebenso gut kannte wie seinen eigenen Vater; den General, der so groß und stark und zuverlässig gewesen war, den General, der tot war und dem man das Liebste, was er besaß, gestohlen hatte.

Der General hatte es gewusst, dass Ingilbert Bårdsson auf seiner Flucht den Ring bei sich gehabt hatte, denn sonst hätte Ingilbert in aller Ruhe seines Weges ziehen können und wäre nicht getötet worden. Der General hatte natürlich auch gewusst, wer den Ring an sich genommen hatte, nämlich die Olsbyleute, sonst wären diese nicht mit dem Rittmeister zusammengetroffen; sie wären auch nicht gefangen genommen und jetzt in Gewahrsam gehalten worden.

Ja, es war wirklich schwer, in einer solchen Sache das Richtige herauszufinden. Auf den General aber verließ man sich noch mehr als selbst auf den König Karl, und bei den meisten Gerichtssitzungen, die in den kleinen Hütten vor sich gingen, wurde ein verurteilender Schiedsspruch gefällt.

Und sicherlich erregte es große Verwunderung, als das wirkliche Amtsgericht, das im Thinghaus zu Broby gehalten wurde, nachdem es die Angeklagten aufs Peinlichste verhört hatte, ihnen aber weder eine Schuld nachweisen noch sie zum Geständnis bringen konnte, sich genötigt sah, die des Mordes und Raubes Angeklagten freizusprechen.

Trotzdem aber wurden sie nicht aus der Haft entlassen, denn das Urteil des Amtsgerichts musste vom Appellationsgericht erst noch geprüft werden, und das Appellationsgericht erklärte die Olsbyer für schuldig und verurteilte sie zum Tode durch den Strang.

Doch auch dieses Urteil wurde nicht vollstreckt, denn das Urteil des Appellationsgerichtes musste vorher vom König bestätigt werden.

Als aber der Spruch des Königs gefallen und bekannt gegeben war, da verzichteten die Kirchenbesucher zum ersten Male freiwillig darauf, ihr Mittagsmahl zu essen, bevor sie den Daheimgebliebenen den Inhalt mitgeteilt hatten.

Denn der Inhalt des Urteilsspruches lautete in kurzen Worten also: Da es ganz klar scheint, dass einer der Angeklagten gemordet und gestohlen habe, keiner von ihnen aber seine Schuld eingestehen wolle, solle Gott selbst zwischen ihnen das Urteil fällen. Sie sollten beim nächsten Thing in Gegenwart des Richters, der Schöffen und der Gemeinde miteinander würfeln. Wer den niedrigsten Wurf tue, solle für schuldig gelten und wegen seiner Missetat seines Lebens am Galgen verlustig gehen. Die beiden anderen dagegen sollten ohne weitere Strafe freigelassen werden und zu ihrem Tagewerk zurückkehren.

Das war ein weises Urteil, ein gerechtes Urteil. Alle Leute hier in Värmland waren damit zufrieden. War es nicht schön von dem alten König, dass er sich nicht einbildete, in dieser dunklen Sache klarer zu sehen als alle anderen, sondern es dem Allwissenden anheimstellte? Jetzt endlich konnte man sicher sein, die Wahrheit klar zutage treten zu sehen. Außerdem war es auch etwas ganz Eigenes um dieses Gerichtsverfahren. Es wurde nicht von Mann gegen Mann geführt, sondern ein Toter stand auf der einen Seite, ein Toter, der darauf bestand, sein Eigentum wiederzubekommen. In anderen Fällen hätte man ja zögern können, seine Zuflucht zu den Würfeln zu nehmen, diesmal jedoch nicht. Der tote General wusste wohl, wer es war, der ihm sein Eigentum vorenthielt. Das war ja das Beste an dem Urteilsspruch des Königs, dass er dem toten General Gelegenheit gab, freizusprechen und zu verurteilen.

Man hätte fast glauben können, König Friedrich habe dem General die Entscheidung überlassen wollen. Er hatte ihn vielleicht in der alten Kriegszeit gekannt und ihn als einen Mann gefunden, auf den man sich verlassen konnte. Und gerade das hatte er nun zeigen wollen. Allerdings konnte man hierüber nicht leicht klug werden.

Nun, wie es auch sein mochte, an dem Tag, wo das Gottesurteil fallen sollte, wollte jedermann beim Thing mit dabei sein. Jedermann, der nicht zu alt zum Gehen oder zu klein zum Kriechen war, machte sich auf den Weg. Solch ein merkwürdiges Ereignis hatte sich seit vielen Jahren nicht mehr zugetragen. Man konnte sich nicht damit zufriedengeben, früher oder später von anderen zu hören, wie alles abgelaufen war. Nein, hier musste man selbst dabei sein.

Wohl lagen die Höfe oft weit voneinander entfernt, und man konnte meilenweit unterwegs sein, ohne einem Menschen zu begegnen; wenn aber wie jetzt alle Leute des Kirchspiels auf einem Platz zusammenkamen, dann war man fast überrascht, wie viele es ihrer doch waren. Dicht gedrängt standen sie in vielen Reihen vor dem Thinghaus. Es sah aus, wie wenn ein Bienenschwarm an einem Sommertag schwarz und schwer vor einem Bienenkorb hängt. Und die Menge glich auch noch weiter schwärmenden Bienen, weil sie sich nicht in der gewohnten Gemütsverfassung befanden. Sie verhielten sich nicht still und feierlich, wie sie sonst in der Kirche zu sein pflegten, auch nicht fröhlich und gutmütig wie auf den Jahrmärkten, sondern aufgeregt und reizbar, wie von Hass und Rachsucht beherrscht.

Kann man sich darüber wundern? Sie hatten den Schrecken vor Missetätern ja mit der Muttermilch eingesogen. Sie waren mit Wiegenliedern von umherschweifenden Geächteten in den Schlaf gelullt worden. Sie hielten alle Diebe und Mörder für Teufelsbraten, für Wechselbälge und sahen sie nicht mehr für Menschen an. Sie dachten durchaus nicht, dass man solchem Gesindel Barmherzigkeit erweisen sollte.

Ja, sie wussten, einem solchen furchtbaren Geschöpf sollte an diesem Tag das Urteil gesprochen werden, und darüber freuten sie sich. »Jetzt wird Gott sei Dank einem solchen blutdürstigen Verbrecher der Garaus gemacht«, dachten sie. »Jetzt wird er jedenfalls keine Gelegenheit mehr bekommen, uns zu schaden.«

Das Gottesgericht sollte nicht drinnen im Thinghause stattfinden, sondern, was auch ganz gut war, draußen im Freien. Unangenehm war es allerdings, dass eine Kompanie Soldaten eine Sperre rings um den Platz vor dem Thinghaus bildete, sodass man nicht nah genug herankommen konnte, und die Soldaten mussten wahrlich manches Schimpfwort über sich ergehen lassen, weil sie den Leuten im Wege standen. Das hätte man sich sonst wohl nicht erlaubt, heute aber war man keck und aufdringlich.

Die Leute hatten sich alle von daheim in aller Frühe auf den Weg machen müssen, um einen Platz in der Nähe der Sperrkette zu ergattern, und dann mussten sie da viele lange Stunden ausharren. Auch gab es da nicht viel zu sehen, woran man seine Augenlust hätte befriedigen können. Der Gerichtsdiener trat allerdings aus dem Thinghaus und stellte eine große Trommel mitten auf den Platz. Das war wenigstens eine Freude, denn es war doch ein Zeichen dafür, dass die, die drinnen saßen, daran dachten, die Sache noch vor dem Abend vorzunehmen. Der Ratsdiener kam alsdann auch noch mit einem Stuhl und einem Tisch sowie mit einem Tintenfass und einer Schreibfeder daher. Und schließlich brachte er einen kleinen Becher, worin zwei Würfel klapperten, die er einmal ums andere aufs Trommelfell warf.

Er wollte wahrscheinlich probieren, ob sie gewiss richtig waren und bald so, bald so fielen, wie man es von richtigen Würfeln erwarten konnte.

Danach eilte er wieder hinein, und das war nicht zum Verwundern, denn sobald er sich überhaupt zeigte, riefen ihm die Leute Schimpfworte und anzügliche Witze zu. Das hätten sie sonst nicht getan; aber an diesem Tag waren sie ganz außer Rand und Band.

Der Richter und die Schöffen wurden durch den Sperrring geleitet, und sie wanderten oder ritten bis vor das Thinghaus. Und sobald einer von ihnen sich zeigte, kam Leben in die Menge. Man flüsterte und zischelte aber nicht wie sonst. O nein, man rief ihnen mit lauter Stimme Begrüßungen und Bemerkungen zu. Und man konnte ja nichts tun, um es zu verhindern, der hier Wartenden waren gar viele, und man konnte ihnen das Reden nicht verbieten. Die Herrenleute, die eintrafen, wurden auch in das Thinghaus hineingelassen. Da war der Rittmeister Löwensköld auf Hedeby und der Propst von Bro und der Gutsherr von Ekeby und der Kapitän auf Helgesäter sowie natürlich noch viele andere. Und sie alle bekamen zu hören, wie gut sie es hätten, dass sie nicht hier draußen stehen und sich um einen Platz balgen müssten, und noch vieles andere obendrein.

Wenn gar niemand mehr da war, an dem man sich reiben konnte, hielt man sich an ein junges Mädchen, das sich so nah wie möglich an dem Soldatenring hielt. Sie war klein und zart gebaut, und einmal ums andere versuchten die Burschen, sich vorzudrängen und ihren Platz einzunehmen; aber sooft dies geschah, wurde ihnen von den in der Nähe Stehenden zugerufen, sie sei ja die Tochter von Erik Ivarsson aus Olsby; nach dieser Aufklärung ließ man sie in Ruhe.

Dafür aber hagelten allerlei Sticheleien über sie her. Es wurde ihr zugerufen, was ihr lieber wäre, wenn ihr Vater oder ihr Verlobter gehängt würde? Und man wunderte sich und fragte, warum gerade sie, die Tochter eines Diebes, den besten Platz haben solle?

Und die so weit aus den Wäldern dahergewandert waren, taten höchst erstaunt, weil sie den Mut hätte, da stehen zu bleiben; aber denen wurde dann ordentlich Bescheid gesagt. Ha, ha, dieses kleine Mädchen kenne keine Furcht, sie sei bei jeder Gerichtsverhandlung dabei gewesen und habe auch nicht ein einziges Mal geweint, sondern sei immer ganz ruhig geblieben. Sie habe den Angeklagten zugenickt und zugelächelt, wie wenn sie vollkommen sicher wäre, dass sie am nächsten Tag freigesprochen würden. Und sobald die Angeklagten sie sahen, hätten sie gleich neuen Mut gefasst. Sie hätten gedacht, da sei doch wenigstens ein Mensch, der von ihrer Unschuld überzeugt war. Ja, einen Menschen gab es also, der nicht glauben konnte, sie hätten sich durch einen armseligen goldenen Ring zu einem Verbrechen verleiten lassen können.

Schön, freundlich und geduldig hatte das Mädchen im Gerichtssaal gesessen. Nie hatte sie jemand geärgert; nein, sie hatte sich auch den Richter und die Schöffen und den Lehnsmann zu Freunden gemacht. Diese hätten das zwar wohl nicht selbst zugegeben; aber es wurde behauptet, das Amtsgericht hätte die Angeklagten nicht freigesprochen, wenn sie nicht bei der Gerichtsverhandlung anwesend gewesen wäre. Man könnte sich ja ganz unmöglich denken, dass jemand, der Marit Erikstochter lieb hatte, sich eines Verbrechens schuldig gemacht hatte.

Und jetzt war sie auch hier, damit die Gefangenen sie sähen. Ihre Gegenwart sollte ihnen Kraft und Trost bringen. Sie wollte während der Probe für sie beten und sie der Gnade Gottes anempfehlen.

Man konnte ja vorher gar nichts wissen. Es heißt freilich, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, aber sie sah wirklich gut und unschuldig aus. Und ein liebevolles Herz hatte sie sicher auch, wenn sie da stehen bleiben konnte, wo sie stand.

Sie musste ja alles gehört haben, was ihr zugerufen worden war, doch hatte sie weder etwas darauf erwidert noch geweint, noch zu entfliehen versucht. Sie wusste, die unglücklichen Gefangenen würden sich freuen, wenn sie sie sähen. Sie war ja die Einzige in der ganzen Menschenmenge ringsumher, die ein menschlich fühlendes Herz für sie hatte.

Aber wie es auch sein mochte, ganz vergeblich stand sie doch nicht dort. Der eine oder andere, der selbst Töchter hatte, die ebenso sanft und unschuldig waren wie Marit, die Tochter von Erik Ivarsson, dachte in seinem Herzen, wie wenig gern er seine Tochter dort stehen sähe, wo Marit jetzt stand.

Da und dort erhob sich allmählich doch eine Stimme, die verteidigte oder doch wenigstens versuchte, die Witzbolde und Schreihälse zum Schweigen zu bringen. Nicht allein, weil endlich die lange Wartezeit ein Ende nahm, sondern auch Marit Erikstochter zuliebe war man froh, als endlich die Tore des Thinghauses aufgetan wurden und das Verfahren seinen Anfang nahm. In feierlichem Zug kam zuerst der Gerichtsdiener, der Lehnsmann und die Gefangenen, die zwar frei von Fesseln und Banden waren, obgleich jeder von ihnen von zwei Soldaten bewacht wurde. Danach erschienen der Küster, der Propst, die Schöffen, der Schreiber und der Richter. Hinter allen diesen kamen die Herrschaften und einige Bauern, die in großem Ansehen standen und mit diesen allen innerhalb des Ringes der Soldaten sein durften.

Der Lehnsmann und die Gefangenen stellten sich an der linken Seite des Thinghauses auf, der Richter und die Schöffen dagegen rechts davon, die Herrschaften blieben in der Mitte stehen. Der Schreiber nahm mit seinen Papierrollen an dem Tisch Platz. Die große Trommel stand noch immer von nichts verdeckt mitten in dem Kreis.

In dem Augenblick, als der Zug sich zeigte, entstand in der Volksmenge ein großes Gedränge und Vorwärtsstürmen. Mehrere große und starke Männer suchten sich in die vorderste Reihe durchzudrängen. Und vor allem legten sie es darauf an, Marit Erikstochter wegzudrücken. Aber in ihrer Angst, nun weit nach hinten zurückgedrängt zu werden, drückte sie sich zusammen, und klein und mager, wie sie war, kroch sie zwischen den Beinen von zwei Soldaten durch und befand sich nun innerhalb des Sperrringes.

Das verstieß zwar gegen alle Ordnung, und der Lehnsmann gab dem Gerichtsdiener einen Wink, Marit Erikstochter fortzuschaffen. Der Gerichtsdiener begab sich auch eilig zu ihr hin, legte ihr die Hand auf die Schulter, wie wenn er sie festnehmen wollte, und führte sie mit sich nach dem Thinghaus. Als sie aber dann glücklich in dem Menschenhaufen, der davor stand, angekommen waren, ließ er sie los. Er hatte sie ja schon oft gesehen, und so wusste er, wenn sie nur in der Nähe der Gefangenen bleiben dürfte, würde sie sicher nicht auf und davon gehen, und wenn der Lehnsmann sie je festnehmen wollte, würde sie jetzt leicht zu greifen sein.

Wer hätte jetzt übrigens Zeit gehabt, an Marit Erikstochter zu denken? Der Propst und der Küster waren vorgetreten und hatten sich in der Mitte des Platzes aufgestellt. Beide nahmen die Hüte ab, und der Küster stimmte ein Kirchenlied an. Und als die, die außerhalb des Sperrringes standen, das Lied hörten, ging ihnen gleichsam ein Licht darüber auf, dass es sich um etwas Großes und Feierliches handelte, das vor sich gehen sollte, ja um das Feierlichste, dem sie je beigewohnt hatten: eine Anrufung der allmächtigen, allwissenden Gottheit, um deren Willen zu ergründen.

Und noch andächtiger wurden die Leute gestimmt, als nun der Propst selbst sprach. Er bat Jesus Christus, den Sohn Gottes, der selbst einst vor dem Richterstuhl des Pilatus gestanden hatte, sich über diese Angeklagten zu erbarmen, damit kein falsches Urteil über sie gefällt werde. Er betete auch, Gott der Herr möge sich der Richter erbarmen, damit sie nicht einen Unschuldigen zum Tode verurteilen müssten.

Zum Schluss bat er noch den Herrn, sich der Gemeinde zu erbarmen, damit sie nicht Zeuge eines so großen Unrechts werde wie einst die Juden auf Golgatha.

Alle hörten dem Propst mit entblößtem Haupt zu.

Jetzt dachten sie nicht mehr an ihre armen irdischen Gedanken, eine andere Stimme hatte sich ihrer bemächtigt. Es war ihnen, als rufe der Propst selbst Gott zum Zeugen an, und sie fühlten dessen Nähe.

Es war ein schöner Herbsttag. An dem hohen blauen Himmel zogen weiße Wölkchen dahin, die Bäume waren voll goldenen Laubes. Scharen von Zugvögeln flogen unaufhörlich über die Köpfe der Menge gen Süden. Es war ganz ungewöhnlich, wie viele Vogelscharen an diesem einen Tag vorüberzogen. Man dachte, das habe sicher etwas zu bedeuten. Sollte es ein Zeichen von Gott sein, dass er ihr Vorhaben billigte?

Als der Propst geendet hatte, trat der Landeshauptmann vor und verlas das Königsurteil mit lauter Stimme. Es war lang, mit vielen Wendungen, die man nur schwer verstehen konnte.

Aber eins wurde den Leuten doch klar: Die weltliche Macht legte gleichsam ihr Zepter und ihr Schwert, ihre Weisheit und ihr Wissen nieder und begehrte Führung von dem Allmächtigen; sie beteten, ja alle beteten, Gott möge helfen und leiten!

Danach ergriff der Lehnsmann die Würfel und bat den Richter sowie mehrere von den anderen Anwesenden, mit ihnen zu würfeln, um ihre Richtigkeit zu erproben. Und die Leute hörten den Fall der Würfel auf das Trommelfell mit einem seltsamen Beben. Die kleinen Dinger, die schon so manchen Mannes Unglück gewesen waren, sollten jetzt für würdig erachtet werden, Gottes Willen kundzutun.

Als die Würfel ausprobiert waren, wurden die drei Gefangenen herangeführt. Erik Ivarsson war der Älteste von ihnen, und ihm wurde der Becher zuerst gereicht. Zugleich aber tat ihm der Lehnsmann zu wissen, dass dies noch nicht die endgültige Entscheidung sei. Jetzt sollten sie zuerst darum würfeln, wie die Reihenfolge für sie bestimmt werde.

Bei diesem ersten Umgang warf Paul Eliasson die niedrigste und Ivar Ivarsson die höchste Zahl. Er musste also den Anfang machen.

Die drei Angeklagten trugen noch dieselben Kleider, die sie angehabt hatten, als sie auf dem Rückweg von der Sommeralm dem Rittmeister begegnet waren; doch waren sie jetzt zerrissen und beschmutzt. Und ebenso mitgenommen wie ihre Kleider sahen auch die aus, die sie trugen. Aber allen den vielen ringsum war es, als habe sich Ivar Ivarsson von den dreien am besten gehalten. Dies kam wohl daher, dass er Soldat gewesen und in Krieg und Gefangenschaft durch viel Leiden abgehärtet worden war. Er hielt sich noch stramm und zeigte ein mutiges, unerschrockenes Auftreten.

Als Ivar Ivarsson an die Trommel trat und den Becher mit den Würfeln von dem Lehnsmann in Empfang nahm, wollte ihm dieser zeigen, wie er den Becher halten und wie er würfeln müsse. Doch da spielte ein Lächeln um die Lippen des Mannes.

»Es ist nicht das erste Mal, dass ich mit Würfeln spiele, Herr Lehnsmann«, sagte er so laut, dass alle es hörten. »Der Starke Bengt von Hedeby und ich haben uns an manchem Abend dort draußen in den Steppenländern damit die Zeit vertrieben. Niemals aber hätte ich geglaubt, ich würde je gezwungen sein, noch einmal mit ihm zu spielen.«

Der Lehnsmann wollte ihn zur Eile mahnen; aber die ganze Volksmenge hörte ihm gern zu. Das war wahrlich ein tapferer Mann, der noch scherzen konnte, wenn er vor solchen Entscheidungen stand.

Nun legte er beide Hände um den Becher, und man sah, dass er betete. Als er sein Vaterunser gesprochen hatte, rief er mit lauter Stimme: »Und nun bitte ich dich, Herr Jesus Christus, du, der meine Unschuld kennt, du mögest mir aus Gnade einen niedrigen Wurf gewähren, denn ich habe weder Kind noch Liebste, die um mich weinen werden.«

Als dies gesagt war, warf er die Würfel auf das Trommelfell, dass es nur so dröhnte.

Und alle, die außerhalb des Sperrringes standen, wünschten in diesem Augenblick, Ivar Ivarsson möge frei ausgehen. Er gefiel ihnen, weil er tapfer und gut war, und sie konnten jetzt nicht mehr begreifen, wie sie ihn jemals für einen Missetäter hatten halten können. Es war ihnen beinahe unerträglich, so weit weg zu stehen und nicht zu wissen, wie die Würfel gefallen waren. Der Richter und der Lehnsmann beugten sich vor, die Schöffen und die anwesenden Herrschaften traten näher, um den Ausfall zu betrachten. Alle schienen erstaunt zu sein; einige von ihnen nickten Ivar Ivarsson zu, zwei schüttelten ihm die Hand; aber die Menge erfuhr nichts; manche murrten und knurrten.

Da winkte der Richter dem Lehnsmann, und dieser stieg auf eine der Treppenstufen vor dem Thinghaus, damit er besser gesehen und gehört werde.

»Ivar Ivarsson hat sechs-sechs geworfen, was der höchste Wurf ist!«

Da begriff man: Ivar Ivarsson war freigesprochen, und man freute sich darüber. Mehrere fingen zu rufen an: »Glück auf, Ivar Ivarsson!«

Doch jetzt geschah etwas, was alle in Erstaunen setzte. Paul Eliasson brach in laute Freudenrufe aus. Er riss die Mütze vom Kopf und warf sie hoch in die Luft. Dies kam so unerwartet, dass die Wächter ihn nicht zurückhalten konnten. Aber man verwunderte sich über Paul Eliasson. Es war ja wahr, Ivar Ivarsson war wie ein Vater für ihn gewesen, und nun handelte es sich um dessen Leben. Aber konnte er sich wirklich darüber freuen, dass ein anderer freigesprochen wurde?

Doch gleich darauf wurde die frühere Ordnung wiederhergestellt. Die Obrigkeit trat wieder nach rechts, die Gefangenen und die Wachmannschaft nach links, die anderen Zuschauer zogen sich zum Thinghaus zurück, und die Trommel stand nun von allen Seiten sichtbar in der Mitte des Platzes.

Jetzt war Erik Ivarsson an der Reihe, die Todesprobe zu bestehen.

Und heran trat ein gebrochener alter Mann mit wankendem unsicherem Gang. Konnte das Erik Ivarsson sein, der immer so fest und gebieterisch aufgetreten war? Seine Augen waren trüb, und viele meinten, er sei sich dessen, was vorging, nicht vollständig bewusst. Als er aber den Becher mit den Würfeln in die Hand bekam, machte er einen Versuch, sich aufzurichten und einige Worte zu sprechen.

»Ich danke Gott, dass mein Bruder Ivar Ivarsson jetzt freigesprochen ist«, sagte er, »denn obgleich ich in dieser Sache ebenso unschuldig bin wie er, ist er doch immer der Bessere von uns beiden gewesen. Und ich bitte unseren Herrn Jesus Christus, mich einen niedrigen Wurf tun zu lassen, damit meine Tochter den heiraten kann, der sie liebt, und bis ans Ende ihrer Tage glücklich mit ihm leben kann.«

Es war bei Erik Ivarsson wie bei vielen alten Leuten, seine frühere Kraft schien sich jetzt in seiner Stimme gesammelt zu haben. Was er sagte, wurde von allen gehört und rief tiefe Rührung hervor. Es sah Erik Ivarsson so gar nicht ähnlich, anzuerkennen, dass ein anderer mehr gewesen sei als er, und sich jetzt den Tod zu wünschen, damit ein anderer glücklich würde. In der ganzen Volksmenge war nicht einer, der ihn noch für einen Räuber oder Dieb halten konnte. Man stand mit Tränen in den Augen da und betete zu Gott, er möge ihm einen hohen Wurf verleihen.

Er schüttelte die Würfel im Becher kaum, drehte diesen nur um und ließ die Würfel herausfallen. Seine Augen waren zu alt, um die Punkte darauf unterscheiden zu können, er wendete seinen Blick auch gar nicht dahin, sondern starrte nur ruhig geradeaus.

Der Richter aber und die anderen eilten herbei, und jetzt sah man wie beim ersten Mal dieselbe Verwunderung auf ihren Gesichtern.

Es war, als hätte die Volksmenge, die außerhalb der Absperrung stand, schon bevor der Ausfall kundgetan wurde, verstanden, was geschehen war. Eine Frau war die Erste, die ausrief: »Gott sei Lob und Dank, dass er dir geholfen hat, Erik Ivarsson!«

Auch Paul Eliassons Mütze flog hoch in die Luft wie beim ersten Male. Und auch darüber verwunderte man sich. Dachte er gar nicht daran, was das für ihn selbst bedeutete?

Erik Ivarsson aber stand stumpf und gleichgültig da, nicht ein Strahl der Freude leuchtete in seinem Gesicht auf. Man dachte, vielleicht wolle er warten, bis der Lehnsmann den Ausfall verkündigte; aber selbst nachdem dies geschehen war und er erfahren hatte, dass auch er wie sein Bruder sechs-sechs geworfen hatte, blieb er gleichgültig. Er wollte an seinen früheren Platz zurückwandern, war aber nun vollkommen erschöpft, der Gerichtsdiener musste ihn stützen.

Jetzt war Paul Eliasson an der Reihe, zur Trommel hinzutreten, um den Glückswurf zu tun, und aller Blicke richteten sich nun auf ihn. Schon lange vor der Probe war man ja der Meinung gewesen, er müsse der eigentliche Verbrecher sein, und jetzt war er ja auch sozusagen schon verurteilt, denn eine höhere Zahl, als die Ivarssöhne geworfen hatten, gab es ja nicht auf den Würfeln.

Man war auch bis jetzt nicht unzufrieden mit diesem Ausgang gewesen. Nun aber sah man, dass Marit Erikstochter sich bis zu Paul Eliasson hingeschlichen hatte. Er hielt sie nicht umschlungen, und kein Kuss, keine Liebkosung wurde zwischen ihnen gewechselt. Sie lehnte sich nur ganz dicht an ihn, und er hatte den Arm um ihre Mitte gelegt. Niemand hätte genau sagen können, ob sie schon lange so beieinander standen, denn die Aufmerksamkeit aller war ja auf das Würfelspiel gerichtet gewesen.

Jedenfalls aber standen sie nun, auf unerforschliche Weise zusammengeführt, Seite an Seite, trotz Wachtmannschaft und drohender Obrigkeitspersonen, trotz der Tausende von Zuschauern, trotz des furchtbaren Spieles um Leben und Tod, worin sie verstrickt waren.

Das war Liebe, und etwas über aller irdischen Liebe Stehendes war es, was sie vereinte. Ebenso hätten sie an einem Sommermorgen am Gittertor stehen können, nachdem sie die ganze Nacht hindurch getanzt und sich da zum ersten Male gesagt hätten, dass sie Mann und Frau werden wollten. Ebenso hätten sie nach der ersten Abendmahlsfeier, als sie alle Sünde aus ihrer Seele weggenommen fühlten, beieinander stehen können. Ja, sie hätten ebenso dastehen können, wie sie, nachdem sie alles Grauen des Todes durchgemacht hatten und nun im Jenseits angekommen waren, sich da wieder getroffen und erkannt hätten, dass sie für alle Ewigkeit zusammengehörten.

Sie sah ihn mit tiefster Zärtlichkeit an, und da ging den Menschen in ihrer Seele ein Licht auf, das ihnen offenbarte, dass gerade Paul Eliasson der sei, mit dem sie Mitleid haben müssten. Er war ein junger Baum, der nicht zur Blüte- und Fruchtzeit stehen bleiben durfte, er war ein Roggenfeld, das niedergetreten werden sollte, ehe es jemand etwas von seinem Reichtum hatte schenken dürfen.

Ruhig löste er jetzt seinen Arm von Marit und folgte dem Lehnsmann zur Trommel. Man merkte ihm keine Unruhe an, als man ihm den Becher in die Hand gegeben hatte. Er richtete auch nicht wie die beiden vorher eine Ansprache an die Versammelten, sondern wendete sich nur an Marit.

»Hab keine Angst!«, sagte er. »Gott weiß, dass ich ebenso unschuldig bin wie die anderen.«

Hierauf schüttelte er die Würfel gleichsam spielend und ließ sie in dem Becher kreisen, bis sie den oberen Rand erreichten und auf das Trommelfell hinunterfielen.

Unbeweglich stand er da und folgte ihnen mit dem Blick. Als sie dann aber still lagen, brauchten die Leute auf die Verkündigung des Ausfalls durch den Lehnsmann durchaus nicht zu warten.

Paul Eliasson selbst rief mit lauter Stimme: »Ich habe sechssechs geworfen. Marit! Ich habe zwei Sechser geworfen wie die anderen auch!«

Nicht der geringste Zweifel stieg in ihm auf: Er war dadurch freigesprochen, und so konnte er sich vor lauter Freude darüber nicht still verhalten. Er machte einen hohen Satz, warf seine Mütze in die Luft, schloss den Wachsoldaten, der neben ihm stand, in seine Arme und küsste ihn.

Da dachte jedermann: »Man sieht, er ist ein Russe. Wenn er ein Schwede wäre, würde er nicht vorzeitig jubeln.«

Der Richter, der Lehnsmann, die Schöffen und die Herrschaften gingen gemächlich und ruhig zur Trommel hin und betrachteten die Würfel. Sie sahen jedoch diesmal nicht froh aus. Sie schüttelten den Kopf, und keiner von ihnen beglückwünschte Paul Eliasson zu seinem hohen Wurf.

Der Lehnsmann trat zum dritten Male auf die Staffel des Thinghauses und verkündete: »Paul Eliasson hat sechs-sechs geworfen, was der höchste Wurf ist!«

Es entstand eine heftige Bewegung in der Volksmenge; aber keine Jubelrufe ertönten. Niemand dachte, es könnte irgendein Betrug mit unterlaufen sein, so etwas war unmöglich. Aber allen wurde höchst ängstlich zumute, weil das Gottesurteil keine Klarheit gebracht hatte.

Waren wohl alle drei Angeklagten gleich unschuldig, oder waren alle drei gleich schuldig?

Man sah, wie Rittmeister Löwensköld zu dem Richter hintrat. Er wollte ihm wohl sagen, es sei gar nichts entschieden; der Richter aber wendete sich ziemlich jäh von ihm weg.

Der Richter und die Schöffen zogen sich nun in das Thinghaus zurück, um sich miteinander zu beraten, und während dieser Zeit wagte niemand, sich zu bewegen oder zu sprechen, noch hörbar zu flüstern. Auch Paul Eliasson verhielt sich still. Er schien jetzt zu verstehen, dass auch ein Gottesurteil auf mehr als eine Art gedeutet werden konnte.

Das Gericht erschien nach kurzer Beratung aufs Neue, und der Richter verkündigte, das Amtsgericht sei geneigt, den Ausfall so zu deuten, dass alle drei Angeklagten freigesprochen werden sollten.

Da riss sich Paul Eliasson von seinen Wächtern los und warf seine Mütze wieder jubelnd in die Luft; aber das geschah ein wenig zu früh, denn der Richter fuhr fort:

Diese Auffassung des Amtsgerichts solle jedoch durch einen Kurier, der noch am gleichen Tag abgehen werde, dem König unterbreitet werden, und die Angeklagten müssten so lange in Haft bleiben, bis von Seiner Königlichen Majestät die Bestätigung dieses Urteils des hiesigen Amtsgerichtes vorliege.

Die Löwenskölds

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