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Die Reise nach Karlstadt 1
ОглавлениеWas man auch gegen Thea Sundler einwenden mag, das eine muß man zugeben, sie verstand es besser als irgend jemand, Karl Artur Ekenstedt zu behandeln.
Denkt man zum Beispiel an Charlotte Löwensköld, so hatte auch diese versucht, ihn zu veranlassen, nach Karlstadt zu fahren und sich mit seiner Mutter zu versöhnen. Aber um ihn dazu zu bewegen, hatte sie ihn an alles erinnert, was ihm die Mutter gewesen war, und zuletzt hatte sie es tatsächlich versucht, ihn damit zu erschrecken, daß er nicht mehr so gut werde predigen können wie bisher, wenn er undankbar gegen seine Mutter sei.
Das war ganz so, als wollte sie, daß er wie der verlorene Sohn kommen und flehen sollte, wieder in Gnaden im Elternhaus aufgenommen zu werden. Aber in der Geistesverfassung, in der er sich damals befand, war das nichts für ihn, der so große Erfolge mit seinen Predigten gehabt hatte und von der ganzen Gemeinde hochgeschätzt wurde.
Thea Sundler griff es ganz anders an, als sie ihn veranlassen wollte, wieder nach Karlstadt zu reisen. Sie fragte ihn, ob das wahr sei, was sie von der lieben Tante Ekenstedt gehört habe, nämlich, daß diese verlange, man sollte sie auch für die kleinste Kleinigkeit, womit man sich gegen sie vergangen habe, um Verzeihung bitten? Aber wenn sie es bei andern so genau nehme, so sei sie wohl auch selbst willig und bereit … Ja, Karl Artur mußte zugeben, daß sie so sei. Im selben Augenblick, wo die Mutter einsehe, daß sie sich vergangen habe, sei sie auch bereit, es wiedergutzumachen und sich zu versöhnen.
Da erinnerte ihn Thea an damals, wo die liebe Tante Ekenstedt im schlimmsten Tauwetter die gefährliche Reise nach Upsala unternommen hatte, nur damit er sie um Verzeihung bitten könne. Und sie wunderte sich darüber, daß er, ein christlicher Pfarrer, einen weniger versöhnlichen Sinn habe als ein gewöhnliches weltliches Menschenkind.
Karl Artur begriff nicht so recht, wo sie hinauswollte. Er starrte sie nur unverwandt an.
Aber Frau Sundler sagte, diesmal sei es die liebe Frau Oberst Ekenstedt gewesen, die sich gegen ihn vergangen habe, und wenn sie so gerecht sei, wie er behaupte, dann könne er ja nicht daran zweifeln, daß sie es jetzt bereute und sich von ganzem Herzen danach sehne, ihn um Verzeihung zu bitten. Aber sie könne ja nicht zu ihm kommen, weil sie krank sei, und darum sei es seine Pflicht, zu ihr zu reisen.
Das war etwas ganz anderes, als womit ihm Charlotte gekommen war. Das hieß nicht, als verlorener Sohn zu den Eltern heimzukehren, sondern bei ihnen als Sieger einzutreten! Nun fuhr er nicht hin und flehte um gnädige Vergebung, sondern er erteilte sie. Es ist unmöglich zu beschreiben, wie sehr ihm das zusagte und wie dankbar er Thea war, die ihn auf diesen Gedanken gebracht hatte.
Kaum war er am Sonntag aus der Kirche zurück und hatte bei Thea gegessen, als er sich auch schon auf die Reise nach Karlstadt begab. Ja, er war so eifrig, daß er die ganze Nacht hindurch fuhr. Er hielt sich mit dem Gedanken wach, wie schön es sein werde, wenn er bei der Mutter angelangt sei. Niemand vermochte eine derartige Begegnung so schön zu gestalten wie seine Mutter.
Um fünf Uhr in der Frühe kam er in Karlstadt an; er ging aber nicht sofort nach Hause, sondern zuerst in den Gasthof. Über die Gesinnung seiner Mutter ihm gegenüber kamen ihm nicht die geringsten Zweifel, aber der seines Vaters war er nicht so ganz sicher. Es war durchaus nicht unmöglich, daß der Vater ihn nicht hereinlassen würde, und dem wollte er sich im Beisein des Kutschers nicht aussetzen.
Der Wirt des Gasthofs stand auf der Hausstaffel und erkannte Karl Artur sofort als alten Karlstädter. Er hatte vielleicht ein Vöglein davon pfeifen hören, daß zwischen ihm und seinen Eltern ein Zerwürfnis entstanden sei, weil der junge Pfarrer ein Mädchen aus Dalarne heiraten wolle. Darum sprach, er vorsichtig und teilnehmend mit Karl Artur; aber dieser sah so ruhig und zufrieden aus und antwortete so munter, daß der Wirt anfing zu glauben, das Gerücht von einer Uneinigkeit sei aus der Luft gegriffen.
Karl Artur verlangte ein Zimmer, wusch sich und kleidete sich sehr sorgfältig an. Als er wieder herauskam, trug er den Pastorenrock In Schweden tragen die Pfarrer den ganzen Sonntag über den Pastorenrock, den »Lutherrock«, einen langen zugeknöpften Gehrock und kleine Beffchen, über den in der Kirche der nur über den Rücken herabfallende Talar getragen wird. Anm. d. Ü., die kleinen Beffchen und den hohen schwarzen Hut. Er hatte sich in seine Amtstracht gekleidet, um der Mutter gleich zu zeigen, in welch frommer und priesterlicher Gesinnung er gekommen war.
Der Wirt fragte ihn, ob er frühstücken wolle, allein er lehnte ab, denn er wollte den glücklichen Augenblick, in welchem er und seine Mutter einander in die Arme fallen würden, nicht länger hinausschieben.
Rasch ging er durch die Straßen dem Klarelfstrande zu. In ihm war dieselbe große und freudige Erwartung wie zu jenen Zeiten, wo er als Student von Upsala in die Ferien nach Hause gekommen war.
Aber plötzlich blieb er stehen und sah so verstört aus, als hätte er einen Schlag ins Gesicht bekommen. Er war dem Elternhause ganz nahe gekommen und sah, daß alle Türen und Fensterläden fest verschlossen waren. Im ersten Erstaunen fiel ihm ein, der Wirt hätte am Ende seinen Eltern Nachricht gesandt, daß er gekommen sei, und sie hätten das Haus verschlossen, um ihn nicht hereinzulassen. Er wurde feuerrot vor Zorn und machte sofort kehrt, um wieder abzureisen.
Aber es dauerte nicht lange, da mußte er über sich selbst lachen. Es war ja kaum sechs Uhr, und um diese Zeit war das Haus immer fest verschlossen. Das war doch zu lächerlich von ihm! Wie war er nur auf den Gedanken gekommen, die Läden seien verriegelt und die Türen verschlossen, damit er nicht herein könne! Er ging zurück zur Gartentür und nahm auf einer Gartenbank Platz, um abzuwarten, bis das Haus erwache. Jedenfalls aber konnte er nicht umhin, es für ein schlechtes Zeichen anzusehen, daß die Heimat so fest verschlossen war, als er ankam. Mit seiner Fröhlichkeit war es aus. Die große Zuversicht, die ihn die Nacht hindurch aufrechterhalten hatte, war verflogen.
Er betrachtete die schönen Blumenbeete und die gepflegte Rasenfläche. Und er betrachtete das große und schöne Haus. Und dann dachte er an sie, die über das alles herrschte und die so sehr geschätzt und gefeiert war, und er mußte sich selbst sagen: es ist unmöglich, daß sie mich um Verzeihung bittet. Es fehlte nicht viel, daß er weder sich noch Thea mehr verstehen konnte. In Korskyrka hatte er gemeint, es sei eine natürliche und selbstverständliche Sache, daß seine Mutter Reue empfinde, aber hier sah er seine Torheit ein.
Schließlich war er davon überzeugt, daß er seines Weges gehen wollte. Ja, schon stand er auf. Er hatte es eilig, von hier wegzukommen, ehe ihn irgendein Mensch gesehen hatte.
Aber als er bereits an der Gartentür stand, kam ihm der Gedanke, es sei vielleicht der allerletzte Besuch, den er in seiner Heimat mache. Wenn er jetzt gehe, dann sei es, um niemals wiederzukehren.
Er wanderte an der Hausecke vorbei und gelangte unter die großen schönen Bäume am Flußufer. Ja, hier würde er also niemals mehr lustwandeln und die herrliche Aussicht genießen! Lange betrachtete er das Ruderboot, das heraufgezogen am Strande lag. Seit er fort war, kümmerte sich wohl niemand mehr darum; aber siehe da, es war geteert und gestrichen, ganz wie damals, als er noch darin zu rudern pflegte!
Er eilte hin zu einem kleinen Gartenbeet, das er gehegt hatte, als er noch ein Kind war, und er fand auch dieses genau wie damals und mit ganz den gleichen Gemüsen bepflanzt, die er dort gezogen hatte. Und er begriff, es war die Mutter, die dies veranlaßt hatte. Sie war es, die dafür sorgte, daß das kleine Spielgärtchen erhalten blieb. Es waren mindestens fünfzehn Jahre vergangen, seit er es selbst bearbeitet hatte. Unter dem Astrachanbaum suchte er nach unreifen Äpfeln und steckte einen in die Tasche, obwohl er noch grasgrün und viel zu hart zum Hineinbeißen war. Und von den Johannis- und Stachelbeeren naschte er, obwohl sie schon alt und überreif waren.
Er wandte sich dem Wirtschaftsgebäude zu und fand einen Schuppen, in dem er immer einen kleinen Spaten, einen Rechen und eine Schiebkarre stehen gehabt hatte. Er guckte hinein. Wirklich, alle drei Gegenstände befanden sich noch am selben Platz, wo er sie verlassen hatte. Niemand hatte sie fortschaffen dürfen.
Nun war es gewiß sehr spät geworden, und er mußte sich beeilen, wenn er ungesehen wegkommen wollte. Aber immer gab es noch etwas, das er gerne zum letztenmal sehen wollte. Alles hatte einen ganz neuen Wert für ihn bekommen. Ich wußte gar nicht, wie lieb mir das alles ist, dachte er.
Zu gleicher Zeit mußte er aber über seine eigene Kindlichkeit lächeln. Es wäre ihm unlieb gewesen, wenn ihn Thea Sundler jetzt gesehen hätte, die vor ein paar Tagen die heldenmütigen Worte, mit denen er sich von Eltern und Heimat lossagte, so sehr bewundert hatte. Schließlich kam ihm der Verdacht, das, was ihn hier festhalte, sei die geheime Hoffnung, jemand könnte ihn sehen und ihn hineinlassen. Aber als er sich das klarmachte, faßte er einen raschen Entschluß und ging seines Weges.
Er war am Ende des Sandweges angelangt und stand an der Gartentür, als er in dem verschlossenen Wohnhaus ein Fenster öffnen hörte.
Nun konnte er es nicht lassen, er mußte sich umdrehen. Das Fenster des Schlafzimmers seiner Mutter war geöffnet worden, und seine Schwester Jaquette beugte sich heraus, um die frische Morgenluft einzuatmen.
Im nächsten Augenblick hatte sie ihn auch schon entdeckt, und sofort nickte sie ihm zu und winkte ihm. Und gegen seinen Willen tat er dasselbe. Er nickte und winkte wieder und deutete auf die verschlossene Haustür. Da verschwand Jaquette vom Fenster, und nach wenigen Minuten hörte er Schloß und Riegel klirren. Die Tür ging auf, die Schwester erschien auf der Schwelle und streckte ihm beide Hände entgegen.
Er schämte sich vor Thea und vor sich selbst, denn in diesem Augenblick glaubte er nicht, die Mutter werde ihn um Verzeihung bitten. Nein, er hatte in der Heimat nichts mehr verloren, aber er konnte es nicht lassen, er lief auf Jaquette zu, erfaßte ihre Hände, zog sie an sich und war herzensfroh darüber, daß sie ihm aufgemacht hatte. Unwillkürlich traten ihm die Tränen in die Augen.
Jaquette war überglücklich. Als sie ihn weinen sah, umarmte und küßte sie ihn. »Karl Artur, Karl Artur, Gott sei Dank, daß du gekommen bist!«
Er war vollständig überzeugt gewesen, man werde ihn nicht ins Haus hineinlassen. Nun überraschte ihn dieser freundliche Empfang so sehr, daß er nur stotternd fragen konnte: »Sag, Jaquette, ist die Mutter wach? Kann ich mit ihr sprechen?«
»Gewiß kannst du mit der lieben Mutter reden. Es ist ihr in den letzten Tagen besser gegangen, und heute nacht hat sie wirklich gut geschlafen.«
Sie ging vor ihm her die Treppe hinauf, und er folgte ihr etwas langsamer nach. Niemals hätte er glauben können, daß er sich so glücklich fühlen würde, wieder daheim zu sein! Er legte die Hand auf das glatte Treppengeländer, nicht um sich darauf zu stützen, sondern um es zu streicheln.
Als er die Treppe hinaufgekommen war, erwartete er nichts anderes, als daß jemand kommen und ihn davonjagen werde. Allein nichts dergleichen geschah. Da ging ihm ein Licht auf. Der Vater hatte augenscheinlich der Familie von dem großen Zerwürfnis gar nichts mitgeteilt. Nein, nein, er hatte das ja gar nicht tun können, weil die Mutter krank war!
Ja, so mußte es zusammenhängen, das war klar. Und nun ging Karl Artur mit mehr innerer Ruhe weiter.
Wie schön war es hier in den Zimmern! Dieser Ansicht war er zwar schon immer gewesen, aber doch nicht so entschieden wie heute. Die Möbel standen nicht nur so an den Wänden herum wie anderwärts. Hier innen war es angenehm und behaglich. Sie, die hier wohnte, hatte allem ihr Gepräge aufgedrückt.
Die beiden Geschwister hatten nun den Salon und das Kabinett durchschritten und waren an der Schlafzimmertür angelangt. Hier machte Jaquette ihrem Bruder ein Zeichen zu warten, während sie allein in das Schlafzimmer glitt.
Er strich sich über die Stirn und suchte sich zu erinnern, warum er hierhergekommen war. Aber er konnte an nichts anderes denken, als daß er zu Hause war und seine Mutter sehen würde.
Dann kam Jaquette wieder heraus und holte ihn. Als er seine Mutter sah, die bleich, mit verbundenem Arm und verbundener Stirn im Bette lag, war ihm das wie ein Stoß vor die Brust, und er warf sich am Bett auf die Knie. Sie stieß einen Freudenruf aus, faßte ihn mit dem gesunden Arm um den Hals, zog ihn zu sich heran in einer langen Umarmung und küßte ihn.
Sie schauten einander in die Augen und waren überglücklich. In diesem Augenblick gab es nichts, was sie trennte. Alles war vergessen.
Das hatte sich Karl Artur vorher nicht klargemacht, wie schwach und gebrechlich die Mutter jetzt war, und er konnte seine Rührung kaum beherrschen. Sehr zärtlich erkundigte er sich nach ihrem Zustand. Da war es unmöglich, daß sie nicht merkte, wie sehr er sie liebte. Aber dies war das beste Heilmittel für die Kranke, und sie zog ihn noch einmal an sich.
»Es hat gar nichts zu bedeuten. Jetzt ist alles wieder gut. Ich weiß gar nicht mehr, wie die Schmerzen gewesen sind.«
Aus dieser Antwort ersah er, daß sie ihn noch genauso liebte wie früher. Ja, nun war ihm alles wiedergegeben, was er schon als verloren betrauert hatte. Das merkte er jetzt genau. Er durfte sich wieder als der Sohn dieses prächtigen Hauses fühlen. Es blieb ihm nichts mehr zu wünschen übrig.
Allein während er sich am glücklichsten fühlte, überkam ihn plötzlich eine seltsame Unruhe. Er hatte das nicht erreicht, weswegen er ausgezogen war. Seine Mutter hatte ihn nicht um Verzeihung gebeten, und es sah auch gar nicht so aus, als ob sie es zu tun gedächte. Eine starke Versuchung überkam ihn, sich gar nicht um eine Verzeihung zu kümmern. Aber dies war eben doch eine sehr wichtige Sache für ihn. Wenn seine Mutter einsah, daß sie ihm unrecht getan hatte, dann bekam er ja eine ganz andere Stellung hier im Hause, und die Eltern würden gezwungen sein, in der Frage seiner Heirat mit Anna Svärd nachzugeben.
Nachdem ihn die Mutter so wohl empfangen hatte, fühlte er sich außerdem ganz sicher und auch ein wenig übermütig. Es wird am besten sein, wenn ich diese Frage gleich aus der Welt schaffe, dachte er. Es ist nicht sicher, ob Mutter an einem anderen Tag ebenso mild und zärtlich sein wird.
Bis jetzt hatte er auf den Knien gelegen, nun aber stand er auf und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett.
Es machte ihn etwas verlegen, daß er jetzt mit seiner Mutter ins Gericht gehen sollte. Aber da kam ihm ein Einfall, der ihn ganz vergnügt machte. Er erinnerte sich an früher: wenn er oder die Schwester etwas Unrechtes getan hatte, wegen dessen die Mutter eine Bitte um Verzeihung erwartete, dann hatte sie allezeit den Übeltäter mit den Worten angeredet: »Nun, mein Kind, hast du mir nichts zu sagen?«
Um nun auf eine leichte Weise auf das heikle Thema zu kommen, runzelte Karl Artur die Stirn und erhob den Zeigefinger, lächelte aber dazu, damit die Mutter begreifen sollte, daß er lustig und scherzhaft gestimmt sei, und sagte:
»Nun, liebe Mutter, hast du mir nichts zu sagen?«
Seine Mutter schien durchaus nichts zu begreifen. Sie lag still da und schaute fragend zu ihm auf.
Die arme Schwester dagegen, die seither ganz glücklich danebengestanden und die freudige Begrüßung zwischen Mutter und Bruder mit angesehen hatte, sah nun höchst erschrocken aus und hob verstohlen die Hand, um ihn zu warnen.
Allein Karl Artur war ganz fest überzeugt, seine Mutter werde über seinen Einfall entzückt sein und ihm in demselben Tone antworten, sobald sie seine Meinung erfaßt habe. Er wollte sich nicht warnen lassen, sondern fuhr in seiner Rede fort:
»Du hast wohl bemerkt, Mutter, daß ich am Donnerstag etwas ärgerlich war, weil du den Versuch gemacht hattest, mich und meine Braut zu trennen. Ich hätte niemals gedacht, daß meine liebe Mutter so unfreundlich gegen mich sein könnte, und ich war so verstimmt, daß ich auf und davon ging mit der Absicht, dich nie wiederzusehen.«
Die Frau Oberst lag immer noch still da. Karl Artur konnte nicht die geringste Spur von Zorn oder Mißbilligung an ihr wahrnehmen.
Die Schwester dagegen wurde immer unruhiger. Sie schlich sich näher heran und kniff ihn vom Fußende des Bettes her fest in den Arm.
Er begriff wohl, was sie meinte, aber er war seiner Sache vollkommen sicher. Viel besser als Jaquette wußte er, wie die Mutter genommen werden mußte, und so fuhr er wie vorher fort:
»Ja, liebe Mutter«, sagte er, »als ich am Freitag früh den Vater verließ, versicherte ich ihm, daß ich nie wieder in diese Mauern zurückkehren würde. Aber nun bin ich doch wieder hier, und ich möchte wohl wissen, ob du, die klügste Frau in Karlstadt, verstehst, warum ich wiedergekommen bin?«
Hier machte er eine Pause. Er war überzeugt, da er nun so viel gesagt hatte, werde die Mutter von selbst fortfahren. Aber das tat sie nicht; sie schob sich nur ein wenig höher auf das Kopfkissen hinauf und hielt die Augen so beharrlich auf ihn gerichtet, daß es ihn fast peinlich berührte.
Unwillkürlich stieg der Gedanke in ihm auf, ob nicht vielleicht der Verstand seiner Mutter durch die Krankheit geschwächt worden sei. Sie konnte doch sonst halbausgesprochene Dinge verstehen; wenn sie das jetzt nicht tat, so mußte er eben weitermachen.
»Ja, Mutter, es war wirklich meine Absicht, dich niemals wiederzusehen; als ich dies aber einer Freundin mitteilte, fragte sie mich, ob nicht meine Mutter es gewesen sei, die immer verlangt habe, daß man sich für das kleinste Versehen bei ihr entschuldige. Und dann fragte sie mich weiter, ob nicht auch meine Mutter selbst …«
Weiter kam er nicht, denn Jaquette unterbrach ihn wieder. Sie schüttelte jetzt seinen Arm geradezu.
Doch in diesem Augenblick brach die Frau Oberst ihr langes Schweigen.
»Nein, Jaquette, störe ihn nicht«, sagte sie. »Laß ihn weiterreden.«
Als die Mutter das sagte, durchfuhr Karl Artur ein leiser Verdacht, ob sie am Ende doch nicht so ganz zufrieden mit ihm sei, aber er schob ihn gleich wieder weit von sich weg. Sie konnte ihn doch nicht für hart und lieblos halten, das war unmöglich. Größere Schonung konnte sie doch nicht verlangen.
Nein, die Mutter hatte Jaquette nur verbieten wollen, ihn einmal ums andere zu stören. Und jedenfalls hatte er jetzt schon zuviel gesagt, da war es am besten, er sprach sich ganz aus.
»Diese Freundin war es auch, die mich jetzt hierhergeschickt hat. Sie sagte, es sei meine Pflicht, zu meiner Mutter zu reisen, da diese ja nicht zu mir kommen könne. Erinnerst du dich, liebe Mutter, wie du damals nach Upsala gereist bist, damit ich Gelegenheit hätte, dich um Verzeihung zu bitten? Meine Freundin sagte mir, sie sei überzeugt, du werdest einsehen, daß du …!«
Nein, daß es so schwer war, mit seiner Mutter ins Gericht zu gehen! Diese Worte klebten ihm förmlich an der Zunge. Er stammelte, und er hustete, und schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als zu schweigen. Da flog ein leichtes Lächeln über das Gesicht der Frau Oberst, und sie fragte, wer denn die Freundin sei, die so gute Gedanken über sie hege.
»Thea war's, Mutter.«
»War es nicht Charlotte, die meinte, ich sehne mich nach dir, um dich um Verzeihung bitten zu können?«
»Nein, nicht Charlotte war's, sondern Thea.«
»Ich bin froh, daß es nicht Charlotte war«, sagte die Frau Oberst.
Dabei schob sie sich noch etwas höher auf das Kissen hinauf und versank in Schweigen. Auch Karl Artur sagte nichts mehr. Er hatte seiner Mutter nun gesagt, was er wünschte, wenn auch nicht mit so großer Beredsamkeit, wie es notwendig gewesen wäre. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten.
Mittlerweile betrachtete er seine Mutter. Sicherlich kämpfte sie einen schweren Kampf mit sich selbst. Dem eigenen Sohne gegenüber ihr Unrecht anzuerkennen, das ging nicht so mit einem Male.
Doch nun stellte sie eine andere Frage. »Du hast deinen Pastorenrock angezogen?«
»Ich wollte dir damit zeigen, in welcher Gemütsstimmung ich gekommen bin.«
Ein neues Lächeln huschte über das Antlitz der Mutter, und Karl Artur erschrak, denn es war böse und spöttisch.
Doch plötzlich kam ihm das Gesicht hier auf den Kissen vor, als sei es in Stein gemeißelt. Die Worte, die er erwartete, kamen nicht. Angst erfaßte ihn, es könnte seiner Mutter am Ende nicht möglich sein, zu bereuen und abzubitten.
»Mutter!« rief er und legte in seine Stimme so viel Ermahnung und Erwartung, als ihm möglich war.
Da ging eine Veränderung mit der Kranken vor. Das Blut schoß ihr ins Gesicht; sie richtete sich im Bett auf, hob den gesunden Arm in die Höhe und schüttelte ihn vor seinem Gesicht.
»Nun ist es genug!« rief sie. »Gottes Geduld ist zu En–« Sie konnte nicht mehr. Das letzte Wort erstarb matt und undeutlich. Die Augäpfel drehten sich nach oben, so daß nur noch das Weiße zu sehen war, und die Hand fiel schlaff auf die Decke nieder. Jaquette rief laut um Hilfe und rannte aus dem Zimmer. Karl Artur warf sich über die Mutter. »Was ist dir? Mutter! Mutter! Aber nimm es doch nicht so schwer!« Er küßte sie auf Mund und Stirne, wie wenn er Leben in sie hineinküssen wollte.
Als er so über sie gebeugt lag, fühlte er plötzlich einen harten Griff im Nacken. Jemand hatte ihn am Rockkragen gefaßt, und als ob er ein kraftloser junger Hund wäre, wurde er von einer starken Hand zum Zimmer hinausgetragen und auf den Boden geschleudert.
Zugleich hörte er seinen Vater mit furchtbarer Stimme sagen: »Ach so, du bist wiedergekommen! Du kannst dich wohl nicht zufriedengeben, bis du sie ganz umgebracht hast!«