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KAPITEL 2: TROJA BESUCH-SCHULE
ОглавлениеDie vorbeiziehenden Dorfbewohner freuten sich mit vier Freudinnen.
Plötzlich blieb Semira stehen, wie ein Magnet angezogen, bewegte sie sich aus dem Dorf fort.
„Oh, nein, sie geht schon wieder“, beklagte sie sich Sheyda.
„Semira komm zurück, wir wollten doch noch…!“ Nilan wollte so vieles mit ihr unternehmen, ihr Bedauern war grenzenlos.
„Bitte Semira, bleib hier, bitte!“, flehte Esra ihre Freundin.
Semira ging einfach weg.
Wenig später stand sie vor den Ausgrabungen der Stadt-Troja. Die Geologen und Arbeiter sind anscheinend an ihre Anwesenheit gewöhnt.
„Seht nur, die Kleine ist wieder da!“, sagte ein Arbeiter, machte die Anderen auf sie aufmerksam.
Alle schmunzelten.
„Ganz pünktlich, wie immer. In der gleichen Minute, fast fünf Uhr.“ Ein anderer Arbeiter, sah auf seine Armbanduhr.
„So! Es ist genug für heute!“, kündigte der Geologe darauf an.
Feierabend: Die Arbeiter legten Schaufeln und Hacke nieder. Müde aber zufrieden, drehten sie sich noch einmal immer noch schmunzelnd, dem Mädchen zu, bevor sie gingen.
Semira, ihre Augen auf die verwühlte Erde gerichtet, stieg in die Ausgrabungen herab. Ihre Gesichtszüge verraten Gefühle; Dasein, Hiersein und Nahesein. Sie schloss ihre Augen, horchte wieder inneren Bildern nach, in ihren unruhigen Liedern.
Als sie ihre Augen wieder öffnete, wollte sie fühlen, spüren. Auf ein gewölbtes Erdstück legte sie die Hand darauf. Unter ihren Fingern bewegte sich die Erde in Lichtgeschwindigkeit, wie auf einer Achterbahn. Erschrocken zog sie ihre Hand zurück.
Jedoch empfand sie, fremde, warme, sonderbare, gewonnene Gefühle dabei.
Am nächsten Morgen: Esra holt ihre beste Freundin Semira, auf dem Schulweg, von daheim ab.
„Weisst du, ich finde es nicht nett von dir, dass du uns gestern wieder mal stehengelassen hast“, teilte Esra ihre Meinung, wie sehr sie von ihrer Freundin enttäuscht war.
„Ich weiss…ich kann nichts dafür“, etwas beschämt war Semira schon.
„Du musst einfach nicht mehr dorthin gehen, verstehst du! Wir sind deine Freundinnen, das Andere…ich meine diese Ausgrabungen…“ Esra machte einen Versuch Semira zu überreden, konnte aber nicht weiter reden.
Die anderen Kinder schlossen sich unterwegs zur Schule ihnen an.
In der Klasse; die Kinder waren ruhig, folgten der Lehrerin. Es gab in der ersten Stunde Geschichte.
Die Lehrerin schrieb einige Begriffe, an die Tafel. Während sie die Geschichte erzählte ging sie zwischen den Bänken durch.
Semiras Augen waren geschlossen. Die Lehrerin beobachtete sie ungläubig.
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„Semira…Semira“, flüsterte Esra wollte sie aufwecken.
Aber die Lehrerin kam ihr zuvor.
„Semira…du kannst daheim schlafen, hier wird gelernt Mädchen!“, befahl sie zum kleinen Mädchen.
Keine Reaktion von ihr. Die Lehrerin schüttelnd, weckte sie auf.
Semira riss die Augen auf, mit leeren Blicken schaute sie auf. Die Lehrerin wusste, wie intelligent ihre Schülerin war, aber ihr rätselhaftes Benehmen war schon sonderbar.
„Hoffentlich bist du wach, Semira folge bitte dem Unterricht!“, machte Lehrerin Semira aufmerksam auf die Geschichte.
Auf dem Heimweg:
„Bist du wirklich müde Semira, dass deine Augen im Unterricht geschlossen waren?“, fragte Esra neugierig.
„Nein…nur hab verlangen danach, ohne zu wollen“, gab Semira ehrlich zu.
Wie immer werden sie nach der Schule von den anderen Kindern unterbrochen.
Am nächsten Tag: Heute war es umgekehrt. Semira wartete lange auf Esra, vor Esras Haus.
Meistens holte Esra ihre Freundin für die Schule ab, aber auch sonst; heute war es eben anders.
„Guten Morgen Semira! Gleich kommt Esra runter“, begrüsste Esras Mutter Ayisa freundlich, kam lächelnd auf Semira zu.
„Guten Morgen, danke ich werde auf sie warten“, sagte sie auch freundlich und wartete.
Endlich Esra aus dem Haus rauskam; „Viel Glück, ihr beiden“, wünschte Ayise den beiden Mädchen.
„Vielen Dank!“, rief Semira zu Ayisa, für die guten Wünsche. „Wo bist du geblieben?“. Fragte sie, als Esra sich ihr angeschlossen hatte.
„Entschuldige bitte, ich habe kaum geschlafen, deshalb bin ich spät dran“, sagte Esra mit dunklen Augenringen unter den Augen, weckte immer noch müden Eindruck.
„Warum?“, fragte Semira verwundert.
„Du weisst schon, wie schlecht ich in Mathe bin, wenn ich nur daran denke, heute wir eine Prüfung haben“
„Was du nicht kannst, kannst du von mir abschreiben, später lernen wir es durch.“ Semira konnte damit ihre Freundin einwenig beruhigen.
„Das ist eine gute Idee. Ich wusste, du würdest mir helfen!“, holte Esra tief Luft erleichtert.
„Ich werde mein Blatt offen und nahe dir halten“, schlug Semira vor.
„Danke, meine Freundin. Du bist die Beste, danke“
Jeder Schüler bekam ein Blatt, mit Fragen darauf.
Esra schaute versteckt auf Semiras Blatt. Aber Semira schrieb eine Zeile eine Zweite. Es sah nicht aus, wie Mathe Lösungen. EIN VERS? EIN GEDICHT?
Immer die gleichen Handbewegungen und Wörter. Die Lehrerin, wird wieder aufmerksam auf sie.
„Semira…Semira, bitte Semira, sie kommt“, flüsterte Esra wieder, ihre Freundin, sie solle aufpassen.
Die Lehrerin kam, sah das Mädchen, seine geschlossenen Augen. Semira kritzelt weiter… ununterbrochen weiter.
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„SEMIRA“, rief Lehrerin energisch. „Was schreibst du da?“
„Ich…ich…“, stotterte sie, erschrocken.
Die Lehrerin entfernte das Blatt von ihr, wollte es lesen, ihre Lippen verstummten gleich.
„Nimm dir neues Blatt vom Pult, fang die Aufgaben zu lösen an!“, forderte sie auf.
Die Lehrerin nahm das Blatt mit sich, legte es auf das Pult. Als die Stunde zu Ende ging.
„Semira! Einen Moment, kannst du bitte zu mir kommen“, bat Seyhan die Lehrerin Semira.
Als Semira vor dem Pult stand.
„Gibst du bitte, diesen Brief deinen Eltern!“ Die Lehrerin streckte einen Briefumschlag Semira entgegen.
„Ja, mache ich“, nahm den Briefumschlag besorgt entgegen. Sie ahnte bereits, was drinnen geschrieben stand.
Draussen vor der Klassentür wartete Esra auf ihre Freundin, sah, wie unwohl sie sich fühlte.
„Was wollte sie von dir?“, konnte Esra ihrer Neugier nicht verbergen.
„Sie gab mir einen Brief“, antwortete Semira leise.
„Einen Brief?“
„Ja, für meine Eltern.“ Semira in grosser Besorgnis.
„Komm!“ Esra zog Semira zu einer ruhigen Ecke mit sich.
„Kommt ihr zwei nicht?“, fragte Sheyda durch die offene Glastür, am Treppentabler.
„Ja, doch, geht nur voran, wir kommen gleich!“, rief Esra zurück.
Sheyda verschwand, Nilcan wartete draussen im Schulgarten,sie schloss sich ihr an.
„Semira, was geht hier vor?“, fragte sie interessiert, an der Ecke gleich nach der Glastür der Schule.
„Was meinst du damit?“ Semira sprachlos stand sie da.
„Wieso schliesst du immer deine Augen?“
„Ich…ich…“, schweres Zögern trat bei Semira auf.
„Semira!...Ich bin es, deine beste Freundin, mir kannst du vertrauen!“
„Ich…“, stockte Semira immer noch zögernd.
„Bitte Semira, vielleicht kann ich dir sogar helfen“ Esra war entschlossen ihre Freundin wirklich zu helfen.
„Kannst du nicht…“, Semira dachte nur keiner kann ihr dabei helfen.
„Woher willst du es wissen?“, Esra blieb stur.
„Kannst du schwören, dass du es niemandem erzählen wirst, wenn ich es dir sage? Schwören auf das aller heiligste!“
„Ja, ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen, ich werde dich nicht verraten.“
„Ich…ich sehe Bilder in mir…innere Bilder“, es fiel Semira schwer, ihr Geheimnis zu offenbaren.
„Bilder? Was für Bilder siehst du denn“, fragte Esra erstaunt.
„Bilder, die ich nicht einmal selbst kenne“ Semira nachdenklich.
„Sind es Menschen, Tiere…was…was…siehst du da?“, forderte Esra sie auf, weiter zu erzählen.
„Keine Ahnung. Helle Blitze bilden sich, wie eine Gruppe in meinem Kopf, vor meinen Augen, bewegen sich blitzschnell, ich kann ihnen nicht folgen, hell und leuchtend, schlagen sie zu“, verriet Semira.
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„Und das Blatt, auf dem du vorhin geschrieben hast?“ Esra konnte es nicht sein lassen, bohrte weiter.
„Ich…ich weiss es nicht. Ich schwöre. Ich weiss selber nicht, was darauf steht. Es ist nur so aus mir heraus gekommen“, sagte Semira verzweifelt.
„Träumst du vielleicht?“
„Nein, es ist kein Traum, es ist Wirklichkeit, es passiert alles in meinen inneren Augen. Aber es kommt und geht“
„Semira! Du gehst auch zu diesen Ausgrabungen…einmal sind Sheyda und ich dir nachgelaufen…warum…warum…tust du das?“, Esra beschrieb, wie sie Semira nachgefolgt waren, und sie lange in den Ausgrabungen beobachteten.
„Ich…ich fühle mich wohl. Dort zu sein, innehalten, horchen“, gab sie ehrlich zu.
„Du fühlst dich wohl im Dreck?“, warf Esra Semira vor.
„Es ist kein Dreck.“
„Gut, es ist nur Erde, sonst nichts. Ah! Was horchst du dort?“, wollte Esra wissen.
„Ich…“, dann wieder das lange Zögern bei Semira.
Die Tür wurde von aussen wieder heftig aufgerissen.
„Also kommt ihr nun oder nicht!“, fragte Nilan ungeduldig.
„Ja, ja wir kommen“, rief Esra eifrig.
„Du hast mir versprochen, dass du…mich nicht verraten wirst, nicht wahr?“, sah Semira Esra flehend an, während sie sich den Anderen anschlossen.
„Keine Angst, von mir erfährt keiner etwas!“, versicherte Esra ihre Freundin.
„Danke“, sagte Semira erleichtert.
Am Wochenende, Esra besuchte ihre Freundin. Semira fühlte sich nicht wohl, wegen dem Brief.
„Hast du schon den Brief deinen Eltern gegeben, Semira“, fragte Esra, kaum in Semiras Zimmer angekommen war, an der Bettkante sitzend.
Semira zögerlich, ängstlich sagte: „Nein“
„Du musst es aber tun, das weisst du doch!“, erinnerte Esra sie nochmal daran.
Semiras Mutter kam in diesem Moment herein.
„Wie fühlst du dich, mein Schatz“, näherte sich, fühlte ihre Stirn an. „Gott, du glühst ja, Kind. Ich werde mit Vater reden; sofort fahren wir in die Stadt, suchen einen Arzt für dich auf.“ Hanifa machte sich Sorgen um ihre Tochter.
„Es wird mir bald besser gehen Mutter, mach dir keine Sorgen. Wir sollten besser nicht in die Stadt fahren“, versuchte Semira ihre Mutter zu beruhigen.
„Aber Kind…“, protestierte Hanifa. Es tat ihr leid Semira in diesem Zustand zu sehen.
„Es geht mir jetzt schon besser“, machte Semira schwer ein schwaches Lächeln auf ihren Mund zu malen.
Ein mütterliches Lächeln breitete sich auf Hanifas Lippen.
„Mein tapferes Mädchen. Ich werde dir sofort kräftige Fleischbouillonsuppe kochen, dann sehen wir weiter“
„Ja, Mutter danke, danach geht es mir bestimmt viel besser.“
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Lächelnd lief Hanifa zur Tür um rauszugehen, blieb aber stehen.
„Ah! Deine Lehrerin hat angerufen.“ Die Mädchen sahen sich an. Semiras Kopf pochte zum platzen nahe. „Sie sagte; sie möchte uns gerne Mitte der nächsten Woche in der Schule sehen. Und sie habe dir einen Brief mitgegeben…hast du ihn…?“
„Ja, ich habe diesen Brief in meinem Schulsack…es tut mir leid, habe ihn vergessen abzugeben.“
Semira hielt für sich, dass sie ihn absichtlich vergessen wollte, traute sich nicht Esra anzusehen.
Hanifa ging zum Schulsack, auf dem Boden, vor dem Schreibtisch.
„In dem Vorderfach Mutter“, wies Semira ihre Mutter ein.
Hanifa sah nach, fand den weissen Briefumschlag.
„Na, ja, es wird wohl nichts schlimmes sein. Deine Lehrerin lobt dich ja bei jeder Gelegenheit, wie intelligent du bist.“
Die zwei Freundinnen wurden unruhig, als die Mutter den Brief in der Hand hielt.
„Mutter!“, rief Semira nervös.
„Ja, mein Schatz.“
„Bitte, den Brief, Vater einen Tag vorher zeigen, bevor ihr in die Schule kommt…bitte!“, bat Semira sie verzweifelt.
„Kind! Hast du etwa Angst“, Hanifa kam wieder ans Bett, nahm Semiras zittrige Hand in ihre.
Zuerst sah Semira ihre Freundin Esra an, die sich die ganze Zeit ruhig verhalten hat und nichts verriet, dann; „Ein bisschen schon“, gab sie zu.
„Was auch immer es ist. Wir werden es gut überstehen, denn ich kenne meine Tochter.“, tätschelte liebevoll auf die kleine Hand von Semira. „Mach dir keine grosse Gedanken darüber. Ich bin deine Mutter und ich werde immer zu dir stehen, mein Kind“, dann umarmte Semira in Mutterliebe.
Die Gutmütigkeit und Gutgläubigkeit ihrer Mutter bereitete dem Mädchen viele Bedenken. Doch nach ihrer Mutters Zusage ging es ihr bald wieder besser.
In der Schule versuchte Semira, dem Verlangen nach ihren inneren Bildern zu widerstehen; wenigstens bis Mitte Woche, sagte sie sich. Als sie doch schwach wurde:
„Darf ich bitte heraus treten“, meldete sie sich, ging auf die Toilette, wusch ihr Gesicht, danach fühlte sie sich besser. Als sie ihr Spiegelbild betrachtete, so schnell, so heftig, so rätselhaft schlugen die Bilder vor ihren Augen zu. Erschrocken kehrte sie in die Klasse zurück.
Mitte Woche: Semira ist aussergewöhnlich aufgeregt. Nach dem Frühstück ihr Vater wartet auf sie, bevor sie in die Schule ging.
„Semira“, rief ihr Vater Kasim zu seiner Tochter.
„Ja, Vater“, erwiderte Semira freundlich und höfflich.
„Wir; deine Mutter und ich kommen heute punkt um 12 Uhr in die Schule. Deine Lehrerin hat anscheinend etwas mit uns zu besprechen“, Kasim suchte Semiras aufgeweckten Augen, um dort irgendetwas zu entdecken.
„Ja, ich weiss Vater“, in gleichem höfflichen Ton, wie vorhin.
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„Muss ich mir Sorgen machen“, fragte Kasim, dass er sich vorher vorbereiten könne, auf die Unannehmlichkeiten.
„Ich habe mich artig benommen Vater“
„Gut, dann haben wir ja nicht zu fürchten, oder?“, mit scharfem Blick musterte er das kleine Mädchen.
„Auf wiedersehen Vater.“
„Wiedersehen meine Tochter.“
Kasim und Hanifa lächelten hinter ihr her, bis sie durch den Haupttor auf die Strasse lief.
Am selben Tag: Am Vormittag wirkte Semira im Klassenzimmer noch unruhiger, wegen der bevorstehenden Besprechung. Dann lenkte der Unterricht sie ein wenig ab. Am Mittag lehrte sich das Klassenzimmer, nach den Mittagsglocken nach und nach.
Semiras Vater, ein hochangesehener Herr des Dorfes. Die Mutter, eine gutmütige Lady in Person, nahmen vor dem Pult Platz. Semira sass brav neben ihnen.
„Bitte nehmen Sie Platz!“, hat die Lehrerin Seyhan ihre Gäste angewiesen.
Nach der Begrüssung nahm die Lehrerin Seyhan zwei Blätter aus ihrer Arbeitstasche heraus, legte sie auf ihr Pult, sie warf einen Blick, auf das noch an der Tür wartendes Mädchen.
„Esra, mach bitte die Tür von draussen zu, wenn du rausgehst!“, forderte Seyhan sie auf.
Esra drehte sich noch einmal, winkte herzlich Semira und wünschte ihr insgeheim ganz schön Mut zu. Anders, als die anderen Kinder, unter neugierigen Blicken untereinander flüsterten bevor sie rausgingen, weil sie mit ihrer Freundin mitfühlte.
Nach dem Esra leise nach draussen geschlichen war:
„Danke, dass Sie meiner Einladung gefolgt und gekommen sind. Nun, ich habe Sie hergebeten, um über ihre Tochter zu reden. Semira ist, als meine Lieblingsschülerin bekannt. Sie ist klug, intelligent, sehr motiviert.“ Damit öffnete die Lehrerin die Ansprache ihrer Zusammenkunft.
Kasim fühlte sich gut, als ihr Vater, richtete stolz seinen Oberkörper auf seinem Stuhl auf. Seine Tochter, dem angesehenen Herrn im Lande, war sie als Musterschülerin ein Beispiel für viele.
„…deshalb schätze ich sie sehr“, fuhr Seyhan ihre Ansprache fort.
Kasim war sehr zufrieden, eine lobenswerte Tochter zu haben. Hanifa bestätigte das Lob mit Kopfnicken und einem herzlichen Lächeln.
„Dennoch mache ich mir Sorgen um Semira“, sagte Lehrerin besorgt.
Dem Vater sein verbreitetes, stolzes Lächeln brach abrupt ab, er war ganz Ohr. Die Mutter wurde neugierig, weil sie so was Ähnliches nicht erwartete.
„Wie fern?“, jetzt wurde Kasim auch neugierig, erkundigte sich sofort danach.
„Wie gesagt, ein seltsames Verhalten von ihr ist mir in der letzten Zeit aufgefallen“ Seyhan war auch nicht gerade dabei wohl, aber schliesslich hatte sie ja um diesen Zusammenkunft gebeten.
Es verdunkelten sich die beiden Gesichter der beiden Elternteile.
„Ein seltsames Verhalten?“ Kasim fragte verwundert, sah zu seiner Tochter rüber.
Semiras Kopf sank nach unten. Sie wusste gar nicht, womit sie sich verteidigen könnte.
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„Was für ein Verhalten?“, zwar wunderte sich Hanifa auch. Aber ihre Vorahnungen um ihre Tochter, seit der Geburt, trug sie wie ein Geheimnis bei sich. (Wobei diese sich später voll und ganz bestätigen werden, wusste sie zu dieser Zeit noch nicht)
„Es ist in der Tat auffällig, seltsam und rätselhaft“, drückte Seyhan die Lehrerin vorsichtig aus.
Die Eltern waren ruhig, erstarrt, vor ungemütlichen Neuigkeiten gespannt, was jetzt kommt.
Hanifa brach die Stille verteidigte ihre Tochter: „Aber sie sagten, dass Semira die beste Schülerin der Klasse ist.“
„Ja, ich will es auch nicht bestreiten, jedoch; dieses ungewöhnliches Verhalten…hin und wieder schliesst Semira ihre Augen…sie ist weggetreten…einfach weg. Sie hört nicht, sieht nicht, folgt dem Unterricht auch nicht, einfach weg“, fuhr Seyhan fort.
„Das ist ja unglaublich…“ Kasim war auf einmal ausser sich.
Seyhan wandte sich zum Pult, hob das eine von den zwei Blatt-Papier, zeigte den Eltern. Die Lehrerin hielt ihren Atem an, überlegte kurz, wie sie es den Eltern beibringen sollte, was sie vorhatte.
„Am letzten Freitag hatten wir eine Matheprüfung…“, Seyhan streckte es vor, „…hatte Semira zuerst dies hier gekritzelt.“
Der Vater riss das Blatt aus Lehrerins Hand, warf ein Auge darauf, sah zuerst die Lehrerin, dann sah seine Frau an, die genauso sprachlos war, danach seine Tochter. Seine Augen blitzten Feuer.
„Was ist das…was steht darauf?“, forderte Kasim Seyhan auf eine Aufklärung.
„Ich konnte diese fremde Inschrift nicht lesen…habe es deshalb zur Innenministerium gefaxt. Mir wurde mitgeteilt, auf unseren Universitäten habe man es auch nicht entziffern können“, Seyhan holte tief Luft. „Doch glücklicherweise bekam ich heute Morgen im Lehrerzimmer einen Anruf aus Amerika. Ein Wissenschaftler Namens Georg Camp konnte es entziffern. Er sagte; es sei eine alttrojanische Inschrift und steht darauf…“
Kasim kam ihr zuvor, hinderte sie am Weiterreden. „Was zum Teufel…wieso trojanisch…wieso…?“, aber ihm fehlten die Worte.
Seyhan sammelte ihren ganzen Mut, um das Gespräch ihnen genau mitzuteilen. „…nun Mr. Georg Camp sagte, es steht darauf. Bitte helft mir…bitte helft mir…“
Der Vater, dem Zusammenbrechen nahe, konnte nicht mehr um sich sehen. Er nahm seinen Kopf zwischen seine Hände fiel tief in Gedanken.
„Grosser Gott, was habe ich getan, wieso bestrafst du mich so dermassen…“, fing Kasim zu beten an.
Die Mutter verhielt sich ruhig. Jedoch ihre Augen röteten sich, in besonderer Weise, klare, heftige Tränen fielen aus ihren veilchenblauen Augen nieder.
Aber Kasim: „…unsere Ehre…unser Ansehen…wie kann so etwas passieren…BITTE HELFT MIR…was soll das heissen…in alt trojanisch…mein Gott…das ist eine Gottesstrafe“, murmelte er immer wieder vor sich hin.
Die Lehrerin hielt jetzt ein zweites Blatt in der Hand um sie abzulenken.
„Dies hier ist die richtige Auflösung von den Mathefragen vom Freitag. Hervorragend, kein einziger Fehler. Solch…“, Seyhan unterbrach sich selbst, schaute beide Eltern an.
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Sie waren nicht mehr in der Lage, der Lehrerin zu folgen. „…ein Talent, wie sie alle Fächer so gut meistern kann, ist mir ein Rätsel“, sprach sie ihre Gedanken aus. „Dennoch…“, machte sie weiter. „…ich frage mich, na wie soll ich es ausdrücken, es kommt in besten Familien vor…“, drückte die Lehrerin diesmal sehr vorsichtig aus.
„Was wollen Sie damit andeuten“, reagierte Kasim heftig darauf.
„Ich frage mich, ob es in der Familie…nun irgendwelche…Probleme gibt?“, traute sich Seyhan eine Frage zu stellen.
„Probleme?“, fragte Kasim verärgert.
„Ja, Probleme irgendeiner Art…?“ Die Lehrerin war bereit in jeder Lage oder Probleme, dieser Familie zu helfen.
„Nein, bei uns gibt es keine Probleme…“ Damit stand er auf, war in der Meinung, diese Frau gehe nun zu weit mit ihrer Fragerei der privaten Angelegenheiten. „Kommt, wir gehen!“, dabei sah Kasim seine Frau und seine Tochter an.
„Entschuldigen Sie bitte“, entschuldigte Hanifa sich verlegen bei der Lehrerin, folgte ihren Mann nach.
„Du kommst auch Semira!“, befahl Kasim und nahm das erschrockene Mädchen an die Hand, alle drei gingen raus, aus dem Klassenzimmer.
„Aber!…“ Seyhan konnte es kaum fassen; sie gingen tatsächlich, ohne eine Lösung, ohne eine Absprache.-Der Vater; der Oberhaupt-, sagte sie vor sich hin. „Der verehrte, angesehene Mann des Dorfes, muss sich so etwas nicht anhören. Er bestimmt die Zukunft, sowohl von seiner Frau, wie auch von seiner Tochter“, überlegte sie sich die Lehrerin auf ihrem Stuhl traurig.
Wieder daheim:
„Du gehst sofort in dein Zimmer“, rief Kasim verärgert aus.
„Ja, Vater“, gehorchte Semira aufs Wort.
Semira, dem klugen Mädchen, tat ihre Mutter mehr leid, als alles andere. Weil sie unbeholfen zu ihrer Tochter stand. Kaum eine halbe Stunde war vergangen, klopfte Hanifa mit Tränen in den Augen an Semiras Zimmertür. Semira stand vor dem Fenster, als sie herein trat, sah in die Ferne, ohne Visionen, drehte sich zu Mutter um.
„Vater wünscht dich zu sprechen!“, sagte Hanifa weinerlich.
„Ja, Mutter“, kam Semira auf ihre Mutter zu, sah direkt in verweinten, veilchenblauen Augen. „Mutter, bitte glaube mir, ich kann nichts dafür, bitte.“
Hanifa nahm ihre Tochter in die Arme, streichelte ihre goldige Haare zart und sanft, in mütterlicher Liebe. „Ich weiss, mein Schatz, ich weiss…doch kann ich dir so wenig helfen…das tut mir so unendlich weh“
Mutter vorne, Semira hinter her, waren sie im Gästezimmer angekommen. Ihr Vater war nicht allein. Ein Mann sass auf den Knien, am Boden, in schwarzer Bekleidung. Ein Geistlicher?
Semira sah zuerst ihren Vater fragend an. Seine Augen funkelten, kein Entkommen, kein Verzeihen, dann ihre Mutter, ausser weinen…weinen konnte sie nichts tun. Danach blickte sie auf diesen Geistlichen.
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Er trug einen weissen Turban und einen schwarzen Kaftan, beobachtete das Mädchen von oben bis unten sehr kritisch. Mit einer Handbewegung forderte er sie auf, zu ihm nahe zu treten. Semira kniete ebenfalls in seiner Höhe. Er legte den Daumen auf ihre Stirn.
„Sie ist verhext“, wiederholte er, hin und wieder, „…sie ist verhext, und…ihr Geist ist sehr verwirrt“, oder, „…sie ist in Satans und den anderen Hand.“ In lautem Klang betete er, sang er ein Gebet oder einen Fluch?
Es war eine sehr lange Zeremonie. Semira wurde schwindelig von den langen, barschen, lauten Gesängen. Ihr Körper befahl ihr dies hier durchzuhalten, weil ihre Eltern es so angeordnet haben.
Aber ihre Seele war ihr voraus.
„Parakalo‘ woithysteme, parakalo‘ woithysteme, parakalo‘ woithysteme…“, murmelte Semira aus ihrer Seele ununterbrochen heraus. Es waren die gleichen Zeilen aus der Schule, auf Blatt-Papier.
Der Vater verkneifte sich die Zähne. Es war für ihn beschämend. Seine Tochter befand sich in Satanshand. Aber jetzt war sie zum Glück in geistlichen, guten Händen. Die Mutter war von neuem erschrocken, ihr Baumwolltaschentuch hielt sie sich vor ihre Augen, trocknete unbeholfen erneut die Tränen weg.
„Parakalo‘ woithysteme, parakalo‘ woithysteme,…bitte helft mir…bitte helft mir“, wiederholte Semira wieder.
Der Geistliche sang jetzt sein Gebet lauter, noch lauter. Der Gesang war ohrenbetäubend.
Der Geistliche: „Ich werde aus dir den Teufel, Satan, den anderen, bösen Kreaturen austreiben“, rief er laut, fasste den kleinen Kopf mit beiden Händen, drückte fest, fester…fester.
Bis das fremde Murmeln aufhörte. Semira war in Ohnmacht gefallen. Die Mutter rannte zu ihr.
„Nein…neeeiiin…meine Tochter“, sagte Hanifa verweinerlich.
Ihr Mann hielt sie fest am Arm. Aber ihr Wille ihrem Baby zu helfen war stärker. Sie befreite sich von der starken Hand ihres Mannes, hob die bewusstlose Semira und trug sie in ihr Zimmer in zweitem Stock, ohne einen weiteren Blick zum Geistlichen oder ihren Mann zu verschwenden.
Als Semira wieder zu sich kam war sie allein im Zimmer. Aber sie konnte sich an die Vorkommnisse gut erinnern und die Wärme ihrer Mutter, welche über Nacht sie bewachte, noch fühlen. Sie zog sich an, sah aus dem offenen Fenster. Ihr Vater und ihre Mutter hatten sich in eine laute Diskussion verwickelt, konnten nicht ahnen, dass sie von ihr oben beobachtet wurden.
Als Semira runter kam, verstummten die Stimmen der beiden im Vorgarten und rätselten.
„Semira, Schatz“, ging Hanifa einen Schritt auf sie zu. In ihrer gewohnten, mütterlichen Liebe wünschte sie sich, dass es ihr besser ginge.
„Guten Tag Mutter“, ihr süsses Lächeln, breitete sich auf den kleinen Lippen. „Guten Tag Vater“, begrüsste sie ihn auch sogleich.
„Siehst du Bey, sie ist wieder geheilt, dem Himmel sei Dank“ Hanifa, mit glasigen Augen, drehte sich zum Vater, der auch nach einem kritischem Blick sich freute.
Ihre Tochter war geheilt. Umarmten sich alle drei. Sie bildeten jetzt ein rührendes, glückliches Zusammensein, sogar das Haushaltsmädchen Nalan war sehr gerührt.
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