Читать книгу DRANGSALIERT - Sharon Lee - Страница 3

Kapitel 1: Folgenschwerer Entscheid

Оглавление

Freitag, 26. September, 19.10 Uhr

Die Bühne gehörte ihr allein. So wie sie es sich immer gewünscht hatte. Da stand sie nun und alle hörten ihr zu. Ihr, Ruth Biedermann, Chefin der Werbeagentur. Endlich war der Moment gekommen. Doch es war, als wackelten die Bühnenbretter unter ihren Füssen. Verschwommen sah sie in den Saal. Flimmerte es vor ihren Augen oder war ihr bloss die Kontaktlinse verrutscht? Es musste am Alkohol liegen. Hätte sie nur ein Glas weniger getrunken. Sie fühlte sich benebelt, immer dunkler wurde es um sie herum. Ein Stechen jagte durch ihre Brust, und gleich noch einmal. Ruth Biedermann keuchte und würgte. Ihr Gesicht hatte eine unnatürliche Farbe angenommen. Sie würgte wieder. Dann taumelte sie und stürzte vom Podest.

Laura Niederer hatte wieder grottenschlecht geschlafen. Die ganze letzte Nacht über hatte sie wach gelegen und ihren Puls hämmern gehört. Migräne plagte sie, ihr Magen rumorte, alle fünfzehn Minuten musste sie zur Toilette, nur um festzustellen, dass ihre Blase längst leer war. Panik überflog sie – auch jetzt. Ihr Herz schlug laut, die Beine zitterten. Nein, sie hatte keine Angst vor ihrer Chefin und vor deren Schikanen. Sie war stark. War sie das? Nein, war sie nicht. Sie musste sich ehrlich eingestehen: sie hatte keine Kraft mehr. Aber sie musste trotzdem zur Arbeit. Die Chefin würde ihr die Hölle heiss machen, wenn sie sich krank meldete. Es war hammerhart.

«Guten Morgen, Laura. Ruth hat bereits nach dir gefragt.» Die Begrüssung ihres arroganten Kollegen David Mischler fiel so unfreundlich aus wie jeden Morgen.

Die 31-jährige Projekt-Managerin liess sich ihre düstere Vorahnung nicht anmerken. Sie grüsste Mischler oberflächlich und setzte sich mit flattrigem Bauchgefühl ihm gegenüber an ihren Arbeitsplatz. Ihre Vermutung bestätigte sich also: Ruth Biedermann hatte es heute erneut auf sie abgesehen. So gerne Laura ihren Beruf in der Werbeagentur auch ausübte, so sehr quälten sie die haltlosen Abmahnungen und ständigen Erniedrigungen ihrer Chefin. Das ging ihr unter die Haut, direkt an die Substanz.

«Was wollte Ruth um diese Zeit schon von mir?», erkundigte sie sich dennoch bei Kollege Mischler.

«Hallo, was ist denn mit dir los? Schlechte Laune oder was?»

«Nein. Wieso auch.»

«Du schaust fürchterlich aus.»

«Danke, das nehme ich als Kompliment.»

David Mischler, der ebenfalls als Projekt-Manager für die Werbung eines Grosskunden zuständig war, lächelte vielwissend vor sich hin. «Die Chefin erwartet dich im Sitzungszimmer. Sie hat wieder einmal eine Stinklaune, kennst sie ja.»

«Okay, okay.» Laura Niederer war übel, ihre Hände waren steif. Kalter Schweiss tropfte in ihren Achselhöhlen.

Zittrig betrat Laura Niederer um viertel nach acht den Besprechungsraum, in dem eine Ruth Biedermann unter Hochdruck auf sie wartete.

«Laura, wo warst du?! Lässt dir wieder einmal viel Zeit am Morgen. Wir müssen reden – nicht nur über deine Arbeitszeiten. So geht das mit dir nicht weiter!»

Irritiert musterte Laura Niederer ihre Chefin. Ihr war sofort klar, dass etwas im Busch war. Sie war sich keiner Schuld bewusst und hatte nicht die leiseste Idee, was genau die Biedermann von ihr wollte. Und was die Arbeitszeiten anbetraf, konnte sie sich keinen Reim darauf bilden und machte sich kein schlechtes Gewissen. «Ich bin seit acht Uhr da», erwiderte Laura zu ihrer Verteidigung, bevor sie sich widerwillig gegenüber der Chefin an den Tisch setzte. Durch die Glastür spähte sie zurück in den Büroraum, wo die übrigen Mitarbeiter gemütlich eintrudelten - spät, wie immer am Freitag.

Ausgerechnet heute, an diesem rabenschwarzen Freitag, war ein Firmenanlass geplant, das sogenannte Power-Treffen, wie der zweimonatliche Umtrunk genannt wurde. Zum Feiern war Laura ganz und gar nicht zu Mute. Daran teilnehmen war für die Mitarbeiter obligatorisch, der Ablauf immer dieselbe Leier: der Chef hielt seine Rede, stellte den Mitarbeitern die aktuellsten Projekte und seine diversen, immer wieder neuen Visionen vor. Dazu wurde reichlich getrunken, Wein durfte nie fehlen, sozusagen waren die vielen Flaschen das wichtigste Accessoire am Anlass, und es störte auch niemanden, wenn man sich total besoffen daneben benahm.

Die Arbeitskollegen im Büro wunderten sich, was die Chefin mit Laura Niederer am Morgen früh bereits zu besprechen hatte. David Mischler stand – beabsichtigt oder aus rein zufälligen Gründen – bei Juliane Scheibli vorne, deren Arbeitsplatz sich unmittelbar neben dem Sitzungszimmer befand. Sie beide versuchten durch die Glasscheibe die Gesten zu deuten, in der Hoffnung, etwas aus dem Gespräch belauschen zu können. Nicht nur sie beide, auch alle anderen Mitarbeiter in der vorderen Bürohälfte blieben von der schrillen Stimme der aufgebrachten Chefin nicht verschont, auch wenn sie nicht direkt betroffen waren. Man hörte die Biedermann ausrufen: «Laura, lass dir gesagt sein: du sitzt etwas sehr hoch auf deinem Ross. In Wirklichkeit kann man dich hier zu nichts gebrauchen. Diese Meinung vertreten übrigens auch Pablo Grassi und JJ. Ich gebe dir eine letzte Chance; da du aber ohnehin die Leistung, die wir von dir erwarten, nicht erfüllst, schlage ich vor, dass du Abstriche von deinem Lohn machst. Ich habe ein Papier vorbereitet, das du am einfachsten jetzt gleich unterschreibst.»

Man konnte nicht hören, was Laura ihr entgegnete. Ruth Biedermanns Antwort darauf hingegen schon: «Laura, jetzt enttäuschst du mich aber. Du hast eine Meinung von dir selber! Völlig weltfremd bist du, richtig unverschämt! Wir können gerne eine Umfrage im Büro starten und dann wirst du schmerzlich feststellen, dass jeder in diesem Büro meiner Meinung ist! Und überhaupt: wenn du dich so unwohl fühlst, wie du sagst, warum kündigst du nicht?»

Knappe zehn Minuten später segelte die Chefin beschwingt und mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen durch den langen Korridor des Grossraumbüros. Das Backsteinhaus, nahe dem Bahnhof gelegen, war zirka fünfzig Meter lang und zwei Stockwerke hoch. Im obersten Geschoss war die Werbeagentur eingenistet. Die Arbeitsplätze präsentierten sich in einem Grossraumbüro und waren lediglich mit schulterhohen Bürogestellen voneinander abgetrennt.

«Guten Morgen allerseits. Schön, euch zu sehen», rief Biedermann beim Vorbeigehen gekünstelt den Mitarbeitern zu und wandte sich JJ, ihrem Geschäftspartner, zu. Nach einem lautstarken Seufzer und mit mitleiderregender Stimme klagte sie: «Zuerst brauche ich einen doppelten Espresso. Ich musste mich bereits am frühen Morgen über meine Mitarbeiter ärgern. Das kann‘s ja wohl nicht sein, oder?!»

JJ, der mit bürgerlichem Namen Hans-Jakob Klohn hiess, sich aber Jean-Jacques, respektive JJ, nannte, weil das schicker klang, bekräftigte Ruth Biedermann in ihrer Aussage und drückte die Espresso-Taste an der Lavazza-Maschine. «Auf der Herrentoilette fehlen schon wieder die Feuchtigkeitstüchlein! Ich fass es nicht! Jeder hier im Betrieb wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Bestand der Feuchttücher immer aufgefüllt sein muss. Was haben wir nur für bornierte Leute eingestellt! Faul sind sie. Mitdenken ist ein Fremdwort. Schau doch mal in die Runde, die schlafen uns beim Arbeiten noch ein!»

Ruth Biedermann linste aus der offenen Küche ins Büro und bestärkte JJ in seiner Rede. Dies, obwohl sich die beiden Geschäftsleitenden regelmässig zankten. Doch immer wenn es um die Disqualifikation von Mitarbeitern ging, hielten sie wie Pech und Schwefel zusammen.

«Wir müssen was unternehmen, JJ. Die Hälfte der Leute ist unbrauchbar! Das ist unser Geld, das vor den Computern schläft!» Hans-Jakob Klohn nickte und schlich unmotiviert im gewohnten Schlurfgang aus der Küche in den hinteren Teil des Büros, wo sich sein – mit Papierbergen überhäufter – Arbeitsplatz befand.

Ruth musterte gierig die süssen Leckereien in der Küche, die eine Mitarbeiterin mitgebracht hatte. Sie entschied, sich zwei fette Stücke davon zu gönnen. Jedoch erst nach dem Mittag als Dessert, um nicht noch mehr Speck auf ihre Rippen zu lagern. Ruth Biedermann war alles andere als zufrieden mit ihrer Figur. Überhaupt war sie eine frustrierte Frau, bei der die männlichen Attribute dominierten. Weiblich waren an ihr weder das Wesen noch ihr Auftreten und nicht einmal ihr Kleidungsstil. Vielmehr glich sie einer hartgepanzerten Wanze auf der Lauer nach neuem Konfliktpotential, um ihrer inneren Unzufriedenheit Ausdruck verleihen zu können. Sauertöpfisch sah sie aus: ihr kurzgeschnittenes Haar betonte die faltig-bissigen Gesichtszüge rund um die verkniffenen Augen, die in eisigkaltem Blau hervorstachen. Als Geschäftsfrau hielt sie sehr viel auf sich und nur ganz wenig auf das Können und Wissen anderer. Selbst über den Mitinhaber Klohn zog sie bei jeder Gelegenheit runter. Es war ihr ein wichtiges Anliegen, dass alle wussten, dass ohne sie in der Agentur gar nichts ging.

Während Biedermann als leitende Geschäftsführerin für die Zahlenseite zuständig war, lobte sich Klohn für alle künstlerischen, gestalterischen und kulinarischen Belange als Koryphäe in der Schweizer Werbebranche. Er war derjenige, der etwas vom Aufbau und der Führung einer Marke verstand. Kein anderer konnte ihm das Wasser reichen. Zumindest war dies seine tiefe Überzeugung. Immerhin hatte er vor dreissig Jahren einmal ein Buch geschrieben und war in den 80ern Präsident eines selbsternannten Werbeverbandes gewesen. Seither hatte sich bei dem inzwischen über sechzigjährigen Werber nichts Auffälliges weiterentwickelt. Der einstige Macher unter den Kunstschaffenden war zum verbissenen Zyniker mutiert. Kleingewachsen war er, die hellblonden Haare verfärbten sich nun - zumindest die, die noch übrig geblieben waren - und der kleine Anteil an Lebensfreude war verflogen. Seine schöpferische Kraft steckte er voll und ganz in sein neues Projekt: den Umbau des Geschäftshauses an der Stadtgrenze von Zürich.

Mitarbeiter und Kunden interessierten ihn nicht. Werbung langweilte ihn – schliesslich war es seit dreissig Jahren ein und dasselbe und längst keine Herausforderung mehr für einen wie ihn. JJ Klohn interessierte sich nicht für die Menschen, sondern für das, was man ihm bieten konnte: Geld oder Leistung, die ihn natürlich nichts kosten durfte. Seine Vision war also das Haus. Das Haus, das er alleine nicht zu finanzieren vermochte, nur schon die Miete dafür war ein tiefroter Punkt in seiner Buchhaltung. Aber auch das kümmerte ihn wenig. Für die Zahlenseite hatte er die Biedermann einberufen. Er selber hatte keinen Sinn für Bilanzen und fand auch, dass dies für einen Künstler nicht nötig sein. An seinen Visionen liess er schliesslich auch andere teilhaben und die sollten für das Finanzielle aufkommen.

Laura Niederer lief niedergeschlagen und mit verheulten Augen an ihrer Chefin vorbei, schaute verunsichert auf den Boden und hoffte, dass Ruth Biedermann für einmal von ihr abliesse. Kaum war sie an ihr vorbeigezogen, hörte sie die eindringliche Trillerpfeifenstimme ihrer Chefin hinterher rufen: «Laura …!»

«Einen Augenblick, ich komme gleich!», stiess sie hervor. Völlig fertig war sie. Laura Niederer konnte nicht mehr. Der Zusammenstoss von vorhin hatte gesessen. Es war als hätte die Chefin ihr ein Messer ins Herz gestochen und drei Mal umgedreht. Nur schon die giftige Stimme, die ihren Namen aussprach, liess sie am ganzen Körper schlottern. Es ging um ihre Existenz, um ihre Integrität, um alles. Laura ging schnurstracks zurück an ihren Arbeitsplatz. Sie wusste nicht mehr weiter und war erleichtert, dass weder ihr Sparring-Partner David Mischler noch ihr direkter Vorgesetzter, Paul Grassi, der sich Pablo nannte, an ihren Plätzen sassen.

Für kurze Zeit war sie alleine.

Laura Niederer fühlte sich unbeobachtet. «Soll ich… soll ich nicht…?» Wie ferngesteuert öffnete sie die oberste Schublade des Korpus. Sie zitterte wie Espenlaub. Doch sie hatte keine andere Wahl. Langsam holte sie die kleine Schachtel hervor, starrte auf die Verpackung. Sie wusste nicht, wie ihr geschah. Sie wollte es nicht. Doch nur schon die feste Kartonschachtel in ihren Händen zu halten, hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. Sie öffnete die Verpackung, zog das kleine, dunkelbraune Fläschchen heraus. Ihre Augen fanden Halt am Schriftzug: Ricinus communis. Endlich hatte sie die Kontrolle über sich selber. Diese Kontrolle nicht in die Hände der Chefin gelegt zu haben, bedeutete ein Gefühl echter Freiheit. In diesem Moment war sie sich sicher, dass es das einzig Richtige war. Das braune Fläschchen hatte sie sich von einem ehemaligen Arbeitskollegen besorgt, der sich aus der Werbebranche entfernt hatte und nun als Naturheilkundler und Hobbychemiker auf Sinnessuche war. Sie hatte es geschafft - nach einigen Drinks, mit denen sie ihn abgefüllt hatte -, ein Fläschchen aus seinem Schrank zu entwenden. Er würde das Verschwinden später sowieso nicht mehr nachvollziehen können; das Besoffensein hatte sich bei ihm beinahe zu einem Dauerzustand entwickelt. Laura Niederer wusste, was sie tat, davon war sie überzeugt. Es war ihr eigener Entscheid. Sie starrte auf die Etikette, klammerte sich geradezu an die Packung, die sie in ihren Händen hielt. Wärme durchzog ihren Körper. Laura öffnete die Verpackung und wollte das Fläschchen herausziehen.

Markante Schritte näherten sich ihrem Arbeitsplatz. Es war ihr Vorgesetzter, Pablo Grassi. Laura zuckte ängstlich zusammen. Sie steckte die Packung panisch zurück in die Schublade. Niemand durfte davon erfahren. Es war ihr kleines, grosses Geheimnis.

«Ach, schau mal einer an. Na hallo, Laura, hat sich die Dame endlich auch zum Arbeiten bequemt?»

Laura Niederer widersprach Pablo Grassi nicht. Ständig diese Sticheleien. Sie wollte ihn ignorieren. Sie hatte ihn so satt.

«Die Frau Niederer spricht heute nicht mit uns», grinste Grassi höhnisch zu David Mischler hinüber, der gemütlich mit Kaffee und Kuchen aus der Küche zurück kam. Mischler lachte hämisch: «Typisch Frauen, Laura hatte die letzten Wochen selten gute Laune. Echt mühsam, bei derart mieser Stimmung zu arbeiten.»

Grassi lachte über die betrübte Laura und wandte ihr den Rücken zu. Er klopfte David Mischler auf die Schultern und meinte unter Augenzwinkern: «Wir zwei verstehen uns.»

Laura Niederer schossen Tränen in die Augen. Sie wollte auf jeden Fall vermeiden, in der Öffentlichkeit, und schon gar nicht vor den Mitarbeitern, zu weinen. So wollte sie nicht gesehen werden. Es war, als ob es ihr die Kehle zuschnürte. Laura musste raus; raus aus dem Büro an die frische Luft, weg von den Leuten, die sie quälten. Sie rannte durch den Gang und die Treppe hoch auf die Dachterrasse. Wirre Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Sie war nicht mehr sie selbst. Wortfetzen, Bilder von Fratzen, die bedrohlich auf sie einredeten. Fix und fertig war sie. Im Grunde genommen war sie wütend, nur fehlte ihr jegliche Kraft, sich zu wehren, viel zu sehr nagte der Kummer an ihr. Das einzige, was sie wahrnahm, waren unsägliche Schmerzen. Die Angriffe der Biedermann dröhnten wie ein Echo in ihrem Kopf. Sie konnte an nichts anderes denken. Die Biedermann hatte sie wieder gedemütigt, obwohl Laura so sehr gehofft hatte, dass sie sie wenigstens heute in Ruhe lassen würde. Das Fass war am Überlaufen. So sehr sie darüber nachdachte: Laura wusste nicht, warum ausgerechnet sie im Visier der Chefin stand. Ihre Arbeit war tadellos. Der Kunde lobte sie für ihre Arbeit.

Ein weiterer Schmerz stach Laura Niederer in die Brust: Auch David, den Teamkollegen, erkannte sie die letzten Wochen kaum wieder. Gestern hatte er ihr so ganz nebenbei mitgeteilt, dass die Wahl für den Posten als stellvertretender Abteilungsleiter auf ihn gefallen sei. Laura konnte kaum glauben, was sie da hörte. Die Position hatte man ihr in Aussicht gestellt. Warum war jetzt David, der nicht die nötige Kompetenz mitbrachte, befördert worden? Ausser dass er bei Grassi lobbyierte, sah sie ihn kaum arbeiten. Nein, das konnte nicht sein! Doch damit war offenbar noch nicht genug, es folgte der Oberknaller: Mischler teilte ihr mit, dass ihm neu eine Praktikantin zugeteilt worden sei. Eine Praktikantin? Was ging denn da vor? Von offizieller Stelle war Laura nicht informiert worden. Das war sehr seltsam. Wenn das wahr war, dann war Laura überflüssig in der Abteilung. Schon zu zweit hatten sie sich um die Projekte gerissen. Seit der Kunde einen Teil des Werbebudgets gestrichen hatte, sassen sie sich die Hintern wund und starrten in den Bildschirm in der Hoffnung, ein Auftrag komme per E-Mail rein. Man brauchte nur eins plus eins zusammenzurechnen. Klar, auch wenn sie es lange nicht hatte wahrhaben wollen: Das Ziel von Ruths Attacken war offensichtlich, sie zur Kündigung zu bewegen. Genau das musste der Grund sein für die konsequenten und wiederholten niederträchtigen Angriffe.

Es lief schon seit Wochen so. Warum war sie überhaupt eingestellt worden? Und wenn sie wirklich nicht die geforderte Leistung gebracht hätte - warum wurde ihr nicht einfach gekündigt, warum versteckte sich Ruth hinter bösartigen Spielen? Und wie war das Verhalten von JJ Klohn zu deuten? Auch ihr direkter Vorgesetzter, Pablo Grassi, grenzte sie zunehmend aus; er hielt Informationen vor ihr zurück, sorgte dafür, dass sie an den Teamsitzungen nicht teilnehmen konnte und trug ihr Arbeiten auf, die ein Lehrling am ersten Arbeitstag spielend hätte bewältigen können. Pablo Grassi, der selbsternannte Don Juan - allerdings eine korpulente Ausführung – unter den Werbern liebte die ausgedehnten, üppigen Kundenessen über Mittag. Oft ging er frühzeitig aus dem Büro, um sich an coolen Apéros zu den Szenis zu gesellen. Tagsüber war er meist daran, sich wortreich in Szene zu setzen; man sah ihn aber ganz selten arbeiten. Das hatte er mit Ruth Biedermann gemeinsam: sie hörten sich vor allem gerne selber reden.

Laura erkannte auf einmal klar und deutlich: sie war in ein fieses Spiel verwickelt und kam da nicht mehr raus. Von sich aus zu kündigen, war keine Lösung. Das konnte sie nicht. Nicht ohne vorher eine geeignete Stelle gefunden zu haben. Es ging um ihre Existenz. Sie fühlte sich in ein Korsett gezwängt, das enger und enger zugeschnürt wurde. Angst überflutete sie.

Oben auf dem Dach war ihr trotz der warmen, spätsommerlichen Temperaturen eiskalt. Sie hasste die Leute für ihre fiesen Machenschaften. Sie hasste Pablo Grassi und Ruth Biedermann. Auch dem überehrgeizigen David Mischler traute sie im Moment nicht mehr über den Weg. Und sie wunderte sich über JJ, der als oberster Chef für alles, was unter diesem Dach geschah, verantwortlich war, aber keine Verantwortung übernahm. Alles, was er tat, war lediglich, neue Probleme zu kreieren und einen Schuldigen dafür zu ernennen: Sie, Laura Niederer.

«Was war das?» Erschrocken und verängstigt blickte Laura um sich. Sie glaubte, ein Knacken zu hören aus dem Heizungsraum. «Ist da wer? Wer ist da?» War ihr jemand aufs Dach gefolgt? Sie fürchtete sich davor, nachzuschauen. Laura war sicher, dass sich jemand im Heizungsraum, dem Durchgang auf die Dachterrasse, befand. War da ein Schlüssel, den man im Schloss umdrehte? Hatte man sie auf die Dachterrasse hinausgesperrt? Sie war mit den Nerven am Ende. Ihre Fantasie spielte verrückt. Sie versteckte sich hinter dem grossen Kamin. Sie drückte die rechte Hand aufs Herz, um das laute Rasen, das sich anhörte, als pumpe der Bass aus den Musikboxen, zu beruhigen. Laura wollte schreien, doch es kam kein Laut heraus. Sie blickte wirr umher. Sie hörte laute Geräusche, wie Wind, der um die Ohren zog.

DRANGSALIERT

Подняться наверх