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Kapitel 3: Notruf ist Notruf

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Freitag, 26. September, 20.10 Uhr. Kriminalkommissar Aemisegger war gerade dabei, seinen Schreibtisch von den unzähligen Kaffee-Pappbechern zu befreien, als ihn sein Assistent Köppel um den Feierabend zu bringen drohte: «Aemisegger, ein Notruf ist bei uns eingegangen!»

«Was denn, schon wieder?»

«Es ist dringend!»

«Ein Notruf ist immer dringend, Köppel.»

«Eine tote Frau wurde gemeldet!»

«Geht’s um eine Messerstecherei vor einem Club oder um eine Drogensüchtige auf einer öffentlichen Toilette?» Aemisegger war trotz seiner sarkastischen Anspielung überhaupt nicht zum Scherzen zumute. Er hatte Feierabend. Jawohl! Aber… Notruf war Notruf. Erst einmal musste er Genaueres darüber erfahren, bevor er seinen Feierabend in Frage zu stellen begann. Ein Anrufer, der sich einen Scherz erlaubt hätte, wäre allerdings nichts Ungewöhnliches gewesen.

«Nein. Keine Drogensüchtige. Davon weiss ich nichts. Die Todesursache ist unklar.»

«Köppel, raus mit der Sprache. Um was geht’s?»

Köppel, vorgängig einige Jahre bei der Verkehrspolizei tätig, war relativ neu in der Abteilung der Kriminalpolizei und bei jedem Anruf Feuer und Flamme, in der Hoffnung, er würde ein Verbrechen aufklären und zum Held erkoren werden. Voller Tatendrang antwortete er seinem Chef: «Es geht um eine tote Frau in einer Werbeagentur am Stadtrand. Die Rettungssanitäter sind vor Ort. Die haben ihren Tod bestätigt. Sie wollen die Polizei involvieren, haben offenbar Zweifel, dass nachgeholfen wurde beim Tod der Frau. Wir müssen da schnellstens hin!»

Aemisegger musterte Köppel eindringlich, hing seine Freizeitjacke widerwillig zurück an den Garderobenhaken und folgerte entschieden: «Da haben Sie recht, Köppel. Haben Sie die Adresse notiert?»

«Für wie blöd halten Sie mich – klar habe ich die Adresse!»

«Dann nichts wie hin!»

Die beiden eilten zum Polizeiwagen und fuhren mit Blaulicht auf dem schnellsten Weg zur Werbeagentur.

Es war bereits am Eindunkeln, als die beiden Kommissare auf das Haus zu rasten. Sie parkierten vor einem der drei Eingänge des über hundertjährigen ehemaligen Bahnhofsgebäudes, in dem die Werbeagentur gemeldet war. Baugerüste zierten die bröckelige Backsteinfassade.

«Verdammt, was ist das für ein Dreck hier!» Köppel fluchte beim Aussteigen, als er mit seinen glanzgebürsteten Polizeistiefeln in den Schlamm trat.

«Wir sind auf einer Baustelle gelandet.» Aemisegger wunderte sich. «Haben Sie nicht von einer Werbeagentur gesprochen?»

«Die Adresse stimmt.»

Im ganzen Haus brannte Licht. Im Erdgeschoss gab es ein Restaurant, das wegen Umbauarbeiten bis auf weiteres geschlossen war. Köppel leuchtete mit seiner Taschenlampe auf den handgeschriebenen Fresszettel an der Eingangstüre und las seinem Vorgesetzten laut vor: «Für Kochevents bitte den Eingang hinten benutzen.»

«Gut, dass ich hier nicht kochen lernen muss», entgegnete ihm Aemisegger trocken. «Lassen Sie uns reingehen.»

Die beiden stiegen die Treppe hoch in den ersten Stock und spähten durch die gläserne Eingangstüre in einen menschenleeren Gang. Dutzende Holzklappstühle, wie man sie aus der Primarschule kannte, stapelten sich im Korridor. Rechts war die Fensterfront mit Eisenstäben verriegelt, links sahen sie einige verschlossene Türen.

«Die Räumlichkeiten erinnern mich an eine Anstalt!», liess Köppel verlauten.

«Hat was», stimmte ihm Aemisegger nach genaueren Betrachten zu.

«Sehen Sie eine tote Frau?»

Aemisegger zeigte keine Regung.

Dann fiel es Köppel blitzartig ein: «Wir müssen in den zweiten Stock!»

«A-ha. Sagten Sie nicht eben, Sie hätten alles genau notiert?»

Oben angekommen blickten sie erneut durch eine Glastüre und sahen, dass sich im dahinterliegenden Raum einige Leute befanden. Der Anblick verhiess nichts Gutes. Die beiden Beamten traten sofort ein.

«Guten Abend. Kriminalpolizei. Mein Name ist Aemisegger, der Beamte neben mir ist Herr Köppel.»

«Endlich, da sind Sie ja!» Ein rundlicher Mann Anfang vierzig begrüsste die beiden Herren schwungvoll. Mit vollem Mund rief er: «Chef, kommst du, die Polizei ist hier!»

Der Chef, der sich den Beamten als Jean-Jacques Klohn vorstellte, schien die beiden nicht sonderlich willkommen zu heissen. «Mit Leuten wie euch hat man nur Ärger! Aber wenn Sie schon mal hier sind: meine Geschäftspartnerin liegt tot am Boden. Unternehmen Sie etwas! Wir haben einen guten Ruf zu verlieren.»

Aemisegger und Köppel bot sich ein seltsames Bild, als sie links um die Ecke in einen grösseren Sitzungsraum gelangten. Auf dem Tisch standen verschiedene Platten, teilweise mit Häppchen darauf, teilweise leer gegessen, ein Teller mit Kuchen und Keksen, Weisswein- und Rotweingläser, Mineralflaschen und Grissini im Glas. Im hinteren Teil, neben einer Filmkamera, sahen sie einige Köpfe auf Tischplattenhöhe, die sich wohl über die gemeldete Tote beugten.

«Wir sind von der Ambulanz, guten Abend», stellte sich der eine Rettungssanitäter den beiden Kommissaren vor.

«Was ist passiert?», wollte Köppel wissen.

«Das wissen wir noch nicht. Die tote Frau heisst Ruth Biedermann, ist 51 Jahre alt und Mitinhaberin dieser Werbeagentur, wie wir informiert wurden.»

«Tot, sagen Sie. Gibt es Anhaltspunkte, woran das Opfer gestorben sein könnte? Kennen Sie den Todeszeitpunkt?», interessierte sich Aemisegger.

«Der Todeszeitpunkt liegt um 19.15 Uhr herum. Zur Todesursache können wir nichts Definitives sagen – wir sind der Meinung, es muss durch die Polizei untersucht werden. Gewisse Anzeichen deuten für uns daraufhin, dass es sich nicht um einen natürlichen Tod handelt.»

Tanja Nussbaumer begann in ihrer Hilflosigkeit zu weinen, auch Martha und Carmen Fritsche standen unter Schock und blickten erwartungsvoll auf die Kommissare.

Juliane Scheibli kreischte los: «Bestimmt wurde sie vergiftet! Ich hab sie gesehen, wie sie auf der Bühne würgte und hin und her schwankte - wie meine Katze, die wurde auch vergiftet. Elendiglich vergiftet. Ein Giftmörder geht um!!»

«Ein Giftmörder?», rief JJ Klohn aufgebracht dazwischen. «Halt den Mund, du fantasierst ja total! Wer sollte denn Ruth vergiften wollen?»

Pablo Grassi griff seelenruhig nach einem Häppchen mit geräuchter Forelle.

«Wie kannst du nur ans Essen denken, Pablo!» Mägge Trost war entsetzt über diese Masslosigkeit.

«Essen beruhigt mich. Du siehst es ja bei Buddha – hat etwa meine Figur und ist die Ruhe selbst.»

«Buddha – was für ein Vergleich!» Mägge hätte ihm eine klatschen können.

Aemisegger versuchte, sich ein Bild der Situation zu verschaffen, und Köppel griff sofort zum Telefon, um die Spurensicherung aufzubieten.

«Vergiftet? Das kann nicht sein!»

«Wer sind Sie?», wollte Aemisegger wissen.

«Tom-Tom. Ähm, Thomas Wohlfahrt. Ich bin der neue Koch der Agentur.»

«Sie haben den Apéro zubereitet?»

«Verdächtigen Sie mich etwa, meine Chefin getötet zu haben?»

«Haben wir Grund dazu?»

«Nein! Ich habe nichts damit zu tun!», krächzte Tom-Tom.

Aemisegger wandte sich als nächstes dem Herrn neben dem Koch zu. Er schätzte ihn in seinem Alter. «Sind Sie der Kameramann?»

«Das ist richtig, ich bin Zimmerli, der Hausfotograf, und ich bin für die diversen Werbe- und Food-Shootings zuständig.»

«Shootings, sagen Sie. Haben Sie den heutigen Abend gefilmt?»

Der Fotograf nickte. Er gehörte zu den bescheidenen Naturen, die kein grosses Aufheben von sich machten. Vielmehr liess er seine Kamera sprechen.

JJ Klohn hatte sich offenbar besonnen, drängte sich erneut vor Grassi und wandte sich an die beiden Beamten.

«Ich bin der Chef hier. Niemand hat etwas mit dem Tod von Ruth zu tun. Ich selbst hatte alle meine Mitarbeiter den ganzen Tag über unter Kontrolle. So etwas hätte ich mitbekommen.»

«A-ha.» Köppel war zurück von seinem Anruf. «Sie sagten, Sie sind der Chef dieser Werbeagentur?»

«Klar. Sieht man doch.» Der kleingewachsene Mann mit schütterem Haar war bemerkenswert ruhig.

«Natürlich, natürlich. Und Sie haben nichts Auffälliges beobachtet?»

«Genau so ist es. Heute war ein Tag wie jeder andere. Das können Sie mir glauben: mir entgeht nichts. Alle waren am Arbeiten. Ausser Laura Niederer: die hatte es am Nachmittag nicht als notwendig empfunden, zur Arbeit zu erscheinen. Das wird noch ein Nachspiel haben, das versichere ich Ihnen.»

Köppel nahm von allen Anwesenden die Personalien auf.

Pablo Grassi schlich sich in Aemiseggers Gunst. Stolz gab er zum Besten: «Ich war es übrigens, der die Polizei informiert hat», und bot ihm ein Glas Wein an.

«Ich bin im Dienst!», erwiderte Aemisegger verärgert.

«Entschuldigen Sie, ich bin auch bei der Arbeit, als Werber arbeitet man 24 Stunden am Tag. Möchten Sie wenigstens etwas essen?»

«Nein!», wies ihn Aemisegger zurück.

«Wir essen bestimmt nichts», stellte sich Köppel entschieden dazwischen. «Sollte Frau Biedermann tatsächlich vergiftet worden sein, könnte das Gift in diesen Delikatessen stecken.» Er griff mit den übergezogenen Handschuhen nach den restlichen Häppchen und steckte sie in die mitgebrachte Plastiktüte.

«Die Häppchen werden untersucht, darauf können Sie Gift nehmen!»

Pablo Grassi stockte während dem Kauen. Mit offenem Mund stand er da. Zerkautes Brot und angebissener Schinken hingen über die dünne Unterlippe und purzelten ihm beinahe aus dem Mund. Soweit hatte er offenbar nicht gedacht. Grassi rannte unverzüglich zur Herrentoilette, um sich zu übergeben.

«Köppel, haben Sie alles notiert?»

«Selbstverständlich, Chef. Personalien aller Anwesenden, Name der abwesenden Mitarbeiterin. Informationen zur Toten, Todeszeitpunkt, vermutete Todesursache.»

«Genau, eine Vermutung.»

«Ich hab‘s kapiert, Chef.» Köppel ärgerte sich über die penible Antwort seines Chefs, er war schliesslich kein Anfänger. Er liess sich jedoch nichts anmerken, stattdessen informierte er: «Die Leute von der Spurensicherung sind soeben eingetroffen.»

«Wann können wir endlich nach Hause?», erkundigte sich die 17-jährige Martha schüchtern. Sie hielt es kaum mehr aus. Heute war so viel Schreckliches passiert, das reichte für ein ganzes Leben. Sie musste das alles erst einmal verdauen.

«Sie können gleich nach Hause. Wir sichern die Spuren und überweisen die Tote ins Untersuchungslabor», gab Aemisegger den Leuten bekannt.

«Das ist alles? Wir sind also entlassen?», wunderte sich David Mischler laut.

«Vorläufig, ja. Wir warten auf die ersten Ergebnisse und kommen am Montag gegen 8.30 Uhr zur Befragung zu Ihnen ins Büro. Wir werden von Ihnen allen Fingerabdrücke und Speichelproben nehmen. Halten Sie sich also bereit. Alle.»

«Und wir haben jetzt erst mal die Aufgabe, die Familie zu informieren», meinte Aemisseger zu Köppel gewandt: «Los, lassen Sie uns gleich bei der Familie von Frau Biedermann vorbei fahren!»

«Familie? Sie sprechen von Ruths Ehemann?», mischte sich Grassi ins Gespräch. Aemisegger wusste sein höhnisches Lächeln nicht zu deuten und meinte stattdessen: «Wenn Sie so freundlich wären und uns seine Adresse geben könnten?»

DRANGSALIERT

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