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Kapitel 2: Fall von der Bühne
ОглавлениеGleich nach der Mittagspause war in der Agentur erneut Feuer unter dem Dach; ein Feuer, das drohte, einen Flächenbrand zu entfachen. Carmen Fritsche, die Grafikerin, sass angewidert an ihrem Arbeitsplatz. Dünnhäutig drückte sie sich eine Träne weg. Gestern hatte sich JJ erlaubt, ihre Arbeit vor dem Kunden zu tadeln und ins Lächerliche zu ziehen. Es hatte sie tiefer getroffen, als sie zugeben wollte. Heute ging es im selben Stil weiter. Carmen starrte in ihren Mac und tat dergleichen, als hätte sie den herbeieilenden JJ nicht gesehen. Doch ein JJ liess sich nicht ignorieren. Er stellte sich demonstrativ zu ihr an den Tisch und fauchte: «Carmen, warum ist dein Fenster offen! Ich bin jetzt schon am Auslaufen bei dieser Hitze! Da draussen ist es noch wärmer als hier drinnen! Ich bin doch nicht der Tschumpel hier!»
Carmen entgegnete ihm entschuldigend: «Ich brauche frische Luft, Sauerstoff …» Sie hätte lieber den Mund gehalten. Auf ihre Widerrede hatte er wohl gewartet; JJ ging an die Decke, wütend schimpfte er: «Hörst du mir etwa nicht zu?! Was erlaubst du dir eigentlich?!»
Die Grafikerin wagte nichts mehr zu sagen; sie erhob sich hastig, ging zum Fenster und schloss es. Dann stürmte sie an JJ vorbei zur Damentoilette.
Kurz darauf hörte man Ruth Biedermann, wie sie mit ihrem alles übertönenden Stampfschritt zu Juliane Scheibli trampelte und quer durch den Raum brüllte: «Weiss jemand, wo Laura Niederer ist?»
Niemand gab Antwort. Ruth Biedermann zerplatzte beinahe. Sie knüpfte sich Backoffice-Managerin Juliane Scheibli vor: «Juliane, würdest du bitte notieren, dass Laura Niederer am Nachmittag nicht mehr zur Arbeit erschienen ist. Das ziehen wir ihr von den Ferien ab! Ist das klar?»
«Natürlich, Ruth.»
«Noch was, Juliane; du hast mir gestern diesen Stadtführer auf mein Pult gelegt. Ist der mit der Post gekommen?»
Juliane Scheibli nickte verdattert.
«Erklär mir bitte, warum der ein Eselsohr hat! Denkst du, ich renne mit so einem schäbigen Stadtführer durch die Gegend? Wie peinlich ist das denn!»
Juliane Scheibli verstand nicht, was die Chefin ihr damit sagen wollte. Es brodelte in ihr, sie hätte am liebsten gleich losgeheult. Die Chefin schaffte es immer wieder, sie ungerechtfertigt in die Enge zu treiben und ihr das Gefühl zu vermitteln, sie sei die Hinterletzte, die auf diesem Planeten existierte. Dieser Ton – Juliane konnte ihn kaum mehr ertragen. Sie riss sich zusammen, so gut es ging. Noch bevor sie zu Wort kam, spielte sich die Biedermann auf und verlangte: «Dieses Buch muss sofort umgetauscht werden. Meine Reise am kommenden Wochenende kann wohl nicht an diesem billigen Stadtführer scheitern. Du hast ihn mir aufs Pult gelegt, also besorg du mir ein neues Exemplar. Aber nicht kaufen: umtauschen, verstanden?!»
Scheibli sass da, nickte erdrückt und erwiderte leise: «Dann gehe ich wohl am besten gleich jetzt ins Glattzentrum. So bin ich rechtzeitig zum Anlass von heute Abend zurück …» Die Biedermann liess sie nicht aussprechen. Die Chefin kam ihr mit wutrotem Kopf näher, so nahe, dass es Scheibli sichtlich noch unwohler auf dem Bürostuhl wurde.
Jeder konnte hören, wie die Chefin sie tadelte: «Wie kommst du auf die Idee, die Geschäftszeit dafür zu nutzen? Himmel, was habe ich nur für Mitarbeiter! Gleich haben wir unseren Anlass, du kannst Tom-Tom in der Küche helfen, wenn du zu wenig Arbeit hast. Und den Reiseführer, den kannst du wohl auch in deiner Freizeit besorgen. Morgen ist ja Samstag. Verstanden? Am Montag will ich meinen Reiseführer – ohne das Eselsohr! Ich habe schliesslich dafür bezahlt!»
Juliane Scheibli rannte ohne ein Wort an ihr vorbei, raus, an die frische Luft.
Ruth Biedermann blickte belustigt aus dem Fenster. Ein Lächeln huschte ihr über die Lippen. Sie genoss es, die Mitarbeiter zu demütigen. Es gab ihr das Gefühl, sie unter ihrer Kontrolle zu haben, und das war ihr Lebenselixier. Die 51-jährige Chefin stand noch eine Weile am Fenster. Dann – als hätte sie etwas erblickt, das nicht in ihre Welt passte - eilte sie völlig unerwartet und ohne ein Wort aus dem Büro.
Als die Chefin nach einer halben Stunde ins Büro zurück kam, stand Pablo Grassi im Mittelpunkt des Geschehens und erntete Beifall der Mitarbeiter. David Mischler klopfte sich lachend auf die Schenkel, Carmen Fritsche war fröhlicher als am Vormittag und Scheibli hielt inne beim Tippen der Kreditoren-Rechnungen. Es war gegen vierzehn Uhr. Noch drei Stunden bis zum Power-Anlass.
Ruth Biedermann stiess die überschwängliche Laune ihrer Angestellten säuerlich auf: «Was ist denn bitte hier los? Ihr seid zum Arbeiten da und nicht für das Rumquatschen bezahlt. Los, los, auf, auf!»
Pablo Grassi drehte sich grinsend um und steckte sein iPhone möglichst unauffällig zurück in die Hosentasche. Heimlich hatte er den Arbeitsplatz seiner Chefin fotografiert und ins Internet gestellt. Den Chaos-Arbeitsplatz der selbsternannten Perfektionistin Biedermann: Ihr Pult war überhäuft von Papierkram, teilweise mit Kaffeespritzern bekleckert, knittrigen Rechnungen, vergilbten und verstaubten Präsentationen; und all dies zwischen Krümeln, auf denen sich Schimmel bildete und halbgeleerten Kaffeebechern aus den Vorwochen.
Die Biedermann war in ihren eigenen Film verstrickt: «Ich wüsste nicht, was es zu lachen gibt.» Sie besann sich und forderte Grassi auf: «Pablo, wir müssen sofort reden.»
Feierlich folgte ihr Grassi ins Sitzungszimmer. Darauf hatte er gewartet. Er hatte allen Grund zu guter Hoffnung. Endlich ging es vorwärts in der Agentur. Die Biedermann und JJ Klohn hatten ihm vor längerer Zeit angeboten, ihn als Mitglied in die Geschäftsleitung aufzunehmen. Unklar war nur noch, ob er sich an der Firma beteiligen sollte oder ob ihm die Position ohne eigene finanzielle Mittel zugesprochen würde. Grassi war sicher: der Moment war gekommen und die Chefin würde ihm die Position schmackhaft machen.
Die Mitarbeiter streckten die Hälse und Ohren lang, leider war kein Laut aus dem Besprechungsraum zu vernehmen. Die Sitzung dauerte ungewöhnlich kurz. Die Biedermann tauchte triumphierend auf, wie immer, wenn sie ihren Kopf durchgesetzt hatte. Die Mitarbeiter warteten gespannt auf die Miene von Grassi. Dass er überglücklich eine Flasche Champagner köpfen würde, das konnten sie vergessen, das war jetzt schon klar. Pablo Grassi erschien bebend, mit puterrotem Kopf. Was war wohl zwischen den beiden vorgefallen? Von Grassi hörte man keinen Mucks.
Die Stimmung im Büro war wieder auf dem Nullpunkt angelangt. Die Überlaune der Biedermann biss sich mit der allgemeinen Stimmungslage. Niemand konnte nachvollziehen, was die Biedermann so ungewöhnlich munter erscheinen liess. Ins Unermessliche gesteigert wurde ihre Laune noch durch die Aussicht auf den Genuss von Tanjas Kuchen. Biedermann stellte sich in der Büroküche einen grossen Teller bereit und schöpfte sich gleich zwei fette Stücke vom Schokokuchen darauf.
«Lecker!»
Gierig kleckerte sie die frische Schlagsahne obendrauf und stibitzte zusätzlich einige Marzipan-Früchtchen vom Kuchen dazu. Es fiel ihr sehr schwer zu widerstehen. Immerhin hatte sie sich den ganzen Vormittag zurück gehalten und nur von den Gipfeli gegessen, die sie mitgebracht hatte. Der Schokoladenkuchen war jetzt genau das, worauf sie heisse Lust verspürte.
«Köstlich! Die Stücke habe ich mir verdient nach all dem Ärger heute!», belohnte sie sich selber.
JJ Klohn stand plötzlich neben ihr: «Ruth, lass uns fünf Minuten zusammensitzen und den Power-Anlass besprechen.»
«Jetzt gleich?»
«Wann sonst?», entgegnete JJ trocken.
«Sicher, sicher. Ich komme gleich. Geh du doch schon mal vor und ich stell den Schokokuchen auf den Arbeitsplatz.» Am liebsten hätte sie gleich reingebissen. Wenigstens das eine Marzipan-Früchtchen, dazu ein wenig Sahne. «Lecker!»
An ihrem Arbeitsplatz angekommen, schob sie den einen Papierstapel nach rechts und das Personaldossier einer potentiellen Mitarbeiterin nach links, so dass sie dazwischen gerade noch Platz fand, ihren Teller abzusetzen. Ihr Telefon klingelte. Biedermann nahm ab, umwarb den Anrufer mit schleimigen Worthülsen, während sie gleichzeitig ihre Augen nicht von den Schleckereien lassen konnte.
«Ruth!» JJ rief energisch aus dem Sitzungszimmer durch das ganze Büro, ungeachtet dessen, dass rund fünfzehn weitere Personen am Arbeiten waren.
«Ich bin ja schon unterwegs, JJ!» Ruth stopfte weiteres Marzipan in sich hinein und stampfte schmatzend an Scheibli vorbei ins Sitzungszimmer, wo sie sich eine gute halbe Stunde mit ihrem Geschäftspartner zankte.
Kurz vor siebzehn Uhr sassen die beiden Chefs erneut zusammen, um sich auf die Rede von Ruth Biedermann zu einigen. An ihrem Arbeitsplatz gammelten die Krümel inmitten der Sahnereste auf dem leergefressenen Teller.
Tanja Nussbaumer aus dem Personalwesen und Juliane Scheibli diskutierten noch über die Kreditoren-Buchungen und Martha, die Praktikantin, ordnete die Rechnungen im Ordner ein. Die Grafikerin Fritsche unterstützte den hausinternen Koch Thomas Wohlfahrt, besser bekannt als Tom-Tom, bei der Zubereitung der Häppchen für den Apéro, während der Fotograf Kamera und Equipment bereit stellte. Der IT-Verantwortliche Markus «Mägge» Trost bot ihm seine Hilfe an. Die Vorbereitungen für den bevorstehenden Anlass liefen. Nur gut waren die Chefs noch durch die Sitzung absorbiert.
«Das war heute wieder einmal ein verrückter Tag!», bemerkte Mischler und versuchte, den mürrischen Grassi aufzuheitern.
«Wie meinst du das?» Grassi hörte ihm kaum zu. Gedanklich war er irgendwo, aber nicht bei den Leuten im Raum.
«Die Chefin.»
«Hör mir auf mit dem Thema Ruth!»
«Sag ich doch, nicht der Rede wert.»
«Ach so.»
«Was war los heute bei euch?» Mägge Trost stellte sich neugierig zu den beiden dazu.
«Ruth spinnt heute total», bemerkte Grassi grimmig.
«Hat sie mitbekommen, dass du ihren Platz fotografiert hast?»
«Nein.» Grassi lachte schadenfroh.
«Du bist wütend.»
«Bin ich das?»
«Pablo, wir kennen dich doch.»
«Ach, vergesst es. Die wird ihr Fett schon abbekommen.» Zumindest hatte er sein Grinsen zurück. Er lenkte geschickt vom Thema ab: «Tom-Tom, darf man sich bei den Häppchen schon bedienen?» Auch Pablo gehörte zu denen, die keine Köstlichkeit ausser Acht liessen. Essen war für ihn ein Hochgenuss, ausserdem war er auch ein Weinliebhaber.
«Bedien dich von dieser Platte – hier.» Tom-Tom streckte ihm ein paar gluschtige Häppchen unter die Nase, von denen sich Carmen Fritsche auch eines ergatterte. Kauend wollte die Grafikerin wissen: «Was war heute mit JJ los?»
«Heute? Der spinnt von Natur aus», scherzte IT-Mägge.
«Weshalb bist du eigentlich so gestresst, Mägge?», fragte Tanja Nussbaumer.
«Wegen Ruth natürlich. Seit Wochen – nein, inzwischen sind schon drei Monate vergangen - warte ich auf ihren Entscheid bezüglich meines IT-Projektes. Sie hat mich über Wochen damit beschäftigt, Offerten einholen zu lassen, wir hatten -zig Sitzungen mit Experten, ich habe ihr einen Kostenvergleich ausgearbeitet und so weiter und so fort. Und jetzt, wo es darum geht, einen Vertrag für einen neuen Server abzuschliessen, geht sie mir aus dem Weg!»
«Brauchen wir denn überhaupt einen neuen Server?»
«Wenn wir einen Totalabsturz unseres IT-Netzwerkes vermeiden wollen … »
«So schlimm kann es doch nicht sein. Mein Computer läuft reibungslos», wunderte sich Nussbaumer.
«Du denkst ja wie Ruth. Ihr habt doch keine Ahnung, was soll ich da diskutieren.»
«Mich haben Ruth und JJ genervt heute!», unterbrach Juliane Scheibli aufgebracht. Auch sie hatte das Bedürfnis, sich den Stress vom Herzen zu diskutieren. «Wie bin ich froh, dass der Tag vorüber ist. Jetzt noch der Anlass und dann ab ins Weekend!»
Die Mitarbeiter nickten, es ging allen gleich.
«Das mit Ruth und dem Reiseführer habe ich mitgekriegt. Tragisch. Hattest du auch Stress mit JJ heute?», wollte die Grafikerin von Juliane wissen.
«Hast du das nicht mitbekommen?»
Carmen schüttelte entschuldigend den Kopf.
Von Juliane war ein tiefer Seufzer zu hören: «Der hat eine Vollmeise! Du weisst ja, ich bin eigentlich eingestellt im Backoffice und als Projekt-Assistentin.»
«Ja, klar.»
«Eben. Aber seit ich hier arbeite, muss ich mich hauptsächlich um Aufgaben rund um die Baustelle kümmern. Ich biete täglich Handwerker auf, weil irgendetwas am Haus kaputt ist. Die Alarmanlage war defekt, oder das Telefon, weil sie zufällig in eine Leitung gebohrt hatten, dann muss ich für die Toiletten schauen – ich bin doch nicht die Klofrau!»
« Nein, du bist sicher nicht die Klofrau!», zeigte sich Carmen empört. Personalfrau Nussbaumer grinste belustigt aus dem Hintergrund. Sie war offensichtlich zufrieden und erleichtert darüber, dass diese Aufgaben nicht an ihr hingen.
«Heute Mittag, ich war gerade dabei, mein Thon-Sandwich zu essen, verlangte JJ von mir, dass ich den Kolben beim Türschloss auswechsle.»
«Was solltest du?» Nun spitzte auch David Mischler die Ohren.
«Das Türschloss auswechseln. Woher soll ich wissen, wie das geht? Ich habe mich bei JJ entschuldigt: Schlösser auswechseln gehört nun mal nicht zu meinem Fachgebiet. JJ wurde richtiggehend wütend. Er putzte mich runter, ich kam mir vor wie ein kleines, unfähiges Kind.»
«Der spinnt wirklich. Ich wüsste auch nicht, wie ich ein Türschloss auswechseln sollte.» Carmen versuchte, die Kollegin aufzumuntern.
«Ihr wisst nicht, wie man ein Türschloss auswechselt?», lachte Mischler über die beiden Damen.
«Halt doch die Klappe, David!», wies ihn Mägge zurecht.
Juliane Scheibli erzählte weiter: «So richtig ausgeflippt ist JJ aber, als ich ihn gebeten habe, mir wenigstens zu zeigen, wie das geht.»
«Wieso ausgeflippt?»
«Er wusste es selber nicht, er habe das noch nie gemacht. Dafür hätte er ja Mitarbeiter.»
Niemand sagte etwas. Tom-Tom starrte auf seine Häppchen und fragte sich, was wohl als nächstes käme.
Die Tür des Sitzungsraumes öffnete sich. JJ Klohn erschien zuerst und gesellte sich halbwegs zufrieden zur Runde - ganz im Gegensatz zu Ruth Biedermann, die wieder den Eindruck machte, unter ihrer berüchtigten Hochspannung zu stehen. Alle waren bereit, nur Laura Niederer fehlte. Niemandem schien es aufzufallen, dass sie seit der Mittagspause nicht mehr zur Arbeit erschienen war. Sie gehörte sowieso nicht mehr zu ihnen.
Der Anlass konnte losgehen. Jeder packte mit an: einer trug die Gläser ins Sitzungszimmer und öffnete die Fenster, um die abgestandene Luft raus und frische rein zu lassen. Andere waren Tom-Tom beim Auftischen von Speis und Trank behilflich, während die technisch Versierteren das Podest in den Raum schoben und Mikrophon und Beamer bereitstellten. Ruth Biedermann war kurz verschwunden, um sich zu erfrischen und um in der Küche im Erdgeschoss zusätzliche Weingläser zu holen. Bleich war sie nach all dem Zoff im Büro. Klohn stand alleine in der Ecke. Seine Miene verfinsterte sich zunehmend. Von hinten tippte er dem Koch auf die Schulter: «Das sollen die Häppchen für unseren Anlass sein? Die schauen widerlich aus.»
Tom-Tom drehte sich, fassungslos über den Angriff, zum Chef um. JJ Klohn winkte ihn nach draussen in den offenen Raum. «Ich habe mir unsere Verpflegung anders vorgestellt. Das Auge isst immer mit. Dass ich dir das sagen muss. Du enttäuscht mich. Bist du der Koch oder bin ich es?»
Tom-Tom entschuldigte sich: «Ruth meinte …»
«Die Schuld gleich bei anderen suchen. Das hat keinen Stil, das ertrage ich gar nicht.»
Der Koch biss sich auf die Lippen und JJ doppelte nach: «Wir sind eine Werbeagentur. Bei uns kommen nur ausgewählte und mit Liebe zubereitete und dekorierte Köstlichkeiten auf den Tisch.»
«Verstanden, Chef.»
«Das sieht man an dem optischen Pfuschwerk, dass du das verstanden hast. Pfui! Ich will gar nicht wissen, wie das schmeckt!» JJ verzog spöttisch den Mund.
Tom-Tom war überaus erleichtert, als das Telefon in ihrer unmittelbaren Nähe klingelte und die Aufmerksamkeit von JJ auf sich zog.
«Das Telefon klingelt, Tom-Tom!»
Als ob er es nicht selber läuten gehört hätte. Mann, JJ hatte null Sozialkompetenz. Tom-Tom war nicht sein Telefonist, er war Koch. Der Chef ärgerte ihn gewaltig. So ein Idiot! Vor kurzem hatte der Chef auch die grandiose Idee gehabt, dass Tom-Tom einen zusätzlichen Arbeitsplatz benötigte, einen komplett eingerichteten Büroplatz mit Computer, Drucker und allem Pi-Pa-Po. Völlig überflüssig. Nur um die wenigen Rechnungen für die Kochevents zu schreiben - das hätte er genauso gut vom Computer im Foto-Kochstudio erledigen können. Total unnötig, dass er nun deswegen direkt neben dem Chef sitzen musste. Sein Arbeitsplatz war die Küche.
Widerwillig nahm er den Anruf entgegen: «Werbeagentur Kochevents Wohlfahrt.»
JJ stand direkt neben ihm.
«Ist für dich, JJ.» Tom-Tom hielt ihm den Hörer hin.
«Stell den Anrufer zu mir durch!», befahl JJ barsch.
«Verbinden?»
«Was sonst!»
«Wie kann ich ihn dir weiter verbinden? Ich kenne mich mit diesem Telefon nicht aus.»
«Wie bitte? Bist du belämmert? Wie dumm muss man sein, wenn man nicht mal fähig ist, einen Anruf auf meinen Apparat weiterzuleiten!»
Ein total eingeschüchterter Tom-Tom blinzelte verlegen und fragte kleinlaut: «Könntest du mir bitte zeigen, wie ich den Anrufer verbinde? Er hängt noch immer in der Leitung», und er ergänzte in entschuldigendem Ton: «Ich denke, dass er mitgehört hat.»
JJ schüttelte gespielt verständnislos den Kopf und sagte wichtigtuerisch: «Das weiss ich doch nicht, wie man einen Anrufer verbindet. Bin ich denn die Sekretärin hier?», und er riss Tom-Tom den Hörer aus der Hand.
Tom-Tom ging geknickt zurück zu den übrigen Mitarbeitern, die teilweise in bereits angeheiterten Stimmung ihr Privatleben ausbreiteten. Nur Ruth Biedermann stand unter Stress. Sie fixierte einen nach dem anderen, versuchte mit ihrem Kontrollblick sämtliche Details im Griff zu haben. Sie war ruhelos; schnell goss sie sich ein weiteres Glas Wein voll.
«Sind wir bald bereit mit der Technik?», fragte sie den Fotografen. «Du musst meine Rede ins beste Licht rücken!»
Er nickte. Ruth wirbelte noch eine Weile herum, hantierte gekonnt mit dem Wein und den Häppchen und zeigte sich voller Vorfreude auf ihren grossen Auftritt. In den vergangenen Jahren hatte ausnahmslos JJ das Wort an die Mitarbeiter gerichtet. Heute war endlich sie an der Reihe. Sicherlich konnte JJ auch gut reden. Aber sie war klar die Bessere. Lange hatte sie darauf gewartet, dass er ihr die Bühne überliess. Sie war gut vorbereitet. Biedermann beobachtete Grassi, der sich hinter das Blätterteig-Gebäck machte, es geradezu in sich hineinstopfte. Sie empfand seine Gier als widerlich. Biedermann musterte die korpulente Silhouette ihres Angestellten, von seinem Schwabbbelranzen bis hoch zu seinem ausgeprägten Doppelkinn und dachte sich, dass er überhaupt nicht in die Agentur passte. Sie schämte sich für sein Aussehen.
Leise, im Hintergrund, aber deutlich zu verstehen, hörte man Pablo Grassi sagen: «Ruth schaut fürchterlich… ehm… blass aus.» Genugtuung schien in seiner Stimme mitzuschwingen.
Ruth Biedermann fühlte sich tatsächlich nicht gut. Es blieb ihr daher keine Energie, um Grassi für seine Bemerkung büssen zu lassen. Sie kämpfte andauernd gegen eine in Wellen aufkommende Übelkeit an. Es musste am Wein liegen, dachte sie. JJ kam von seinem Telefongespräch zurück. Ihr Auftritt stand ihr unmittelbar bevor.
«Sind alle da?» Das Team war fast vollzählig versammelt.
«Die Laura fehlt. Hatte es wohl nicht nötig, sich abzumelden», grinste Grassi. Es störte niemanden weiter. Auch JJ nicht. Er fuhr unvermittelt den Fotografen an: «Deine Bilder für die neue Markenkampagne sehen echt Scheisse aus. Von einem Fotografen erwarte ich etwas anderes.»
Der Fotograf stand verdattert da. Er war derselbe Jahrgang wie Klohn, beide waren etwas über sechzig Jahre alt. Der Fotograf hatte während drei Jahrzehnten Erfolg mit seinen Bildern gehabt und gut von seiner Arbeit leben können - solche Bemerkungen musste er sich nicht gefallen lassen. Doch dem Anlass zuliebe liess er sich den Ärger nicht anmerken, blieb ruhig und überprüfte konzentriert die Kameraposition.
«Kamera bereit!»
Das war das Stichwort für Ruth Biedermann. Wichtigtuerisch hievte sie sich aufs Podest, setzte ein Lächeln auf und fühlte sich, als würde sie eine Dankesrede an einer Oscar-Verleihung starten:
«Willkommen zum heutigen Power-Anlass. Ich begrüsse euch – JJ und ich begrüssen euch, ganz besonders auch Tom-Tom, der neu zu uns ins Team gestossen ist.»
Ein verhaltener Applaus der Mitarbeiter erklang. Tom-Tom fühlte sich wieder angenommen. Davon konnte ihn auch JJs Blick nicht abhalten.
Ruth wirkte etwas wacklig auf den Beinen. Sie stellte sich die Wasserflasche zu Füssen und führte ihre Rede fort: «Euch ist nicht entgangen, dass wir seit Wochen auf einer Baustelle arbeiten. Die Bauarbeiten werden noch den ganzen Winter über dauern. JJ und ich danken euch für euer Verständnis. Ich empfehle euch, eure älteren Schuhe zu tragen. Beim provisorischen Eingang im hinteren Teil wird für ein paar Wochen eine Schmutzschleuse eingerichtet.» Sie nahm einen weiteren Schluck Wasser, klammerte sich geradezu an die PET-Flasche.
«Momentan sind die Heizungen noch nicht funktionstüchtig. Es könnte kalt werden; auch wenn heute ein sonniger Herbsttag war - wir haben bald Oktober. Nehmt Handschuhe und eine gute Jacke mit zur Arbeit. Wir haben für jeden eine Fussheizung bereit. So schlimm wird’s also nicht werden. Die gute Nachricht ist: in zwei Wochen werden wir wieder warmes Wasser haben.»
Die Mitarbeiter stiessen unterschiedliche Laute aus. Bei einigen hörte es sich nach einem Stöhnen an, andere wiederum lachten oder verdrehten die Augen. Es war ihnen in der Vergangenheit schon so einiges zugemutet worden in der piekfeinen Werbeagentur. Biedermann unterbrach:
«Reserviert euch schon mal das Datum der Hauseröffnung: es ist der 17. März 2013. Eine grosse Feier ist geplant.»
«Das heisst, wir arbeiten ein halbes Jahr auf einer Baustelle?», wollte Grassi wissen.
«So ist es. Seid doch mal zufrieden und hört auf, euch zu beklagen. Immer hören wir nur, was nicht gut sei. Seht doch mal, dass ihr einen anständigen Lohn verdient, viel Platz habt im Grossraumbüro und dass wir uns mit dem Haus an repräsentativer Lage befinden. Und wir sind optimistisch, dass wir im März die Hauseröffnung feiern können.»
Erneut ging ein Raunen durch die Runde.
Ruth Biedermann konnte sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr.
«JJ wird euch anschliessend über seine neuesten Projekte berichten. Aber nun stossen wir doch gleich einmal an. Danke an Tom-Tom für die Häppchen. Bedient euch schon mal davon. Denn, bevor wir nun gemeinsam das Glas heben, heben… habe … habe… ich … ich … ich will etwas … Wichtiges ….»
Fassungslos starrten alle im Raum auf Ruth Biedermann. Endlich hatte die Chefin die volle Aufmerksamkeit. Sie hatte sich immer so sehr gewünscht, von allen geliebt und bewundert zu werden.
Die Bühne gehörte ihr allein. So wie sie es sich immer gewünscht hatte. Da stand sie nun und alle hörten ihr zu. Ihr, Ruth Biedermann, Chefin der Werbeagentur. Endlich war der Moment gekommen. Doch es war, als wackelten die Bühnenbretter unter ihren Füssen. Verschwommen sah sie in den Saal. Flimmerte es vor ihren Augen oder war ihr bloss die Kontaktlinse verrutscht? Es musste am Alkohol liegen. Hätte sie nur ein Glas weniger getrunken. Sie fühlte sich benebelt, immer dunkler wurde es um sie herum. Ein Stechen jagte durch ihre Brust, und gleich noch einmal. Ruth Biedermann keuchte und würgte. Ihr Gesicht hatte eine unnatürliche Farbe angenommen. Sie würgte wieder. Dann taumelte sie und stürzte vom Podest.
Die Mitarbeiter sahen schockiert zu. Pablo Grassi griff unkontrolliert nach einem Lachs-Canapé und JJ Klohn hielt sich an der Weinflasche fest.
«Ruth, alles in Ordnung?», kam es aus der Ecke des Fotografen, der verblüfft hinter seiner Filmkamera auftauchte.
«Ruth?», rief Tanja Nussbaumer besorgt.
Noch immer rührte sich keiner vom Fleck.
«Hallo, gehört das zum Anlass - machst du Witze Ruth?», kam es von Mischler.
Juliane Scheibli hatte kein gutes Gefühl. Sie war die erste, die zu Ruth hinlief, gefolgt von Carmen Fritsche, Praktikantin Martha und IT-Mägge.
«Leute, schnell! Wir müssen einen Krankenwagen rufen!»
«So schlimm wird’s doch nicht sein», ärgerte sich JJ, «wir sind doch keine Geisterbahn.»
«Los! Ruft endlich jemand einen Krankenwagen?!» So energisch hatte man Scheibli noch nie rufen gehört. Tanja Nussbaumer rannte zum Telefon und wählte die Nummer 144.
Aufgelöst standen alle rund um Ruth Biedermann, die in seitlich gekrümmter Haltung regungslos am Boden lag.
«Atmet sie?»
«Seid doch mal ruhig! Ich kann nichts hören.»
«Hat sie Puls?»
«Puls?»
«Na, check mal ihr Handgelenk!»
«Mach du das!»
Grassi kniete zu Ruth an den Boden und tastete an ihrem Handgelenk.
«Ich kann nichts fühlen.»
«Was???» Martha war am Durchdrehen.
«Endlich geht mal was», spottete Mischler. «Lebt sie noch?»
«Keine Ahnung!», erwiderte Scheibli.
«Leute, macht mal nicht auf Panik. Der Krankenwagen kommt gleich», versuchte JJ die Situation zu beruhigen.
«Sie ist tot!» Martha rannte weinend aus dem Raum.
«Wieso soll sie tot sein?» JJ Klohn wollte die Situation nicht wahr haben.
«JJ, ich glaube Martha könnte recht haben: Ruth ist tot.» Die Stimme von Mägge klang ernst. Endlich hörte JJ zu. Er kniete sich ebenfalls an den Boden, tastete nach dem Puls und suchte irritiert den Augenkontakt zu seinen Mitarbeitern: «Ich fühle keinen Puls.»
Es vergingen Minuten der Verzweiflung bis die Ambulanz eintraf. Die Rettungssanitäter traten in den Raum und verschafften sich einen Überblick.
«Was ist passiert?», wollte einer der Sanitäter wissen.
«Keine Ahnung. Die Biedermann hat eine Rede geschwungen und ist vom Podest gefallen. Seither liegt sie da», informierte David Mischler.
Einer der Sanitäter, der Ruth Biedermann minutenlang wiederzubeleben versuchte, erklärte schliesslich niedergeschlagen: «Die Frau ist tot. Wir können leider nichts mehr für sie tun.» Die geschockten Mitarbeiter standen erstarrt im Raum.
«Was jetzt?», kreischte Juliane Scheibli.
«Jemand soll bitte die Polizei rufen!»
Pablo Grassi verliess entschieden den Raum, holte sein iPhone aus der Tasche und wählte die Notruf-Nummer 117.