Читать книгу BIZARR - Sharon Lee - Страница 4
Der Fremde am Tisch
ОглавлениеBittere Verzweiflung sprach aus seinen Augen, als er sagte: «Ich habe jemanden getötet! Ein Mensch musste sterben, es ist meine Schuld. Was ich getan habe, ist unverzeihlich.»
Hatte sie richtig gehört, Dr. Wiederkehr wollte jemanden ermordet haben? Unmöglich. Sein miserabler physischer Zustand gab Carla Fuchs Anlass zur Besorgnis, und nun fragte sie sich auch, ob es um seinen geistigen Zustand genauso schlimm stand. Sie brauchten sich nichts vorzumachen, die Krankheit hatte ihn fest im Griff. Die kleinste Bewegung, nur schon das Hochheben eines Armes, bedurfte höchster Anstrengung. Der Tod war unausweichlich.
Sie überlegte, wie viel Wahrheitsgehalt sie seiner Aussage beimessen konnte, ob sein Fantasieren auf die Medikamente zurückzuführen oder ob er ganz einfach verrückt geworden war. Andere Erklärungen fand sie nicht. Warum nur wollte er kurz vor seinem Tod einen Mord gestehen? Erdrückte ihn die Schuld oder was verbarg sich hinter der Fassade des Vierundachtzigjährigen?
Die Detektivin zog einen Stuhl heran. Sie bemerkte, dass Dr. Wiederkehr wieder ruhiger atmete und nickte ihm aufmunternd zu:
«Wie kann ich Ihnen helfen?»
«Sie zweifeln an meinen Worten.»
Es klang mehr nach einer Feststellung als nach einer Frage.
«Wenn ich ehrlich sein soll – in der Tat fällt es mir schwer zu glauben, dass Sie ein Mörder sind.»
Genauer gesagt war es für Carla Fuchs unvorstellbar, dass der einstige Sportsfreund ihres Vaters einen Mord begangen haben sollte. Sie kannten sich fast ein Leben lang. Bis zu ihrem Schulabschluss hatte Fuchs im aargauischen Bünzigen gelebt, in derselben Gemeinde wie die Familie Wiederkehr. Die Kontakte zu ihrer alten Heimat hatte sie nie abbrechen lassen und pflegte die alten Freundschaften so gut es ihr Beruf erlaubte, auch zu Dr. Wiederkehrs Sohn Konstantin, der etwa ihren Jahrgang hatte. Nach dem Studium hatte er die Immobilienfirma vom Vater übernommen und etwa zur selben Zeit eine aus der Stadt geheiratet.
Im Allgemeinen zollten die Bewohner von Bünzigen der Familie Wiederkehr Respekt, einige begegnen ihnen mit Ehrfurcht. Andere hatten sich von der Familie abgewendet. Sie wehrten sich gegen den Bauboom und den damit verbundenen Zuzug von Ausländern. Darüber sprach man oft – hauptsächlich hinter vorgehaltener Hand. Mit wachsender Einwohnerzahl hatte sich auch der ursprüngliche Charakter der Gemeinschaft verändert. Aus dem Dorf wurde eine Kleinstadt, Freundschaften gingen in die Brüche, man schaute verstärkt nur noch für sich selber. Konstantin wurde nachgesagt, er sei ein Nichtsnutz, ein Waschlappen, der sich von seiner Frau die Hörner aufsetzen liesse.
Sekunden der Rückblende vergingen, dann schüttelte Carla Fuchs erneut den Kopf: «So sehr ich mich bemühe, ich kann mich nicht erinnern, dass es in Bünzigen einen Mord gegeben hätte. Sie wollen doch nicht eine Schuld auf sich lasten für einen Mord, den Sie nicht begangen haben?»
«Ich bin wohl sehr krank, doch nicht so verwirrt, dass ich nicht wüsste, wovon ich spreche. Noch etwas: Ich bestehe darauf, Sie grosszügig zu honorieren.»
Fuchs folgte seiner Geste, ihre Augen wanderten zum Nachttisch: eine Thermoskanne stand dort, eine Vase mit Lilien, daneben lag ein schmaler, dick gewölbter Umschlag. Dr. Wiederkehr nickte ihr zu: «Los, stecken Sie ‘s ein!»
Ein beklemmendes Gefühl überkam Carla Fuchs, als sie die vielen Geldscheine erblickte. Nicht, dass sie etwas gegen viel Geld gehabt hätte, doch das konnte sie nicht annehmen. Unvermittelt brachte sie zum Ausdruck, dass sie wohl an ein solides Honorar gewöhnt war, diese Summe jedoch ihre Vorstellung um ein Vielfaches übertraf. Sie hatte noch nicht einmal zugesagt. Während sich die Detektivin überlegte, ob sie sich auf diesen sonderbaren Fall einlassen wollte, war Dr. Wiederkehr schon überzeugt davon. Es war sein letzter Wunsch.
Mager war er geworden. Die Wangenknochen und das Kinn stachen markant hervor, die Haut war fahl und von Pigmentflecken übersät, die Haare auf seinem Kopf wild zerzaust. Auf der ausgeklappten Tischfläche stand das Essen, ein Teller Griess mit Marmelade, unberührt; auch die Teetasse war noch randvoll. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, bat er sie darum, ihm den Tee zu reichen. Nachdem er kurz daran genippt hatte, gab er ihr die Tasse zurück. Jede Bewegung führte er bewusst aus, um seine Kräfte zu dosieren. Genauso kontrolliert fing er nun an zu sprechen:
«Stellen Sie sich vor, Sie weilen an einem Fest, eingeladen von einem Freund. Einige der Gäste sind Ihnen bekannt. Sie setzen sich an einen der Tische und bestellen eine Tasse Tee.»
«Rotwein würde ich bevorzugen.»
«Sie bestellen ein Glas Rotwein», fuhr Dr. Wiederkehr unbeirrt fort. «Ein Ihnen noch unbekannter Gast nähert sich dem Tisch und setzt sich zu Ihnen. Gleichzeitig entdecken Sie Ihren Freund, der Ihnen eifrig zuwinkt. Sie stellen das Glas Wein ab und gehen in den hinteren Teil des Raumes, um ein paar Worte mit Ihrem guten Freund zu wechseln. Er erzählt Ihnen, dass der unbekannte Mann an Ihrem Tisch mehrere Jahre im Gefängnis gesessen habe. Er sei wegen Giftmordes an seiner Ehefrau verurteilt worden.»
Erstaunt musterte Fuchs Dr. Wiederkehr. Was wollte er ihr sagen? Es hörte sich an, als wolle er ihr ein Sinnbild vermitteln.
«Jetzt frage ich Sie, Carla: was tun Sie, nachdem Sie von Ihrem guten Freund gehört haben, dass der Mann ein verurteilter Giftmörder ist? Gehen Sie zurück an Ihren Platz? Und was ist mit Ihrem Glas Wein? Es stand eine Weile unbeaufsichtigt herum. Der Unbekannte, oder jeder andere im Raum, hätte Zugang zu Ihrem Glas gehabt. Würden Sie sich wirklich hinsetzen, genüsslich einen Schluck – oder gar zwei – davon trinken und tun, als ob die Welt noch dieselbe sei?»
«Wenn ich auf das Wort meines guten Freundes vertrauen kann - natürlich nicht!»
«Sehen Sie, das meine ich. Ob Sie Ihrem guten Freund vertrauen können oder nicht, können Sie letztendlich nur einschätzen, jedoch nie wissen. So funktioniert Ihr Verstand. Er wird beeinflusst von Freunden, Bekannten, Personen der Öffentlichkeit oder den Medien. Wenn Sie die Quelle als glaubwürdig einschätzen, halten Sie die Information für wahr.»
«Da bin ich mit Ihnen einig.»
Beharrlich fügte Dr. Wiederkehr an: «Finden Sie die Wahrheit heraus, ich bitte Sie darum.»
«Ich wünschte, Sie würden mir die Wahrheit erzählen.»
«Es geht um Gerechtigkeit. Lügen haben Leben zerstört, ich lebte wie in einem Gefängnis. Mein Geld konnte mich nicht aus den Ketten befreien, eisernen Ketten, die ich mir selber angelegt hatte. Dabei wünschte ich mir immer Ruhe und Freiheit. Wissen Sie, Freiheit lässt sich nicht mit Geld kaufen. Freiheit findet im Kopf statt, das ist meine Überzeugung.»
Etwas verwundert war sie schon. Wenn ein Mann wie Dr. Wiederkehr nicht von Freiheit sprechen konnte – wer dann?
«Ich hoffe, Sie verstehen mich, dass ich nach Erklärungen suche, weshalb Sie Ihre Freiheit vermissten.»
«Frei war ich nie, ganz im Gegenteil. Glücklich war ich nur in wenigen Augenblicken. Das Äussere täuscht oft. Man zeigt keine Schwäche. So wurde ich erzogen. Mein Vater war ein Mann mit Prinzipien und Überzeugungen. Er hatte klare Vorstellungen und wehe, etwas ging seine eigenen Wege.»
Dr. Wiederkehr hüstelte. Die Erinnerungen regten ihn sichtlich auf. Fuchs wollte seine Kräfte nicht unnötig strapazieren und antwortete zurückhaltend:
«Ich verstehe.»
«Sie kommen ganz nach Ihrem Vater. Ich erinnere mich an die guten Zeiten, die ich mit ihm, dem erfolgreichen Rechtsanwalt, auf dem Tennisplatz verbracht habe. Die Hartnäckigkeit haben Sie von ihm geerbt, das Aussehen von Ihrer Mutter. Sie war eine bildschöne Frau, leider ist sie viel zu früh von uns gegangen – ganz wie meine Frau Marie.»
«Ihre Frau habe ich immer bewundert. Und sie war eine vorzügliche Köchin.»
«Ich habe sie geliebt, meine Marie. Sie hätte gewollt, dass Sie die Wahrheit finden.»
«Wenn es Ihr innigster Wunsch ist, werde ich es zumindest versuchen. Aber Sie - Sie kennen doch die Wahrheit oder wenigstens einen Teil davon? Geben Sie mir wenigstens einige Anhaltspunkte!»
«Ich kann nichts weiter dazu sagen.»
«Wenig Informationsgehalt, um ein Verbrechen aufzuklären. Gibt es eine Leiche?»
«Ja, ein Mensch ist tot.»
Sein Zustand verschlechterte sich, Dr. Wiederkehr hatte kaum mehr Kraft zu sprechen. Augenblicklich wurde Carla Fuchs klar, dass sie nur noch wenig Zeit mit ihm hatte.
«Wenn die Wahrheit bedeutet, dass Sie wirklich einen Menschen getötet haben und ein Geständnis ablegen möchten, dann wäre dies ein Fall für die Polizei. Sie wissen, ich bin Detektivin.»
«Ich hätte Sie nicht rufen lassen, wenn ich an Ihnen gezweifelt hätte.»
Carla Fuchs wurde nicht schlau aus ihm. Wenn Dr. Wiederkehr tatsächlich einen Menschen umgebracht hatte – warum hatte er sie rufen lassen? Er hatte ohnehin keine Strafe mehr zu befürchten. Weshalb machte er Andeutungen und sprach in Rätseln anstatt ihr die volle Wahrheit zu erzählen? Der einzige Hinweis war die Leiche. Doch auch diese müsste sich erst einmal finden lassen.
Ein ungeheurer Verdacht überkam sie plötzlich, als in ihr der Gedanke an Dr. Wiederkehrs Enkelin auftauchte: vor langer Zeit war sie ins Gerede gekommen - er wollte ihr doch nicht etwa mitteilen, dass er Lynn getötet und jahrelang geschwiegen hatte? Als Lynn verschwunden war, vor zehn Jahren, hatte er schwer gelitten. Genauer genommen war Dr. Wiederkehr nie darüber hinweg gekommen. Der Fall der vermissten Lynn - der bildschönen Lynn, die bis zur Heirat hatte Jungfrau bleiben wollen - hatte die Kleinstadt in Atem gehalten. Die Anteilnahme am Schicksal der Familie war gross gewesen. Emotionale Unterstützung aus der Gesellschaft, Worte der Hoffnung, versuchten die Wiederkehrs über den Verlust hinweg zu trösten. Lynn war nie mehr aufgetaucht, weder lebendig noch tot.
Carla Fuchs musste Dr. Wiederkehr fragen: «Geht es um Lynn? Ist es ihre Leiche, von der Sie sprachen?»
Dr. Wiederkehr wurde noch fahler im Gesicht und sein Mund zitterte, so dass er sich nur mit Mühe artikulieren konnte: «Frau Fuchs, ich ertrage das nicht länger. Eher sterbe ich! Ich allein bin verantwortlich, dass sie umgebracht wurde. Ich bin ein Mörder.»
Fuchs fühlte, wie sehr ihm Lynn noch immer am Herzen lag und verstummte. Von Verarbeitung war nicht die Rede, die Wunde in seiner Seele war nicht verheilt. Was war sein Auftrag: sollte sie die Leiche von Lynn finden? Zahlte er ihr deswegen so viel Geld? Ihr schauderte.
«Aus Ihren Andeutungen schliesse ich, dass Lynn tot ist. Es würde mir helfen, wenn Sie mir sagen könnten, auf welchem Fleckchen dieser Erde ich mit der Suche nach der Leiche beginnen soll!»
«Nahe den Feldern und Wiesen, vor dem zweiten Wald. Wasser zerstörte alles.» Es klang, als redete er im Schlaf.
Kalter Regen prasselte an die Scheiben, der Wind schlug ans nass-graue Fenster. Durch den Raum strich ein lauer Luftzug. Der seltsame Geruch war ihr zuvor nicht aufgefallen. Es roch so eigenartig, faul und moderig – es roch nach Tod. Es war an der Zeit für Fuchs zu gehen. Sie schnappte sich den Umschlag mit den vielen Geldscheinen und steckte ihn sorgfältig in ihre Handtasche. Noch einmal blickte sie zurück, direkt in die Augen von Dr. Wiederkehr. Er bewegte die Lippen: «Lieblich schaut er aus, verwegen, Dornen vor dem Haus wachsen stark bis zum Dach. Unten, da wo es dunkel ist. Meine Schuld.»
Spät war es geworden. Zuhause angekommen, legte Carla Fuchs eilig Mantel und Tasche ab, kramte den Briefumschlag hervor und legte ihn auf den Salontisch. Erst einmal musste sie sich ein Glas Wein gönnen. Sie wippte eine Weile im Schaukelstuhl hin und her und begann, ihre Gedanken zu sortieren. Die Worte Dr. Wiederkehrs liessen ihr keine Ruhe. Sie konnte es einfach nicht einordnen, dass ein Mensch wie er jemanden getötet haben sollte, doch wiederum glaubte sie ihm, dass es eine Leiche gab. Sie fragte sich, ob sie das Geld nicht Dr. Wiederkehr zurückbringen sollte, anstatt sich mit seinen Problemen herumzuschlagen; er würde das Resultat ihrer Arbeit - sollte sie überhaupt ans Ziel kommen - kaum erleben. Doch sie würde nicht nur ihn, sondern auch ihren Vater enttäuschen.
«Na gut, zu verlieren gibt es nichts und wenn das Geld schon mal da ist, will es auch verdient sein.»
Der Kampfgeist in ihr war geweckt. Generell pflegte sie zu sagen, dass es kein Problem gab, das nicht lösbar war, wenn alle Seiten an einer Lösung interessiert waren. «Er erwähnte, es gehe um Gerechtigkeit, um Lügen, die Leben zerstört hätten. Er wünschte, dass ich die Wahrheit ans Licht bringe. Genau das werde ich versuchen.»
Die Detektivin war sicher, dass Gerechtigkeit und Lügen in Zusammenhang mit der spurlos verschwundenen Enkelin Lynn standen. Die Leiche hingegen, von der er gesprochen hatte – sollte es tatsächlich die Leiche von Lynn sein? Die Detektivin beschloss der guten Ordnung halber, am nächsten Morgen die Kollegen von der Kriminalpolizei zu informieren. Normalerweise trat sie zwar mit Fakten an die Kollegen heran und nicht mit diffusen Aussagen eines sterbenskranken Mannes.
Ein drittes Glas Wein und Fuchs stand bereits mitten in ihrem neuen Fall, mehr denn je bestrebt, die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Rätselhaft waren die letzten Worte von Dr. Wiederkehr: war es eine Landschaft, die er in seinem Dämmerzustand beschrieben hatte?
Sie überlegte, doch sie kam und kam nicht vom Fleck. Bilder von Wäldern und Wiesen, Fuchs war müde, sehr müde. Das Wasser überflutete alles und Carla Fuchs glitt in den Schlaf.