Читать книгу BIZARR - Sharon Lee - Страница 5
Leiche im Beton
Оглавление«Sie lassen sich doch nicht etwa von den Aussagen eines senilen Mannes leiten?»
Verwundert empfing der Dorfpolizist die Detektivin in seinem Büro. Ihr Überraschungsbesuch in Ehren, doch das, was sie ihm eben erzählte, machte für ihn überhaupt keinen Sinn. Markus Pfiffner war grob geschätzt halb so alt wie Carla Fuchs. Sein Vater hatte ihm gelegentlich von ihren erfolgreich gelösten Fällen vorgeschwärmt, die sie üblicherweise mit Unterstützung der Kollegen der Kantonspolizei klärte. Nun da Pfiffner sie endlich einmal persönlich traf, musste er sich eingestehen: Er hatte sie sich ganz anders vorgestellt.
«Dr. Wiederkehr behauptete, dass es eine Leiche gäbe. Ich bin mir sicher, er sprach von seiner Enkelin Lynn.»
«Scherzen Sie? Doch nicht etwa … Lynn Wiederkehr?! Das kann ich kaum glauben. Lynn ist vor zehn Jahren spurlos verschwunden. Wäre es ein Einfaches gewesen, sie wiederzufinden, wäre dies längst geschehen.»
«Trotzdem sollten wir diesen neuen Hinweis ernst nehmen. Ich habe gehofft, Sie würden das unterstützen.»
«Verzeihen Sie, dass ich die Erfolgsaussichten in Frage stelle. Wir haben vor zehn Jahren jeden Stein in Bünzigen umgedreht. Unter keinem lag Lynn.»
Dann besann er sich: «Na gut, wenn es sein muss, Frau Fuchs, werde ich Sie begleiten. Wo genau soll die Leiche liegen?»
«So genau weiss ich das nicht. Dr. Wiederkehr sprach in Rätseln – er war ziemlich verwirrt. Wir sollen diesen Ort suchen: nahe den Feldern und Wiesen, vor dem zweiten Wald. Wasser zerstörte alles.»
Pfiffner prustete laut heraus und meinte zynisch: «Gratuliere! Das ist ein hervorragender Hinweis! Zum Rätselraten schlage ich vor: suchen Sie eine Wahrsagerin auf! Wenn Sie Lynns Leiche nach dieser vagen Beschreibung finden wollen, wird es nach meinem Ermessen schwierig. Diese Naturbeschreibung passt in jeden der sechsundzwanzig Kantone der Schweiz. Ob die Leiche in Bünzigen, in der weiteren Umgebung oder gar im Ausland zu finden ist, hat Dr. Wiederkehr nicht zufällig erwähnt?»
So wenig es sich Pfiffner vorstellen konnte, dass sie aufgrund einer solchen Beschreibung eine Leiche finden würden - Fuchs vertraute ihrem guten Riecher und war überzeugt, mindestens einen Hinweis auf Lynn zu entdecken. Sie hatte es Dr. Wiederkehr versprochen. Und wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, wurde das mit aller Konsequenz durchgezogen.
«Hat er nicht, aber ich sehe auch nicht ein, weshalb wir beim weitest entfernten Ausgangspunkt beginnen sollten.»
«Mit dieser Beschreibung sehe ich die Suche als reine Verschwendung von Zeit an. Ich habe Wichtigeres zu tun.»
«Na ja, da bin ich mir nicht so sicher. Ich jedenfalls werde den Hinweis verfolgen. Zu einem Medium kann ich später immer noch gehen. Aber ich wäre sehr froh, wenn auch Sie die Sache ernst nehmen würden. Ich brauche Ihre Unterstützung!»
«Nun….» So sehr sich Pfiffner auch bemühte – von Ernsthaftigkeit war nicht die Rede. Dennoch rang er sich durch, immerhin gab es in der Landgemeinde nicht allzu viel Brisantes zu tun für den Dorfpolizisten.
«Okay, okay. Lassen Sie uns mittels Computer die möglichen Fundorte einkreisen. Schauen Sie auf diese Map und zeigen Sie mir, wo es im Kanton Aargau Felder, Wiesen…?» Er konnte das Grinsen nicht verkneifen. «Vielleicht springt uns da was ins Auge?»
«Gewöhnungsbedürftig für eine alte Dame wie mich. Ich brauche keine derartige Map. Verbrechen habe ich stets ohne elektronische Unterstützung aufgeklärt. Ich weiss, ich bin schrecklich unmodern, aber: Haben Sie eine Karte auf Papier – bitte mit grossem Massstab.»
Pfiffner runzelte die Stirn, als er bemerkte, dass es der Detektivin ernst war. Er kramte in der untersten Schublade, fand schliesslich eine Karte der Umgebung – Bezirk Bremgarten - und gab sie der Detektivin.
Carla Fuchs überflog die Karte mit höchster Konzentration, es war, als wüsste sie genau, wonach sie suchen müsste. Ihr Ausgangsort war Bünzigen. Hier hatte Lynn gelebt und sich bewegt. Ihr Blick glitt auf einen grösseren Ausschnitt von Bünzigen in Richtung Schloss Hallwyl und kreiste anschliessend über ein Gebiet mit Feldern und Wiesen, bis sie sich auf eine Stelle fixierte. Mit dem Zeigefinger stiess sie wie ein Falke blitzschnell auf die Karte hinunter: Sie tippte einen Punkt an, etwa zwanzig Kilometer östlich vom Dorfkern. «Das ist der Beweis! Dr. Wiederkehr hat nicht fantasiert – er wollte mir einen Hinweis auf die Leiche geben. Jetzt sehen Sie doch hin!»
«Was soll hier sein?»
«Sind Sie wirklich so naiv? Das Moor hat in den 30er Jahren manches Tierleben geschluckt. In der Gegend gab es früher Überschwemmungen. Und hier – das Haus …»
«Verstehen Sie mich nicht falsch, worauf ich hinaus will: Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass die Leiche von Lynn hier liegen soll?»
«Dr. Wiederkehr sagte etwas wie nahe den Feldern und Wiesen, vor dem zweiten Wald. Wasser zerstörte alles.»
«Die Gegend ist sumpfig. Bei starken Regenfällen gab es auch schon Überschwemmungen. Von daher könnte es hinkommen.»
«Unmittelbar nach diesem Haus beginnt ein Waldstück. Vom Dorf aus gesehen ist es die zweite grössere Waldfläche.»
«Vielleicht war Dr. Wiederkehr mehr bei Sinnen, als ich im ersten Moment dachte.»
Pfiffner checkte blitzschnell sämtliche Verzeichnisse, die ihm als Polizist zur Verfügung standen.
«Ich finde keinen Eintrag – auch nicht im Telefonbuch. Warten Sie – ich setze mich mit dem Grundbuchamt in Verbindung, um den Besitzer des Hauses in Erfahrung zu bringen.»
Kurz darauf wurde die Vorahnung der Detektivin bestätigt: das Haus gehörte Dr. Emil Wiederkehr.
Eine Stunde später.
«Lieblich schaut er aus, verwegen, Dornen vor dem Haus wachsen stark bis zum Dach … »
«Bitte?» Pfiffner drehte sich irritiert zur Detektivin um.
«Die letzten Worte von Dr. Wiederkehr.»
Die beiden standen vor der breit angelegten Einfahrt der Villa. Die Spitzen des schmiedeeisernen Tores waren vergoldet, den rechten Flügel zierte ein auffälliges Wappen, das ein Lamm zeigte. Kein Name stand unter der Klingel, niemand meldete sich. Doch das Tor war unverschlossen.
«Verwegen trifft es vollumfänglich», kommentierte Pfiffner den Wildwuchs trocken.
«Alles mit Unkraut überwachsen – der Garten wirkt mehr als vernachlässigt, seine Schönheit ist komplett verdeckt. Sehen Sie, die Buchshecken sind seit Jahren nicht mehr geschnitten worden.»
«In gepflegtem Zustand wären Haus und Garten ein Traum.»
«Der Garten ist Ausdruck der Seele. Daran gemessen muss etwas Schlimmes geschehen sein. Die Hausfassade ist von Hagenbutten regelrecht zugewachsen, überall Dornen bis hoch zum Dach. Ich erkenne den Ort, den Dr. Wiederkehr beschrieben hat.»
«Ja, vielleicht.» Pfiffner zögerte erst und meinte dann: «Schauen wir uns im Haus um.»
Mühelos knackte er das Türschloss. Kurz darauf standen die beiden in der kalten Eingangshalle. Wände und Decke waren von Spinnweben eingekleidet, überall lag Staub und die vertrockneten Pflanzen waren längst tot. Das Innenleben der Villa hinterliess einen rundum traurigen Eindruck. Auch die gerahmten Fotos an den Wänden waren verstaubt. Carla Fuchs erkannte Dr. Wiederkehr beim Angeln, auf einem anderen Bild war er mit seiner Frau Marie im gepflegten Garten zu sehen. Sie sassen an einem verschnörkelten weissen Gartentisch, umgeben von prachtvollen Blumen. Die beiden waren jung. Glücklich sahen sie aus.
Fuchs und Pfiffner schauten sich weiter um. Eine Holztreppe führte nach oben, eine andere nach unten. Carla Fuchs strich sich ihr Deux-Pièce glatt, wie sie es gerne tat, wenn sie ihre Gedanken ordnete. «Unten, da wo es dunkel ist … Das deutet auf den Keller hin.»
Die Treppe ins Untergeschoss knarrte bei jedem Schritt. Es wurde düsterer, Fuchs konnte kaum mehr ihren eigenen Arm erkennen. Sie tasteten sich durch das Dunkel, indem sie mit den Händen der Wand entlang glitten. Die Treppenstufen waren unregelmässig ausgetreten, und ein Geländer wäre kein Luxus gewesen. Sie waren erleichtert, als sie schliesslich unten angelangt waren, in einer Art Vorraum, der wohl gleichzeitig als Abstellkammer diente. Jedenfalls war nur ein kleiner Durchgang frei und Fuchs stiess trotz aller Vorsicht erst an einen Tisch, nachher kollidierte sie mit einem Stuhl. Doch weiter vorne drang unten am Boden ein Lichtschimmer durch: endlich ein Fenster, Licht! Die beiden sahen sich um.
Der Raum war leer - bis auf eine Wanne und zwei leere Holzgestelle.
«Wir sind umsonst hierhergefahren.» Pfiffner hatte genug von der Exkursion ins Niemandsland, genug davon, in fremde Häuser einzubrechen und es war ihm egal, was die Detektivin davon hielt.
Eine Leiche gab es hier nicht, fertig.
«Lassen Sie mich nachdenken. Die Leiche muss irgendwo auf diesem Grundstück sein. Ich kann den Tod riechen.»
«Was immer Sie riechen wollen – hier ist Ihr Riecher definitiv auf dem Holzweg. Ich habe Ihnen von Anfang an gesagt, dass es eine Schnapsidee ist, hier nach Lynn oder sonst einer Leiche zu suchen.»
Fuchs war sich sicher und liess sich auch nicht von einem ungeduldigen Dorfpolizisten von ihrem Vorhaben abbringen. Ihre Augen glitten Zentimeter um Zentimeter über die beiden Holzgestelle. Pfiffner dagegen setzte sich betont desinteressiert auf den Wannenrand. Die Wanne war mit Beton gefüllt, blödsinnig schien ihm das, wenn er daran dachte, wie der inzwischen harte Beton einst mühsam herbeigeschafft worden sein musste. Er überlegte, was die Wiederkehrs damit vorgehabt haben mochten, er vermutete, dass daraus ein Kellerboden hätte entstehen sollen. Oder so.
Sekunden vergingen, die sich wie Minuten anfühlten. Bei Pfiffner breitete sich die Langeweile aus; bei Fuchs hingegen war es die Anspannung und die liess sie nicht aufgeben.
Wieder startete der Polizist einen Versuch: «Frau Fuchs, die Leiche von Lynn ist nicht hier. Dr. Wiederkehr hat Sie an der Nase herumgeführt.»
«Um mich an der Nase herumzuführen, lässt er ganz schön viel Geld springen! Nein, das glaube ich nicht.»
«Vielleicht; Sie könnten sich aber auch im Ort geirrt haben. Wie können Sie so sicher sein, dass wir uns hier in der Landschaft befinden, die er beschrieben hat? Und dass es dazu noch diejenige ist, wo Lynns Leiche liegt?»
Darauf antwortete Fuchs nicht. Seine Einwände empfand sie als störend. Ihre Augen suchten nun stattdessen jeden Zentimeter des Bodens ab. Ein Papierstück lag in einer Plastikschale gleich neben der Türe hinter Pfiffner. Fuchs hob das Papier auf und erkannte, dass es ein zusammengefaltetes, vergilbtes Stück einer Zeitung war.
«Ein Stück Zeitung, muss eine ältere sein. Schauen Sie mal – meine Augen sind nicht mehr die besten – bei so wenig Licht schon gar nicht.»
«Es ist eine Zeitung vom 17. November 2000. Ich werde verrückt: das ist das Jahr, in dem Lynn verschwunden ist!»
Während Pfiffner auf das Papier starrte, ging Fuchs unruhig im Raum auf und ab. Abrupt blieb sie vor der Wanne stehen. Lynn war hier in diesem Raum, Fuchs war sich ganz sicher.
«Pfiffner, sagen Sie, würden Sie es für möglich halten, dass Lynn in dieser Betonwanne begraben liegt?»
«Spinnen Sie jetzt völlig?»
«Überlegen Sie. Weswegen soll jemand eine Wanne in einen Keller bringen und sie mit Beton auffüllen? Das macht doch überhaupt keinen Sinn!»
«Genau das habe ich vorhin auch gedacht.»
«Können Sie den Beton aufschlagen?»
«Nein, wie auch?»
Millimeter für Millimeter untersuchten sie die Oberfläche des Betons.
«Verdammt, wir brauchen mehr Licht!» Pfiffner nervte sich über sein Unvermögen, die Details genau erkennen zu können.
«Pfiffner, schauen Sie mal, schauen Sie diese Struktur an… diese Rundung hier, das ist nicht einfach nur Beton. Sie halten mich für bescheuert, ich weiss, aber ich bin überzeugt: Da wurde jemand begraben.»
«Wer legt schon eine Leiche in eine Wanne und füllt diese mit Beton? Aber gut, wenn es unbedingt sein muss, rufe ich Verstärkung. Ich werde mich lächerlich machen, aber was bleibt mir anderes übrig?»
Es dauerte keine halbe Stunde bis die Spurensicherung vor Ort war, doch sie konnten nur wenige Erkenntnisse gewinnen.
«Wir müssen den Beton aufweichen. Dann werden wir Gewissheit haben, ob sich tatsächlich eine Leiche darin befindet. Es könnte sich bei dieser Rundung hier wirklich um Knochen handeln.»
Als die Wanne schliesslich abtransportiert wurde, merkte Fuchs, wie sehr sie die Exkursion angestrengt hatte. Pfiffner bot ihr an, sie nach Hause zu fahren. Auch er war sichtlich bewegt von den Ereignissen.
«Ich habe so meine Zweifel, dass die Spurensicherung eine Leiche aus dem Beton graben wird.»
«Wir werden bald Gewissheit haben», gab ihm Fuchs müde zur Antwort.
«Dann wäre es Dr. Wiederkehr gewesen, der seine Enkelin getötet und in einer Betonwanne verschwinden lassen hat.»
«Seien Sie sich mal nicht so sicher. Warten wir die Ergebnisse ab.»
Einige Stunden später.
«Gut, dass ich Sie erreiche, Frau Fuchs. Sie hatten recht!»
Die Untersuchungsergebnisse waren eingetroffen und Pfiffner hatte die Detektivin aufs Kommissariat eingeladen, um sie zu informieren - soweit dies mit der Geheimhaltungspflicht vereinbar war.
Tatsächlich hatten die Ermittler eine Leiche – vielmehr Skeletteile, diese dafür vollständig – aus dem Beton herauslösen können. Obwohl die Obduktion noch nicht abgeschlossen war, gab es aufschlussreiche Erkenntnisse. Die Beweismittel würden derzeit von der Gerichtsmedizin genauer untersucht. Gesichert war nur, dass es sich bei der Leiche um eine weibliche handelte. Obwohl noch einige chemische und toxikologische Untersuchungen ausstanden, deutete alles darauf hin, dass die Frau erstochen worden war. Mord also. Selbstmord hatten sie ausgeschlossen, zumal Selbstmord durch Erstechen zu den selteneren Vorfällen gehörte. Vor allem aber, da ein Stich die Frau von hinten getroffen hatte. Stiche fanden sich ausserdem am Hals. Das Messer musste scharf geschliffen gewesen sein, die Halswirbel wie der Brustkorb zeigten Schnittverletzungen auf. Die Frau war mit höchster Wahrscheinlichkeit verblutet.
«Was wissen Sie über die Identität der Frau – konnten die Rechtsmediziner Angaben dazu machen?»
«Darauf wollte ich soeben zu sprechen kommen. Die Trinkwanne entpuppte sich als kleine Schatztruhe. Im Beton wurde einiges an Schmuck sicher gestellt – das Gold muss ein Vermögen wert sein. Die Tote hatte um den Hals eine Goldkette mit Anhänger getragen. Auf dem Anhänger war ein Name eingeritzt. Und nun raten Sie mal, was das für ein Name war!»
«Lynn?»