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Im Zweifelsfalle schuldig

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«Wir haben Lynn Wiederkehrs Leiche gefunden – einbetoniert in einer Wanne, wie man sie von einer Kuhweide her kennt. Und auch das ist kaum zu fassen: der Mörder ist der bekannte Immobilien-Unternehmer Dr. Emil Wiederkehr.»

Die brisante Nachricht über den Fund der Leiche von Lynn Wiederkehr verbreitete sich in Windeseile. Pfiffner erzählte es jedem stolz und bekräftigte in einer Selbstverständlichkeit, beim Leichenfund an vorderster Front dabei gewesen zu sein. Ungeklärt sei nur, ob Lynn Wiederkehr lebendig oder tot im Beton begraben worden sei. Weder für Pfiffner noch für seine Kollegen bestand der geringste Zweifel, dass Dr. Wiederkehr der Mörder seiner Enkelin war. Die Kollegen klopften ihm auf die Schulter. Heute war ein guter Tag. Ehre, wem Ehre gebührt. Pfiffner hörte die Worte des Lobes in seinen Ohren klingen. Die erfolgreiche Polizeiarbeit würde in aller Munde sein.

«Nur noch das offizielles Geständnis von Dr. Wiederkehr und dann können wir die Akte Lynn schliessen.»

«Bin schon auf dem Weg ins Krankenhaus!», hörten die Kollegen Pfiffner noch rufen.

Als Dorfpolizist von Bünzigen war er bisher nie mit einem Mordfall in Berührung gekommen. Zum einen, weil in seiner Amtszeit keiner auf unnatürliche Weise ums Leben gekommen war und zum anderen wäre die Aufklärung von Tötungsdelikten dann Sache der Mordkommission in Aarau gewesen. Natürlich hatte er diese sofort über die Ergebnisse des Labors informiert, bei allem Stolz, Pflicht war Pflicht. Da war er korrekt.

«Benachrichtigen Sie die Eltern von Lynn Wiederkehr, das ist Ihr Fall!»

Pfiffner genoss das hart erkämpfte Vertrauen seines Vorgesetzten. Lange war er bei der Verkehrspolizei gewesen und hatte nichts anderes zu tun gehabt, als Bussen zu verteilen. Nicht, dass es ihm Freude bereitet hätte – es war einfach seine Aufgabe gewesen. Später folgten Jahre an Schreibtischarbeit. Viel los war in der ländlichen Gegend um Bünzigen nicht. Gelegentlich hatte er mit Einbrechern zu tun oder musste wegen Lärmstörungen oder Ehestreitigkeiten ausrücken. Der Fall Lynn Wiederkehr war etwas Besonderes – es war sein Fall. Schon als kleiner Junge hatte er davon geträumt, einen Mordfall aufzuklären und damit in die Fussstapfen seines Vaters zu treten.

Markus Pfiffner war gerade dabei, in den Polizeiwagen zu steigen, als Carla Fuchs ihn auf seinem Mobiltelefon anrief.

«Ich bin in Eile, Frau Fuchs – um was geht’s?»

«Dann will ich Sie mal nicht aufhalten. Ich dachte nur, es könnte Sie interessieren …»

«Später gerne. Jetzt muss ich schleunigst zu Dr. Wiederkehr.»

«Wenn das so ist, brauchen Sie sich nicht zu beeilen. Er wird Ihnen nichts mehr erzählen können. Dr. Wiederkehr ist vorletzte Nacht verstorben.»

«Shit, was ist passiert? Das offizielle Geständnis – Sie wissen schon», stockte Pfiffner ratlos.

«Wie mir die Krankenschwester erklärt hat, sei er friedlich eingeschlafen. Mehr durfte sie mir nicht sagen – ausser, dass der Sohn von Dr. Wiederkehr bereits informiert wurde.»

Am liebsten hätte Pfiffner mit seinem Fuss kräftig gegen das Hinterrad getreten. Stattdessen ballte er die Faust und riss sich zusammen: «Da kann man nichts machen, danke für die Information. Trotzdem, shit!»

«Es bleibt uns nichts anderes übrig, als den vollständigen Bericht der Untersuchung abzuwarten und zu hoffen, dass er Hinweise auf den Mörder von Lynn gibt.»

«Ja», bemerkte Pfiffner geistesabwesend. Shit, er war so nahe dran gewesen. Er hätte auf Fuchs hören und gleich nachdem sie ihm vom Geständnis erzählt hatte, zu Wiederkehr ins Krankenhaus fahren sollen. Dann hätte er das Geständnis jetzt bereits im Sack - oder genauer: auf Papier. Aber nein, er hatte es besser wissen wollen. Pfiffner ärgerte sich über sich selbst.

«Okay, Plan B: ich fahre zu den Eltern. Jemand sollte Sie wohl oder übel noch über den Tod der Tochter informieren.»

«Tun Sie das. Und richten Sie bitte Konstantin das Beileid auch von meiner Seite her aus – er wird sich an mich erinnern.»

«Konstantin?»

«Der Vater von Lynn. Doch das ist eine andere Geschichte. Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Mich interessiert die alte Akte von Lynn. Vielleicht entdecke ich dort doch noch etwas, das nun – in einem anderen Licht gesehen – eine Bedeutung hat und uns Aufschluss geben kann.»

«Sie wissen genau, dass ich Ihnen die Akte nicht aushändigen darf. Wozu auch? Dr. Wiederkehr hat den Mord an seiner Enkelin gestanden – oder habe ich mich etwa verhört?»

«Nein. Was die Akte anbetrifft: selbstverständlich bin ich über die gesetzlichen Vorschriften orientiert. Darf ich Ihnen aber etwas in Erinnerung rufen? Ohne mein Zutun würden Sie heute noch nach der vermissten Lynn suchen. Es wäre nicht nur nett, wenn Sie mir diesen Gefallen erweisen würden – vielmehr könnte es für Sie hilfreich sein, um den Mord aufzuklären. Und zum Zweiten erinnere ich Sie an die Unschuldsvermutung: Solange keine ausreichenden Beweise auf dem Tisch liegen, gilt Dr. Wiederkehr als unschuldig.»

«Ist ein Geständnis nicht Beweis genug?»

«Ein Geständnis, das keines war. Er wäre nicht der Erste, der einen Mord gesteht, den er nicht begangen hat.»

«Sie sind unglaublich stur! Ganz, wie Sie wollen – für mich ist der Fall geklärt.»

Ein Lächeln huschte Fuchs übers Gesicht. Pfiffner war ein Typ der korrekten Sorte, manchmal etwas begriffsstutzig, doch nicht minder ehrgeizig und bestrebt. Er gehörte zu den Menschen, die stets die Dinge unter Kontrolle haben wollten, und wehe, diese drohte ihm zu entgleiten. Besser, man war dann nicht in seiner Nähe. Im entfernten Sinne hatte er eine gewisse Ähnlichkeit mit Konstantin Wiederkehr. Nur das Konstantin älter war und um einiges rationaler.

Konstantin war Kopfmensch durch und durch. Er hatte bereits im Alter von sechzehn Jahren sein Leben verplant gehabt: Abitur, Studium, Firma des Vaters übernehmen, Heirat und so weiter. Sein Lebensplan liess kaum Spielraum für Unvorhersehbares. So viele Menschen, so unterschiedlich waren die Lebenskonzepte. Jedem das seine, dachte sich Fuchs.

In Gedanken nahm sie Abschied von Dr. Wiederkehr, während sie dabei war, das Krankenhaus zu verlassen. Gerne hätte sie ihn noch einmal gesprochen und ihm erzählt, dass sie Lynns Leiche gefunden hatten. Andererseits wusste sie nicht mit Sicherheit, ob ihn diese Information nicht mehr beunruhigt hätte. Sie hatte sich erhofft, dass er ihr von seinem Geheimnis erzählen würde. Dafür war es leider zu spät - es war gekommen, wie es hatte kommen müssen. Dr. Wiederkehr war befreit von den höllischen Schmerzen, von der Schuld, die er sich aufgeladen hatte.

Zurück im Zürcher Oberland in ihrem Heim in Ravensbühl gönnte sich Fuchs wieder ein Glas Spanien, wie sie ihren Lieblingswein nannte. Sie schätzte die rassige Note, die dieser durch den Ausbau im kleinen Eichenfass erhielt. Erinnerungen an ihre letzte Reise kamen in ihr hoch. Wie gerne würde sie wieder einmal ins Rioja-Gebiet reisen, dorthin, wo atlantische und mediterrane Einflüsse verschmolzen. Nächstes Jahr vielleicht, oder übernächstes… Sie ermahnte sich zur Konzentration auf den vorliegenden Fall, die Reiseträume mussten warten. Sie stellte das Weinglas neben den Laptop und begann im Internet nach alten Zeitungsartikeln über das Verschwinden von Lynn zu forschen, die Stunden vergingen dabei wie im Flug. Die Detektivin war zappelig, sie kam und kam nicht zur Ruhe, und war inzwischen beim vierten Glas Spanien angelangt. Irgendwann glitt sie dann doch hinüber ins Land der Träume und schwelgte zwischen Reben und Sonnenschein.

Ein nerviges Klingeln an der Haustüre weckte sie unsanft. Hilfe – sie war nicht etwa vor dem Computer eingenickt? Müde hob sie ihren Kopf von der Tastatur, die leere Flasche Rioja kam ins Blickfeld. «So weit bin ich also schon – wie spät ist es?»

Es war acht Uhr morgens. Nervend energisch klingelte der Postbote erneut an der Haustüre. Verwundert über die wilde Frisur und das zerknitterte Gesicht, streckte er ihr mit einem süffisanten Lächeln einen Brief entgegen.

«Post von der Polizei. Sagen Sie nicht, dass Sie auf Ihre alten Tage die Seite gewechselt haben?», scherzte der Mittvierziger an der Türe.

Fuchs fand seinen Witz alles andere als lustig: «Auf meine alten Tage? Ich habe mich wohl verhört! Danke für den Brief.»

Carla Fuchs knallte ihm ohne ein weiteres Wort die Türe vor der Nase zu. Sie hatte weder Zeit noch Lust sich mit dem Briefboten über ihr Alter zu unterhalten. Aber schön zu erfahren, wie er über sie dachte. Sie musterte den Umschlag. Ihr Gesicht erhellte sich: «Welch eine Überraschung!»

Tatsächlich hatte ihr Pfiffner die Akte von Lynn kopiert und per Eilsendung zugestellt. Neugierig begann sie im Dossier zu blättern.

«Vermisst: Lynn Wiederkehr, 20 Jahre alt.»

Erinnerungen wurden wach, eine Schauer lief ihr über den Rücken. Woher nur nahm sie die Sicherheit, dass Dr. Wiederkehr nicht doch der Mörder war? Im Grunde genommen verliess sie sich lediglich auf ein Gefühl – aber was, wenn dieses sie für einmal trügen würde?

Die Detektivin las weiter.

«Lynn Wiederkehr, geboren am 21.8.1981, wird seit dem 9. Oktober vermisst. Als sie das Elternhaus verliess trug sie enge schwarze Leggings, einen blauen Blazer, darunter ein blau-weiss gestreiftes T-Shirt. Sie hatte eine schwarze Ledertasche mit Ausweis und Geldbörse bei sich. Die Vermisste ist 173 cm gross, hat schwarze lange Haare und blaue Augen.

Sachdienliche Hinweise richte die Bevölkerung an die nächste Polizeistelle. Auf Hinweise, die zu Lynn Wiederkehr führen, wird eine Belohnung von 10‘000 Franken ausgesetzt.»

Zehntausend Franken und keine einzige Fährte – nicht einmal eine falsche. Irgendwie seltsam. Normalerweise gingen bei der Polizei unzählige Hinweise ein, wenn eine Belohnung ausgesetzt wurde.

Wie Fuchs der Akte entnahm, war es Konstantin Wiederkehr, der Vater von Lynn, der im Beisein seiner Frau Amanda Carmen die Vermisstenanzeige aufgegeben hatte. Die Eltern waren davon ausgegangen, dass Lynn abgehauen war. Es fehlten in ihrem Schrank einige Kleidungsstücke und es war aussergewöhnlich, dass die 20-Jährige ihren Reisepass mitgenommen hatte. Man zog in Erwägung, dass Lynn womöglich in die USA gereist war. Oft hatte sie davon gesprochen, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu bereisen.

Ins Dossier eingeheftet fand Fuchs mehrere Zeitungsberichte, mittels denen man nach Lynn gesucht hatte. Interviews mit den vom Kummer gezeichneten Eltern. Die Wiederkehrs bedankten sich in einem der Interviews für die Anteilnahme und die wertvolle Unterstützung der Bevölkerung. Man erhoffte sich Hinweise auf den Verbleib der Tochter. Die bildschöne junge Frau war allseits beliebt gewesen. Auch hätte es keinen Streit gegeben. Man hätte ihr stets ihren Willen gelassen. An einen Selbstmord glaubte niemand.

Die protokollierten Aussagen schossen Carla Fuchs durch den Kopf. Eine gewisse Alexandra Schwarz, im selben Alter wie Lynn, äusserte sich als einzige kritisch gegenüber der Idee, dass Lynn abgehauen sein könnte. Sie war überzeugt, dass Lynn Opfer eines Verbrechens geworden war. Doch dafür gab es nicht die geringsten Anhaltspunkte und selbst ihre Eltern wehrten sich gegen diese Vorstellung. Das war alles, was Fuchs aus den Polizeiakten in Erfahrung bringen konnte.

Zehn Jahre lang war Lynns Verschwinden nicht aufgeklärt worden. Zehn Jahre ohne einen Hinweis waren verstrichen.

Ein vages Geständnis, gefolgt von dem Leichenfund und der Fall sollte plötzlich geklärt sein? Absurd.

«Mich würde interessieren, warum Alexandra Schwarz von einem Verbrechen an Lynn überzeugt war», sagte Fuchs leise vor sich hin. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, Rastlosigkeit hatte sie gepackt.

BIZARR

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