Читать книгу Sein Blick heilt dein Herz - Sheila Serrer - Страница 8
ОглавлениеKapitel 1: Ein Blick zurück
1.1 ... auf meine Vergangenheit
„Weil du teuer bist in meinen Augen und wertvoll bist und ich dich lieb habe, so gebe ich Menschen hin an deiner Stelle und Völkerschaften anstelle deines Lebens“
(Jesaja 43,4; ELB).
Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der Gott keine bedeutende Rolle spielte. Ich glaubte zwar schon immer daran, dass es eine höhere Macht geben und dass irgendjemand diese Welt geschaffen haben musste, doch dass Gott tatsächlich ansprechbar war, ein lebendiges Gegenüber, das mich sah und liebte, daran verschwendete ich keinen Gedanken. Und hätte ich von seiner Liebe mir gegenüber gehört, hätte ich bei alldem, was mir bereits in frühen Jahren zugestoßen war, höchstwahrscheinlich nicht an sie glauben können. Oder wollen.
Unsere Welt dreht sich immer schneller und wir geben allen möglichen Dingen die merkwürdigsten Namen. Wir sind gut darin, „Hashtags“ für jeden Bereich unseres Lebens zu finden. Das hat mich darüber nachdenken lassen, welche Titel oder Tags ich wohl meinem Leben geben würde. Ja, wie würde wohl die Überschrift meines Lebens lauten?
Ich musste an all die Namen denken, dir mir im Laufe meines Lebens schon gegeben wurden, und an all die Rollen, in die ich selbst immer wieder geschlüpft war. Nur einen Titel für mein Leben – nein, den würde ich nicht finden können. Denn da gab es so vieles, was passiert war und mich geprägt hatte. Also bin ich auf folgende Schlagwörter oder „Hashtags“ gekommen: Schon immer ein Sensibelchen. Scheidungskind. Tochter eines Alkoholikers. Heimatlos. Ausgegrenzt. Benutzt. Opfer. Und es sind diese Sätze, die über meinem Leben stehen – oder standen: „Sie wollte alle retten, am liebsten ihren Papa. Aber das schaffte sie nicht. Und daran zerbrach sie.“
All diese dunklen Tage, auf die sich diese Worte beziehen, überschatteten so viele Jahre meines Lebens jede Freude und die vielen, schönen Momente, die ich erlebte – die es natürlich auch gab. Aber die verletzenden Worte und Gedanken saßen tief. Denn Worte können regelrecht zu Flüchen werden und dich genau dann einholen, wenn du wieder gegen sie ankämpfst. Aus Sprüchen werden dann subjektive Wahrheiten, und schmerzhafte Erlebnisse können zu inneren Kriegsschauplätzen werden, auf denen du noch jahrelang Angst hast, ums Leben zu kommen. Denn auch noch nach all den Jahren gibt es Nächte, in denen ich schweißgebadet oder weinend aufwache, weil mich die Erinnerungen aus meiner Vergangenheit wieder einmal im Traum eingeholt haben. Und wenn ich dann nicht aufpasse, ziehe ich doch wieder wie eine kleine Soldatin mit ihrer Rüstung in Kriege, die nie für mich bestimmt waren. Ich bringe mich in emotionale Abgründe, die eigentlich schon lange hinter mir liegen. Doch dann schaue ich wieder auf den, der die folgende Geschichte mit mir schrieb und meine Kämpfe für mich kämpft.
Im Frühling 2019 nahm ich an einem achtwöchigen Bibelschulprogramm der Fackelträger am Tauernhof in Österreich teil. Als ich meinem Bibelschulleiter, David Hines, damals meine Geschichte erzählte, schaute er mich nur stumm an. Er hatte nicht mit dem gerechnet, was er über mich erfuhr. Das geht vielen Menschen so. Denn mittlerweile habe ich mein Lächeln zurück und laufe an den meisten Tagen mit einer fröhlichen Gelassenheit und voller Dankbarkeit durch die Welt. Die vielen Narben auf meinem Körper von den Schnitten, die ich mir als Teenagerin selbst zugefügt hatte, sind noch der einzige sichtbare Beweis dafür, dass da mal etwas anders war. Dass dieses freie Lächeln nicht schon immer da gewesen sein kann.
Schon während sich David damals die Zettel durchlas, auf die ich meine Geschichte so gut ich konnte draufgekritzelt hatte, sah ich, dass ihn das, was er las, nicht kaltließ. Wir hatten zuvor die Aufgabe bekommen, zu Beginn des nächsten Gottesdienstes ein knapp zehnminütiges Zeugnis zu geben, das heißt, davon zu erzählen, was wir mit Gott erlebt hatten oder wie wir zum Glauben gekommen waren. Aber wie sollte ich in zehn Minuten erzählen, wie sehr Gott mich verändert hatte und wie mein Herz an manchen Tagen vor Dankbarkeit fast platzt, weil er mich gefunden hat?
Die Aufgabe stellte für mich ein Ding der Unmöglichkeit dar, weswegen ich David aufgesucht hatte. Ich erinnere mich noch so gut daran, welche gemischten Gefühle in mir hochkamen, während er vor mir saß und eine Seite nach der anderen las. Da war zum einen Scham. Oh, wie gut ich sie kannte! Ich hatte mich so lange für das geschämt, was Menschen mir angetan hatten, und was ich getan hatte. Zum anderen waren da Schuldgefühle. Misstrauen. Angst. All diese Gefühle versuchten sich für einen kurzen Moment einen Weg an die Oberfläche zu bahnen. Situationen wie diese waren immer ein Auslöser für all diese Gefühle gewesen. Aber ich wollte ihnen keinen Raum geben, nicht heute. Und das klappte auch immer besser. Ich hatte über die letzten Monate hinweg einen Weg gefunden, meiner Scham, meinen Verletzungen und meinem Trauma nicht mehr die Führung in meinem Leben zu überlassen. Mein Glaube an den lebendigen Gott war dieser Weg geworden. Denn ich hatte Jesus vor knapp drei Jahren mein Leben gegeben.
„Wow, Sheila“ war schließlich das Erste, was David zu mir sagte. Die meisten reagieren so, wenn ich ihnen das erste Mal von mir erzähle. Was er in diesem Moment dachte, weiß ich bis heute nicht genau. Jedenfalls sagte er dann: „Hätte ich deine Familie und dich kennengelernt, als du fünf Jahre alt warst, hätte ich dich abgeschrieben. Es tut mir leid, das zu sagen, aber bei diesen Bedingungen weiß man, wie die Geschichte oft ausgeht.“ David war vor seiner Zeit als Bibelschulleiter am Tauernhof Polizist gewesen und hatte jahrelang mit Leid und Gewalt in dieser Welt zu tun. Er hatte in dieser Zeit viele Familien kennengelernt und die Grundvoraussetzungen meines Lebens waren denen dieser Familien offensichtlich sehr ähnlich.
Und ehrlich gesagt wäre meine Geschichte auch anders ausgegangen – wären mir die wahre Liebe und unendliche Gnade in der Person von Jesus Christus nicht begegnet. Wir kennen die Geschichten von Mädchen, die, in einem unstabilen Elternhaus aufgewachsen, ihr Herz später an die falschen Dinge und Menschen verlieren, und damit oft auch ihre Würde. Ich war eine von ihnen. Aber ich bin es nicht mehr. Und das habe ich nicht mir selbst zu verdanken.
Oktober 1998
Meine Eltern heirateten früh, und zwei Jahre nach mir erblickte meine Schwester Shirin das Licht der Welt. Damals wohnten wir zu viert in einer kleinen Wohnung. Mein Papa fuhr jeden Tag mit dem Fahrrad zur Arbeit, während meine Mama uns zu Hause hütete. Was ich mittlerweile weiß, aber damals noch nicht mitbekam: Schon zu diesem Zeitpunkt trank mein Papa mehr Alkohol, als es normal war. Er kam regelmäßig mit einem leichten Schwips von der Arbeit und es kam vor, dass er an Wochenenden, an denen ich mit meiner Mama und meiner Schwester meine Großeltern besuchte, freitags von meiner Mutter an einer Gaststätte im Ort abgesetzt wurde und sie erst sonntags wieder verließ.
Doch von alldem bekam ich nichts mit, jahrelang nicht. Entweder verstand ich den Ernst der Lage nicht oder ich ignorierte ihn gekonnt. Schon damals begab sich mein Vater in Therapie, doch die Sucht holte ihn immer wieder ein. Erst Jahre später fanden wir heraus, dass einer der Gründe für die ständigen Rückfälle eine bipolare Störung beziehungsweise eine manische Depression war, an der er litt. Und sowohl jede Hochphase als auch jede Tiefphase brachten ihn zum Trinken.
Doch trotz seiner Alkoholabhängigkeit kümmerte sich mein Vater liebevoll um uns. Vielleicht machte es mir deshalb auch nichts aus, dass er trank. Er liebte mich und meine Schwester. Das wusste ich schon immer, und er hörte nie auf, uns das zu zeigen.
Von klein auf unternahmen mein Papa und ich regelmäßig Spaziergänge in der Natur, während meine Mama und meine kleine Schwester zu Hause auf uns warteten. Erst waren es nur er und ich, doch als meine Schwester älter wurde, wurde die Natur unser dreier Spielplatz. Die Zeit im Wald war zu einem richtigen Ritual geworden, bei dem wir unsere gewohnten Runden drehten, vorbei an Straßenschildern, großen Steinen und hohen Bäumen. Dabei erklärte uns mein Vater geduldig alles, was wir über die Welt wissen mussten. Bis heute weiß ich nicht, wer von uns diese Spaziergänge mehr liebte. Er oder wir Mädchen.
Die Leute sagen immer, ich wäre meinem Papa wie aus dem Gesicht geschnitten. Wir ähneln uns jedoch nicht nur äußerlich, sondern haben auch ein ähnliches Herz. Und unsere Herzen waren (und sind) so stark miteinander verbunden, dass es mich später fast meine eigene Gesundheit und mein Leben kostete. Denn als die dunkle Macht der Sucht immer wieder und mit aller Gewalt versuchte, meinen Papa zu zerstören, zerstörte es später auch zunehmend mich. Doch davon wusste ich als kleines Mädchen natürlich noch nichts. Wir zogen gemeinsam durch die Wälder und aus meinen kleinen Kinderaugen betrachtet war die Welt mit ihrer herrlichen Natur ein heiler Ort.
Kurz nach meinem sechsten Geburtstag zogen wir das zweite von bis heute 15 Malen um, und meine Eltern trennten sich aufgrund des immer exzessiveren Alkoholkonsums meines Vaters und einer anderen Frau in seinem Leben. Wir verließen ihn und das große Haus, in das wir erst vor einem halben Jahr umgezogen waren, und zogen ins Haus meiner Großeltern. Bei ihnen blieb ich dann auch, als meine Mama später für einige Zeit stationär in einer Psychiatrie aufgenommen wurde. Die Jahre im Kampf gegen die Sucht und die Trennung von meinem Vater, hatten sie in schwere Depressionen abrutschen lassen. Einem kleinen Mädchen muss keiner erklären, was eine Depression ist. Wenn du siehst, dass deine Mama nicht mehr aufhören kann zu weinen und nicht mehr aufstehen möchte, dann weißt du genau, was eine Depression ist, ohne den Begriff dafür zu kennen. Meine Schwester Shirin, die zu dieser Zeit erst vier war, wurde zu meiner Tante, die ein paar Dörfer weiter lebte, gebracht, und so erlebte ich das Ende meines letzten Kindergartenjahres ohne meine Eltern und meine Schwester.
Einige Zeit nach der Rückkehr aus der Psychiatrie fanden meine Mama, Shirin und ich dann eine eigene Wohnung im selben Ort, für mich begann die Schule und wir gingen wieder zur Normalität über – oder zu dem, was man als Normalität bezeichnen kann, wenn die Eltern getrennt leben und der eigene Vater mal hier und mal dort ist.
Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich freitags immer erwartungsvoll und glücklich von der Grundschule nach Hause lief, denn wir konnten am Wochenende immer unseren Vater sehen. Ich konnte es nie abwarten, Zeit mit meinem Papa zu verbringen, und vermisste ihn oft.
Als ich schließlich in der dritten Klasse war, hatte mein Vater seine neue Freundin wieder verlassen und versuchte einen Neubeginn mit meiner Mutter. Zwei Jahre war es inzwischen her, dass sich meine Eltern getrennt hatten und dass meine Mama das erste von vielen Malen nicht mehr aufhören konnte zu weinen.
Zum Zeitpunkt des Neubeginns hatte meine Mutter ihre Depression jedoch vorerst bekämpft und mein Papa hatte meine Mama scheinbar wieder lieb und besuchte uns immer öfter. Doch an einem Wochenende, das mir noch sehr deutlich vor Augen steht, sollte es nicht dazu kommen, dass wir Zeit zu viert verbringen würden. Und Situationen wie diese folgende sollten mich mein restliches Leben begleiten und eine tiefe Grube des Misstrauens in mir graben. Als ich an jenem Freitag mit meinem viel zu schweren Ranzen, vollgepackt mit Schulheften, den kleinen Pfad zu unserem Haus lief, kam mir meine Mama schon entgegen. Auch wenn ich noch ein kleines Mädchen war, verstand ich sofort, dass etwas faul war. Mir konnte man nichts mehr vormachen, und der sowieso schon schwere Schulranzen auf meinem Rücken fühlte sich auf einmal noch tausendmal schwerer an.
Als ich meine Mutter erreichte, schaute sie mich mit Tränen in den Augen an und stotterte zögerlich: „Es tut mir leid, aber ich habe deinen Papa weggeschickt, Sheila.“ Sofort ballten sich meine kleinen Hände zu Fäusten. „Nein“, dachte ich. Mein Atem wurde schneller und mein ganzer Körper spannte sich an. „Nein, nein, nein!“ Er durfte uns nicht wieder verlassen. Ich brauchte ihn doch!
„Nachdem er uns so lange hat warten lassen, kam er betrunken mit seinem Rucksack hierher. Es ist das Beste für uns, wenn wir ihn erst einmal eine Weile nicht mehr sehen.“
Sie nahm mich in dem Moment in den Arm, in dem ich in Tränen ausbrach. Ich wusste nicht, wohin mit meiner Wut und meiner Trauer. Und genau diese Gefühle der Hilflosigkeit und des Verlassenwerdens überkamen mich die nächsten Jahre immer und immer wieder. Gefühle der Ohnmacht, die quälende Frage, ob man selbst nicht etwas tun könnte, um die Situation zu verändern, sowie die Angst, einen geliebten Menschen zu verlieren, sind aufgrund von Situationen wie dieser zu meinen täglichen Begleitern geworden.
Als kleines Kind weiß man nicht, auf wen oder was man seine Wut richten soll, und kann einfach nicht verstehen, warum die Welt einem seinen geliebten Vater wegnimmt. Ich erinnere mich daran, dass alles, was ich damals wollte, einfach nur Zeit mit meinem Papa war. Es war mir egal, wenn er trank. Ich wollte ihn lieber betrunken um mich haben, anstatt getrennt von ihm zu sein.
Ich hätte das alles ausgehalten, dachte ich immer. Hauptsache ich wäre in seiner Nähe gewesen. Ich wollte doch einfach nur bei meinem Papa sein.
Ich weinte an jenem Nachmittag noch sehr lange in Mamas Armen. Und wahrscheinlich weinte sie mit.
Einige Monate später zogen wir erneut um, doch dieses Mal ein paar Hundert Kilometer weiter weg. Berlin sollte mein neues Zuhause sein. Meine restliche Grundschulzeit verbrachten wir dort. Meine Mutter hatte einen neuen Mann kennengelernt und mit ihm baute sie sich weit weg von der alten Heimat ein neues Leben auf. Und weil mein Papa in unserer Nähe sein wollte, zog er an die nahe gelegene Ostsee. Inzwischen durften wir uns auch endlich wieder regelmäßig sehen. Er hatte eine lange Therapie hinter sich und trank nicht mehr. Meine Schwester und ich verbrachten viele Wochenenden voller Abenteuer und Freude bei ihm am Meer. Mehrere Sommer verbrachten wir dort am Strand und erlebten ein Abenteuer nach dem anderen mit ihm. Und in all der Zeit fing er nicht wieder an zu trinken.
Er erklärte uns, wie immer, viel über die Natur und die ganze Welt, und vieles von dem, was ich heute weiß, weiß ich, weil er es mir liebevoll erklärte. Für mich und meine Schwester war die Zeit an der Ostsee aufregend und schön. Doch das Ganze bekam auch immer wieder einen bitteren Beigeschmack, wenn wir uns von unserem Papa verabschieden und zu zweit in den Zug nach Hause setzen mussten. Ohne ihn.
Ich weiß noch, wie stolz ich in dieser Zeit auf meinen Vater war, dass ich ihn jahrelang trocken sah. Er war mein Held und eben doch stärker als seine Sucht. Zu dieser Zeit begriff ich auch, dass sein Verhalten nichts mit mir zu tun gehabt hatte. Ich begann seine Alkoholabhängigkeit als eine böse Krankheit zu sehen, die mir meinen Papa immer wieder weggenommen hatte. Doch nun glaubte ich ganz fest daran, dass er nie mehr trinken würde. Ich wusste damals noch nicht, dass der Kampf gegen den Alkohol noch lange nicht gewonnen war. Und dass ich es nicht wusste, war wahrscheinlich auch besser so. Denn die unerschütterliche Liebe, die ich meinem Papa gegenüber empfand, ließ mich nie aufgeben und immer weiter hoffen – auch wenn sie gleichzeitig meine spitzeste Scherbe wurde, an der ich mich später immer wieder schneiden sollte. Doch mit neun Jahren war er für mich einfach nur ein Held. Wir radelten an vielen Wochenenden unbeschwert über den Damm, und ich ahnte nicht, dass die Sucht ihn mir noch viele weitere Male wegnehmen würde. Und ich ahnte auch nicht, dass mir die Welt noch mehr Schmerzen zufügen würde, als es für mein kleines Kinderherz gesund sein würde.
Einige Jahre später kehrten wir nach Süddeutschland zurück. Meine Mama wurde wieder depressiv und verließ ihren Partner. Mein Vater folgte mir und meiner Schwester zurück in den Süden, zog jedoch in ein anderes Bundesland. Nachdem er die vielen Jahre an der Ostsee keinen Alkohol mehr getrunken hatte, holte ihn die Dunkelheit wieder ein, als ich zwölf Jahre alt war. Etwas in mir zerbrach erneut.
In den darauffolgenden Jahren wohnte ich mit meiner Mama und meiner Schwester in einer kleinen Wohnung und meine Mama versuchte zunächst, uns ohne einen Mann an ihrer Seite irgendwie durchzubringen. Doch immer wieder trat ein neuer Mann in ihr Leben, blieb eine Weile bei uns und verließ uns dann wieder. Und ich verlor den Glauben an die echte Liebe, noch bevor ich selbst je einen Mann geliebt hatte.
Zu dieser Zeit durften Shirin und ich in regelmäßigen Abständen über das Wochenende zu meinem Vater fahren. Am Anfang wurden wir noch mit dem Auto zu ihm gebracht, doch irgendwann fuhren wir wieder alle zwei Wochen allein mit dem Zug durch die Gegend. Die Bindung zwischen meiner Schwester und mir vertiefte sich auf den vielen Bahnfahrten ungemein. Sie war für die Unterhaltung zuständig, und ich dafür, dass wir auch dort ankamen, wo wir hinwollten.
An vieles aus dieser Zeit erinnere ich mich nur noch bruchstückartig, aber ich weiß, dass meine Teenagerjahre oft einer Achterbahnfahrt glichen. Es wurde für mich zur Normalität, meinen Papa in der Langzeittherapie zu besuchen. Das ein oder andere Mal klingelte auch die Polizei bei uns, um uns zu fragen, ob wir wüssten, wo sich unser Vater gerade aufhielt. Und weil meine Mutter arbeitete, öffneten Shirin und ich die Haustüre und erklärten, dass wir nicht wüssten, wo er sei.
Er kam und ging: Wie er wollte. Manchmal blieb er nur kurz, manchmal etwas länger. Und weil so vieles um mich herum in meiner Jugend unbeständig war, wuchs höchstwahrscheinlich schon in dieser Zeit die Überzeugung in mir heran, das sinkende Schiff vor dem Untergang bewahren zu müssen.
Als ich dann 16 Jahre alt war, bekam ich die ersten Panikattacken. Ich hatte Angst davor, am Abend die Tür hinter mir zu schließen und mich schlafen zu legen. Der anstrengende Alltag durch die immer wiederkehrenden Diskussionen mit meiner Mutter hatte mich einige Monate zuvor auf die Idee gebracht, nach 15 Jahren das erste Mal zu meinem Vater zu ziehen. Und am Anfang ging auch alles gut. Denn er war – wie viele Male zuvor – gerade wieder trocken.
Wir genossen die Zeit zusammen und das Glück schien auf unserer Seite zu sein. Doch irgendwann kippte die Stimmung und mein Papa begann wieder zu trinken. Und ab diesem Zeitpunkt war nichts mehr wie zuvor. Er schlüpfte wieder in eine komplett andere Rolle und in diesem „Spiel“ vergaß ich irgendwann, wer von uns beiden Täter und wer Opfer war. Mein Verantwortungsbewusstsein für ihn hatte sich noch einmal um ein Vielfaches verstärkt, und brach die letzten gesunden Grenzen zwischen uns endgültig auf. Immer wieder kam es zu schmerzhaften Diskussionen. Ich schüttete heimlich den Alkohol ins Spülbecken oder verschloss die Wohnungstür und wollte meinen Vater so davon abhalten, loszugehen, um sich neuen Alkohol zu besorgen.
Es kam zwar nur sehr selten zu wirklich bedrohlichen Situationen, denn mein Papa wurde zum Glück nie gewalttätig, doch es kam immer wieder zu Momenten, in denen er sich selbst in Lebensgefahr brachte – etwa, wenn er betrunken Auto fuhr. Das alles überforderte mich maßlos.
All die Monate bei ihm verdrehten das Bild, das ich von ihm hatte, immer wieder neu. Er war doch mein Papa und ich liebte ihn, und für mich war er nüchtern nach wie vor einer der größten Helden der Welt. Doch immer, wenn ihn die Dunkelheit wieder einholte, übertrug ich all seinen Schmerz auf mich selbst, wusste nicht mehr, wo hinten und vorne war und verstand meine Gefühle ihm gegenüber selbst nicht mehr. Auch er war nur ein Opfer seiner eigenen Verletzungen, doch gleichzeitig war er auch ein Täter, der für meine Verletzungen verantwortlich war. Ich wusste nicht mehr, was ich fühlen und glauben sollte.
So wurde ich oft wütend und panisch, wenn sich mein Vater vor mir schlafen legte. Aufgebracht versuchte ich, ihm Abend für Abend irgendwie verständlich zu machen, dass ich nicht einfach nur trotzig war und er mich nicht für verrückt halten sollte. Es war doch alles nur wegen dieser wahnsinnigen Angst in mir ... Ich wollte mich nicht schlafen legen, weil ich das Gefühl hatte, dann die Kontrolle zu verlieren. Doch so verzweifelt wie ich war, fand ich selten die richtigen Worte und anstatt meine Hilfeschreie verständlich zu artikulieren, schmiss ich nur mit zornigen Worten um mich. Viele Abende liefen so ab, dass ich vor Angst zu ersticken drohte, während mein Papa sich nur kopfschüttelnd schlafen legte. Ich wollte die Kontrolle nicht abgeben, weil ich Angst hatte, dass ihm oder mir dann etwas Schlimmes passieren könnte. Doch das alles konnte und wollte ich ihm nicht erklären, denn ich wollte nicht, dass er sich schuldig fühlte. Wie sollte ich ihm auch erklären, wie sehr ich ihn liebte und gleichzeitig seine Sucht hasste?
Mittlerweile weiß ich, dass ich schon damals tief in einer sogenannten Co-Abhängigkeit steckte und alles versucht hätte, um meinen Vater zu retten. Eine Co-Abhängigkeit kann leicht bei Angehörigen von Suchtkranken entstehen. Das Leben eines Co-Abhängigen ist ebenfalls von der Sucht überschattet und deshalb eng mit dem Suchtverhalten des Partners oder des Verwandten verstrickt. Dabei entwickeln die Angehörigen des Suchtkrankten ihre eigenen Strategien im Umgang mit der Sucht, die ihnen jedoch letztlich selbst schaden. Dazu gehört zum Beispiel das zwanghafte Kontrollieren des Suchtkranken und die verzweifelten Versuche, ihn mit aller Macht vom Konsum abzuhalten, sowie die großen Bemühungen, das Suchtverhalten des anderen nach außen hin zu verdecken, wodurch sie sich selbst zunehmend in die Bredouille bringen. Das ganze Leben dreht sich nur noch um den Suchtkranken und damit wird der Co-Abhängige zum Mitgefangenen seiner Sucht. Und so auch ich.
„Co-Abhängigkeit hat viele Gesichter. Steht zu Beginn noch im Vordergrund, das Verhalten des Suchtkranken zu entschuldigen und diesen zu beschützen, folgt oft eine Kontrollphase. In dieser versucht der Co-Abhängige, den Kranken am Drogenkonsum oder Suchtverhalten zu hindern – meist erfolglos. Sein Scheitern mündet in Wut oder Resignation und schlägt dann häufig in Schuldzuweisungen, Drohungen und Ablehnung um. Diese einzelnen Phasen können, müssen aber nicht aufeinanderfolgen. Der Co-Abhängige befindet sich in einem zermürbenden Wechselbad aus Liebe und Hoffnung, Enttäuschung, Wut und Abscheu“1, lautet eine offizielle Definition von Co-Abhängigkeit. Und ich kenne jedes einzelne Gefühl davon. Weder Wut und Abscheu sind mir fremd noch bedingungslose Liebe und immer wieder zerstörte Hoffnung. All diese Gefühle prägten meine Kindheit und Jugend.
Vor zwei Jahren fand ich zudem heraus, dass ich von meiner Geburt an hochsensibel bin. Durch diese Erkenntnis wurde mir auch klar, wie intensiv ich all den Schmerz damals regelrecht aufgesogen haben musste, und wie jeder Konflikt, jede Not und jede negative Stimmung mich über alle Maßen fertiggemacht und überfordert hatten. Das Wechselbad der Gefühle in einer Co-Abhängigkeit potenzierte sich bei mir demnach noch und brachte mich an die Grenzen des Erträglichen.
Als ich Jahre später mit meiner Mutter über diese Zeit sprach, erzählte sie mir, dass sie mich damals immer wieder angerufen und mich angefleht hatte, kommen zu dürfen, um mich zu holen. Doch ich habe ihr immer nur gedroht, dass sie keinen Schritt durch die Eingangstür wagen dürfe und ihr energisch versichert, dass ich schon alles im Griff habe.
Wir schaffen das schon!, glaubte ich immer. Und dachte nicht einmal daran, dass es überhaupt nicht meine Aufgabe war, es mit ihm „schaffen“ zu müssen. Mich trieb die unermessliche Hoffnung an, dass mein Vater den Weg raus aus der Sucht finden würde, dass ich nur Geduld haben müsste und ihm meine Hilfe bestimmt guttun würde. Die Liebe ist ewiglich, dachte ich. Und so verwechselte ich Abhängigkeit mit Liebe. Die Grenzen zwischen Fürsorge und totaler Aufopferung, Mitleid und Wut verschwammen immer mehr und die Auswirkungen dieser gefährlichen Co-Abhängigkeit sollten noch jahrelang mein ganzes Denken und Fühlen prägen. Nicht einmal im Traum dachte ich damals daran, dass mir später echte Liebe begegnen und Gott mir zeigen würde, was „die Liebe ist ewiglich“ wirklich bedeutet.
Mein Verantwortungsbewusstsein für meinen Vater vermischte sich mit dem Druck, mir nur nichts anmerken lassen zu dürfen. Zu Hause ging ich durch die Hölle, doch in der Schule setzte ich mein schönstes Lächeln auf. Und in alldem glaubte ich an Eines ganz fest: Mein Papa würde wieder gesund werden! Er hatte schließlich auch immer wieder gute Tage, die mich darin bestärkten, dass es das Richtige war, bei ihm zu bleiben. Doch meine innere Taubheit, das Gefühl der völligen Machtlosigkeit und die vielen Ängste in mir sorgten dafür, dass ich in der zehnten Klasse die Schule immer seltener besuchte. Wie ich dennoch einen guten Realschulabschluss schaffte, ohne viel am Unterricht teilgenommen zu haben, gleicht für mich heute einem Wunder. Denn mein emotionaler Zustand verschlechterte sich immer mehr.
Wie viele andere Jugendliche in meinem Ort, schlich ich mich am Wochenende auf Partys, trank Alkohol und küsste verschiedene Jungs. Immer und immer wieder schaffte ich es so, den Schein einer normalen Jugendlichen zu wahren und mich von den Dramen zuhause abzulenken.
Eigentlich ist es verrückt, dass ich trotz alldem, was der Alkohol in meinem Leben bis zu diesem Zeitpunkt schon angerichtet hatte, selbst zur Flasche griff. Natürlich trank ich nicht so exzessiv wie mein Vater, aber ich trank aus schlechten Motiven heraus und manchmal auch tatsächlich zu viel. Auch wenn der Konsum von Alkohol in Deutschland legal ist, ist das Konsumverhalten so vieler Menschen extrem gefährlich.
Mit meinen Freundinnen sprach ich weder darüber, dass ich zu Hause regelmäßig die Weinflaschen meines Vaters ausleerte, noch darüber, dass ich im Internet immer häufiger gemobbt wurde. Denn zu all den Kämpfen mit meinem Vater kam in dieser Zeit noch erschwerend hinzu, dass mir über Monate hinweg online gedroht wurde, dass ich mir die schlimmsten Schimpfwörter, die man einer Frau geben kann, anhören musste, und dass mir sogar vorgeschlagen wurde, auf welche Art und Weise ich mir das Leben nehmen könnte. Schlimmer noch: Mir wurde sogar angeboten, dass man es, wenn ich es selbst nicht schaffen würde, auch gern für mich übernehmen könnte.
Bis heute weiß ich nicht, wer mir anonym all diese schrecklichen Nachrichten geschickt hat. Meine Scham darüber war zu groß, um den Fall zu melden oder auch nur meinen Eltern davon zu erzählen. Dass ich tatsächlich nicht irgendwann einen der Vorschläge annahm und mir etwas antat, gleicht für mich einem weiteren Wunder.
Doch irgendwann hielt ich den ganzen seelischen Schmerz nicht länger aus, weshalb ich mit 17 Jahren damit begann, mich selbst zu verletzen. Es folgten Monate, in denen ich mir erst nur ein wenig am Unterarm, doch irgendwann auch an den Beinen, Oberarmen und am Bauch mit einer Rasierklinge Schnitte zufügte. Der Schmerz schenkte mir für einige Sekunden Erlösung, bevor er sich in ein furchtbares Brennen verwandelte und ich versuchen musste, irgendwie die Blutung zu stoppen.
Was für ein schreckliches Chaos in einem Menschen vor sich geht, damit er zu so einer Tat fähig ist, darf einfach nicht kleingeredet oder gar ins Lächerliche gezogen werden. Es sind reine Taten der Verzweiflung und stumme Schreie der Hilflosigkeit.
An so vielen Abenden war die Klinge auf meiner Haut meine letzte Rettung, wenn ich es einfach nicht mehr aushielt, die Kontrolle zunehmend zu verlieren. Die ständige Angst, dass mein Papa wieder anfangen könnte zu trinken und dass meine Mama ihr Herz wieder an die Dunkelheit verlieren und in eine Depression abrutschen könnte, brachte mich innerlich schier um. Es fühlte sich an, als schleuderte mir mein Leben die angesammelte Angst und Verzweiflung der letzten 17 Jahre mit voller Wucht ins Gesicht. Und ich war zu schwach, um zu kämpfen. Ich war es leid. Ich konnte und wollte einfach nicht mehr kämpfen.
Die Dunkelheit meiner Vergangenheit und die Angst vor der Zukunft fühlten sich wesentlich bedrohlicher an als der Gang hinab in einen kalten, stockdunklen Keller, und der Schmerz in meinem Herzen war stärker als jede äußerliche Verletzung, die ich mir jemals zugezogen hatte. Das Einzige, was diesen Schmerz kurzzeitig lindern konnte, waren die Klingen auf meiner Haut und das beruhigende Gefühl, das sich einstellte, wenn ich die Schmerzen endlich wieder unter Kontrolle halten konnte.
Zum Glück entdeckten meine Eltern eines Tages meine vernarbten Arme und ich wurde zu einem Psychologen geschickt. Er konnte mir jedoch mit einer wöchentlichen Sitzung nicht wirklich helfen, deshalb landete ich für einige Zeit auf der geschlossenen Station einer Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dort diagnostizierten sie mir eine Persönlichkeitsstörung und eine mittelschwere Depression.
Danach verschrieb mir mein Hausarzt an meinem 18. Geburtstag Antidepressiva. So feierte ich an meinem 18. keine fette Party, sondern schluckte meine erste Pille. Ich will diese Entscheidung der Ärzte nicht verurteilen, denn sie war wichtig und wahrscheinlich auch notwendig. Denn nach dieser Zeit verletzte ich mich nie mehr wie zuvor, auch wenn mein selbstdestruktives Denken und Verhalten nicht völlig aus meinem Leben verschwand.
Die nächsten Monate fühlten sich wie ein Doppelleben an. Zu Hause gab es gute und schlechte Tage mit meinem Vater, in mir verdrängten die Arzneimittel jedoch meine Angst und von außen holte ich mir die Bestätigung von meinen Freunden und verschiedenen Typen, in die ich mich nacheinander verliebte. Es wurde normal für mich, an den Wochenenden exzessiv zu feiern, mich mit meinen Mädels schön zu machen und dann in die nächste Party zu stürzen.
Wenn ich jetzt an diese Zeit denke, tue ich mir einfach nur unbeschreiblich leid – vor allem, wenn ich mich daran erinnere, wie verzweifelt ich in den verschiedenen Augen der jungen Männer nach Hoffnung, Annahme und Liebe suchte. Von außen betrachtet wirkte ich wahrscheinlich wie eine normale junge Frau, die ihren eigenen Weg sucht. Ich tat das, was alle um mich herum taten. Denn wenn es nichts gibt, was einem noch Hoffnung geben kann, und man keine Garantie dafür hat, dass alles wieder gut wird, ist man eben auf sich allein gestellt – und tut all diese Dinge, um sich irgendwie lebendig und gehalten zu fühlen. Und wenn man nicht an einen Gott glaubt, der einen liebt und auffängt, und wenn unsere Sünden nicht aus der Perspektive Ewigkeit betrachtet werden, spielt dann ein ausschweifendes Leben überhaupt eine Rolle? Für mich jedenfalls nicht. Ich wollte nichts von Gott wissen und suchte woanders nach Liebe und Halt.
Mit 19 Jahren glaubte ich schließlich, in einem Hotel in Spanien die Liebe meines Lebens gefunden zu haben. Und vielleicht wäre Felix2 das auch gewesen, hätte das Leben anders gespielt. Wäre ich vorher nicht schon gebrochen worden und ein emotionales Wrack gewesen. Und hätte er später nicht still und heimlich immer mehr gekifft. Doch als er damals in Spanien meinen Arm, der wirklich von Narben übersät war, in seine Hände nahm und eine Narbe nach der anderen küsste, schenkte ich ihm mein Herz. Konnte er vielleicht wiedergutmachen, was mir widerfahren war?
Wir verliebten uns schnell ineinander und zogen nach nur wenigen Monaten Beziehung zusammen. Ich steckte all meine Träume und Sehnsüchte in diesen Menschen, verlor mich selbst in unserer Liebe und rutschte so von der einen Abhängigkeit in die nächste.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich ständig versucht, das Leben meiner Eltern zu verändern und fühlte mich bisweilen sogar wie die Leibwächterin meines Vaters. Dadurch hatte sich die Lüge in mir festgesetzt, verantwortlich für die Menschen um mich herum zu sein. Ich glaubte, dass es meine Aufgabe war, meine Mitmenschen zu retten und sie vor jedem drohenden Unglück zu bewahren. Und das ganze Szenario aus meiner Vergangenheit spielte sich, wenn auch in harmloserer Form, ein weiteres Mal in der Beziehung mit Felix ab.
Mit 20 Jahren passierte dann etwas, das im Nachhinein betrachtet die Spitze des riesigen Eisbergs war, und verborgen unter der Wasseroberfläche staute sich die Last und der Schmerz der ganzen vorherigen Jahre.
Es war Juni und in Schwäbisch Gmünd, der Stadt, in der mein Freund und ich mittlerweile wohnten, fand eine große Veranstaltung statt. Auf den Plätzen und in den Gassen der Altstadt tummelten sich viele Menschen. Auf einem Platz war eine große Arena aufgebaut. Voller Begeisterung setzten wir uns in die Reihen der Arena, in der in wenigen Minuten eine Artistenshow beginnen sollte. Wir hatten sogar Plätze in der ersten Reihe ergattert. Ich erinnere mich noch daran, wie fröhlich und aufgedreht ich war. Ich war nun schon seit fast zwei Jahren wieder von den Tabletten weg, die meine wechselnden Launen und depressiven Verstimmungen hatten eindämmen sollen. Nach nur wenigen Monaten hatte ich sie aufgrund von schlimmen Halluzinationen und noch heftigeren Stimmungsschwankungen sowie einem zwischenzeitlich einsetzenden ekligen Gefühl der völligen Gefühlstaubheit wieder abgesetzt. Trotzdem hatte ich mich nicht mehr selbst verletzt, doch mit der Angst bekam ich es immer noch regelmäßig zu tun. Sie war mein ständiger Begleiter – immer dann, wenn ich das Gefühl hatte, die Kontrolle zu verlieren. Tief in mir hoffte ich jedoch, dass die Zeit schon alle Wunden heilen würde.
Schließlich ging die Artistenshow los und völlig fasziniert sah ich den Männern auf der Bühne zu, die ihre Kunststücke vorführten und mich damit kurzzeitig in eine andere Welt entführten. Ich war glücklich, denn ich war abgelenkt. Und ich glaubte fest daran, in diesem Sommer endlich die Kurve kriegen zu können und den sehnlichst erwarteten Wendepunkt in meiner Geschichte zu erleben. Der kam zwar tatsächlich einige Monate später, aber überwältigend anders als gedacht.
Als die Artisten irgendwann eine Freiwillige aus dem Publikum suchten, steuerte der Leiter der jungen Männer direkt auf mich zu. Nickend lächelte mich mein Freund an, und so folgte ich dem Mann aufgeregt auf die Bühne. Hätte ich geahnt, was danach passieren würde, hätte ich mich lieber an meinen Stuhl gefesselt.
Die Artisten begannen, mit brennenden Fackeln um mich herum zu jonglieren und irgendwann auch mit Messern. Doch davor hatte ich keine Angst. Nicht vor so etwas. Dann änderte sich innerhalb von Sekunden die Lage. Der Show schauten mittlerweile mehrere Hundert Leute zu, als einer der Männer damit anfing, ganz offensichtlich meine Brust zu berühren. Ich erstarrte zu Eis. Das war bestimmt nur ein Scherz oder ein Versehen, dachte ich mir. Ich weiß noch, wie ich zögernd ins Publikum schaute und einfach nur hoffte, dass ich die Einzige war, die es bemerkt hatte. Und offensichtlich schien tatsächlich niemand etwas gesehen zu haben. Gut.
Die Show wurde lauter und aufregender und die vier Männer führten wilde Kunststücke vor, während ich weiterhin lächelte, mitspielte und gleichzeitig stumm und Hilfe suchend die Reihen im Publikum nach meiner Begleitung absuchte. Schauspielern konnte ich mittlerweile … Doch plötzlich begann einer der Männer meinen Arm bis zur Hand herab zu küssen. Ich spürte seinen feuchten Mund auf meiner Haut und in diesem Moment zerbrach etwas in mir in tausend Stücke. Ich wusste sofort: Das ist nicht richtig. Aber die Stimme in meinem Kopf war lauter als alle anderen und redete mir ein: Setze deine Maske auf, du bist doch so gut darin! Spiele einfach mit und lass dir nichts anmerken. Du willst doch niemanden in Verlegenheit bringen. Und so versuchte ich die Männer, die mir an diesem Nachmittag meine Ehre raubten, sogar noch zu schützen. Doch wie sich seine feuchten Lippen auf meinem Arm anfühlten, kann ich bis heute nicht vergessen.
Bis heute reagiere ich äußerst empfindlich darauf, wenn ich, ohne dass ich darauf eingestellt bin, von Menschen angefasst werde. Selbst bei Berührungen von meiner eigenen Mutter, mit denen ich in dem Moment nicht gerechnet habe, schrecke ich automatisch zurück. Immer wieder werde ich in diese Situation zurückversetzt und an all die Male erinnert, in denen ich mich irgendeinem Mann hingegeben hatte, der mich nur ausnutzte. Denn in diesen Minuten auf der Bühne waren sämtliche Erinnerungen aus der Vergangenheit wieder auf mich eingeprasselt, und ich fühlte mich einfach nur benutzt und ohnmächtig. Ein weiteres Mal hatte ich es nicht geschafft, einfach nur mit einem Blick voller Liebe und Respekt angesehen zu werden. Die Blicke dieser Männer waren voller Gier. Ich fand mich völlig unvorbereitet in größter Not wieder und niemand sah es.
Den ganzen weiteren Tag lief ich wie mit einem Schleier vor den Augen durch die Welt. Ich erinnere mich nur vage daran, dass ich es meinem vor Wut brodelnden Freund zu verdanken hatte, dass ich die Gruppe junger Männer anzeigte. Ich hatte nicht mehr aufhören können zu weinen und so brachte Felix mich zur Polizeistation. Wie benebelt saß ich im Gesprächszimmer der Station und musste dem Beamten vor mir erzählen, an welchen Stellen mich die verschiedenen Männer berührt und wie sie meinen Arm und meine Finger abgeschleckt hatten.
Die Scham in mir brachte alle anderen Gefühle zum Erstarren. Ich fühlte mich nicht nur emotional in all die Male zurückversetzt, in denen mir ein Mann zu nahe gekommen war, sondern hörte auch diese hässliche Stimme der Verurteilung in mir, die mir einflüsterte, dass ich nichts anderes von meinem Leben zu erwarten und es möglicherweise sogar verdient hatte, so behandelt zu werden. Und diese Stimme sollte mich noch lange verfolgen. Ich ekelte mich selbst an und wollte einfach nur all die Erinnerungen abwaschen, die in meinem Kopf pulsierten.
1.2 … auf mein früheres Selbstbild
Das bin also ich. Jetzt kennst du meine Geschichte. Die Geschichte, die erzählt, was alles passiert war, bevor ich Gott kennenlernte. Die Blicke, unter denen ich all die Jahre zuvor gestanden hatte und die ich mir selbst zuwarf, waren von vielem gekennzeichnet, nur nicht von Wohlwollen. Und ganz bestimmt waren diese Blicke nicht wie die, mit denen Gott einen Menschen anschaut. Wie er mich anschaute. Schon damals.
Du hast davon gelesen, wie die Welt mir Blicke zugeworfen hatte, die sich tief in meine Seele einbrannten und die ganz allmählich mit meinem Blick auf mich selbst verschmolzen. Mich selbst zu verurteilen, zu hassen und mich für meinen Körper und mein ganzes Wesen zu schämen, war für mich die einzig logische Schlussfolgerung nach allem, was passiert war. Und so befand ich mich mit gerade einmal 20 Jahren in einer Wüste, in der jegliches emotionales Neuaufblühen unmöglich schien.
Ich sah mich in dieser Zeit auch nicht als Opfer einer schwierigen Kindheit und von seelischem und körperlichem Missbrauch, sondern als Mittäterin. Das Verantwortungsbewusstsein und die Fürsorge für meine Mitmenschen, die ich mir über all die Jahre antrainiert hatte, verstärkten noch mehr das Gefühl in mir, Schuld an allem zu sein, was mir zugestoßen war. Ich hatte mich schließlich selbst in all diese Situationen gebracht und glaubte deswegen, dass auch nur ich allein alles wieder hinbiegen könnte, was Stück für Stück in mir kaputtgegangen war. Und das war viel.
Damals, als der Übergriff auf der Bühne passierte, war ich eine junge Frau, die völlig orientierungslos nach irgendetwas oder irgendjemandem suchte, der sie aus dieser Wüste, in der sie sich immer weiter verlor, herausführte und befreite. Denn dort, in der Wüste, war ein Überleben nur schwer möglich. So wie es in einer echten Wüste ebenfalls ist: Die Hitze des Tages kann einen Menschen verdursten und die Kälte der Nacht erfrieren lassen. Und genau so fühlte ich mich: irgendwo zwischen Verdursten und Erfrieren. Manchmal fand ich zwar eine kleine Oase, in der ich Schutz und Erholung fand, doch wie eine Flüchtige blieb ich nicht lange an so einem Ort, und schon bald wurde der heiße Wüstensand wieder zu meinem Zuhause. So fühlte ich mich – knapp zwei Monate, bevor ich Gott kennenlernte. Und zwar das erste Mal so richtig.
Auch die Worte, mit denen ich zu Beginn des Buches mein Leben beschrieben habe, zeugen davon, wie gebrochen ich mich selbst einmal sah. Kannst du dich an sie erinnern?
Schon immer ein Sensibelchen. Scheidungskind. Tochter eines Alkoholikers. Heimatlos. Ausgegrenzt. Benutzt. Opfer.
All diese Worte haben eins gemein: Sie beschreiben, was andere aus mir machten. Und sie zeigen, wie düster und ängstlich der Blick war, den ich mir selbst zuwarf. Meine Vergangenheit hatte zu Scham und Selbstverachtung geführt und ich wusste, es würde mich viel Anstrengung kosten, diese Aussagen über mich und mein Leben in etwas Schönes zu verwandeln.
An dieser Stelle will ich dich ermutigen, dir selbst einmal zu überlegen, welche Blicke du bisher auf dir aushalten musstest. Ähneln sie den Blicken, die mir zugeworfen wurden? Manchmal muss man dazu auch mehr tun, als nur an der Oberfläche zu kratzen, und Gott bitten, die Türen zum eigenen Herzen zu öffnen, die vielleicht noch verschlossen sind. Mir ging es lange so, dass ich mich mit dem Leben abgefunden hatte, das ich führte. Ja, ich versuchte, mich einfach damit abzufinden, dass ich gebrochen war und dass manche Dinge sich eben nicht mehr ändern ließen. Ich kannte noch keinen Gott, dem nichts unmöglich ist. Vielleicht kennst du diesen Gott schon, aber hast trotzdem Gedanken wie „Hier ist sowieso kein Ausweg mehr möglich, also gebe ich mir gar nicht erst die Mühe, Gott zu bitten, mein Herz zu verändern“. Unsere Augen können so getrübt sein, dass nichts von Gottes heilendem Licht in uns dringen kann. Also versuchte ich nach diesem Vorfall einfach weiterzumachen und zur Normalität zurückzukehren.
Auf eine oberflächliche Art und Weise war ich all die Jahre über glücklich gewesen, doch unter dieser Oberfläche herrschten Zwänge und Ängste, die immer wieder aus mir herausbrachen. Ich fühlte mich damals zwar von meinem langjährigen Freund geliebt, doch auch diese Liebe war geprägt von Misstrauen, gegenseitigen Verletzungen und einer ungesunden Abhängigkeit.
Die Beziehung zu meinen Eltern schien zu diesem Zeitpunkt auf den ersten Blick auch „normal“ – zwar nicht so rosig wie die Beziehungen in anderen Familien, aber doch irgendwie normal für heutige Verhältnisse.
Ohne die Hoffnung auf einen liebenden und souveränen Gott hatte ich ohnehin keine andere Wahl, als das Beste aus dem zu machen, was mir widerfahren war. Eltern trennen sich. Menschen mobben sich und bringen sich gedanklich fast um. Und Sexualität wird so gelebt, wie jeder Einzelne es will. Ein Übergriff hier, einer dort. Ja, nach den Maßstäben dieser Welt war das Leben, das ich damals führte, normal. Und selbst, wenn ich es hätte ändern wollen, wie hätte das gehen sollen?
Die Wüste, in der ich mich befand, war nun einmal das, wofür ich bestimmt war. Und so mühte ich mich immer weiter ab und ohne es zu wissen, lief ich so direkt in Gottes Arme! Und ohne es zu wissen, waren diese starken Arme schon lange ganz weit geöffnet und bereit, mich in Empfang zu nehmen …
1 Christiane Fux: Co-Abhängigkeit: Tipps für Angehörige. 21.10.19, netdoktor, https://www.netdoktor.de/krankheiten/sucht/co-abhaengigkeit/, aufgerufen am 28.09.20
2 Name geändert, um seine Anonymität zu bewahren.