Читать книгу Mellow Tior - Shey Koon - Страница 4
Der fliegende Brief
ОглавлениеDa gab es auf der Erde tatsächlich jemanden, der felsenfest daran glaubte, dass dies der Wahrheit entsprach. Mellow Tior, ein lebhafter Junge von elf Jahren mit silbernen Haaren, die so unbeschreiblich hell waren, dass sich der volle Mond und die glitzernden Sterne darin spiegelten, wünschte sich nichts sehnlicher, als eben diese Sternschnuppen zu erblicken. Entdeckte er sie, wenn sie wie glühende Perlen am nächtlichen Himmel erschienen, hüpfte ihm jedes Mal sein kleines Herz vor Freude. Nach solch einem Spektakel schlief Mellow vor lauter Aufregung die ganze Nacht nicht ein. Auch in jener schicksalhaften Nacht blickte er gebannt mit seinen großen bernsteinfarbenen Augen aus dem Fenster in die überwältigenden Weiten des Alls. Er versuchte verträumt nach dem stillen Feuerwerk zu greifen und fing für einen kurzen Moment den Zauber des Universums ein. Verzaubert kaute er am Ende des leuchtenden Stiftes, tüftelte weiter an seinem Brief. Mellow schrieb seit einer beträchtlichen Zeit an dem schimmernden Schreiben, und es war endlich der Zeitpunkt gekommen, an dem er die letzte Zeile verfasste. Er überprüfte das Schriftstück nochmals sorgfältig, obwohl er es bestimmt schon hunderte Male gelesen hatte. Stolz fügte er zum Abschluss seinen Namen hinzu.
„Mellow Tior“
Kurz bevor die warmen Sonnenstrahlen zusammen mit den zwitschernden Vögeln den Morgen begrüßten, fielen ihm vor Müdigkeit die schläfrigen Augen zu. Orangefarbenes Licht färbte gemächlich sein Zimmer, das vollgestopft war mit den vielen bunten Spielzeugraketen und maßstabsgetreuen Modellen von Raumfähren. Allerlei wissenschaftliche Bücher, zu unordentlichen Stapeln aufgetürmt, ragten bis unter die Decke. Dazwischen verteilten sich wild verstreut die verschiedensten Sternenkarten und farbigen Fotos von weit entfernten Planeten und aufregenden Galaxien. Ein weißer Astronautenanzug baumelte neben der Zimmertüre, mit dem er anfangs, als er ihn geschenkt bekommen hatte, wochenlang herumgelaufen war. Der Astronautenhelm zierte den flauschigen Kopf eines neongrünen Stofftieres namens Albo, der in der linken Ecke des Zimmers saß. Albo, der Außerirdische, war Mellows stiller Freund, und er spendete ihm in der Nacht Trost vor seinen Alpträumen, die ihn regelmäßig heimsuchten. In der rechten Ecke des Zimmers stand die Sparbüchse, ein gelber Kristallglobus, darin bewahrte Mellow sein gesamtes Taschengeld auf. Davon wollte er sich eines Tages ein riesiges Teleskop kaufen, mit dem er bis ans Ende des Universums blicken konnte. Nichts wünschte er sich sehnlicher. Während er schlief, öffnete sich die Türe einen schmalen Spalt, und seine Großmutter Aurilia schlich ins Zimmer. Sie war schon sehr, sehr alt, so alt wie das Universum selbst, auch wenn ihr Aussehen eher dem einer lebensfrohen 40-jährigen glich. Aurilia tapste mit ihrem schlanken Körper geschickt um all die angehäuften Dinge herum, setzte sich zum träumenden Mellow ans Bett. Goldgelbe Locken fielen ihr über die Schultern und umrahmten ihr anmutiges Antlitz. Sie lächelte voller Freude als sie Mellow zufrieden schlummern sah. Behutsam legte sie den glimmenden Stift und das Briefpapier zu Boden, nahm sanft die Hand ihres Enkels, und während sie ihn betrachtete, streichelte sie zärtlich über sein silbriges Haar, das für einen flüchtigen Moment aufleuchtete.
„Na, wieder die ganze Nacht den Sternschnuppen nachgejagt?“
Mellow blieb stumm, denn er war bereits selig in das Land der Träume abgetaucht. Aurilia beugte sich über ihn und küsste seine Stirn. Kurzzeitig blitzte es in ihrem Augenwinkel auf. Prüfend wandte sie ihren Blick in den Himmel, der sein schönstes Morgenblau auftrug. Sie bemerkte die vielen funkelnden Sternschnuppen, die seltsamerweise auch am Tage zu sehen waren. Das war eine seltene und ungewöhnliche Erscheinung und rief schmerzliche Erinnerungen in ihr wach.
„Er ist frei!“, stellte sie entsetzt fest. „Jetzt schon? Weit vor seiner Zeit.“, flüsterte Aurilia.
Schlagartig war ihr bewusst, dass für Mellow nun eine schicksalhafte Wendung angebrochen war. Er befand sich in großer Gefahr. Der ahnungslose Junge schmiegte derweil sein Gesicht in den weichen, mit silbernen Engeln bestickten Kissenbezug. Geräuschlos verließ Aurilia das Zimmer. „Wie kann das sein? Unmöglich. Das darf nicht sein.“, stammelte sie fassungslos. Sie huschte eiligst in den ersten Stock des Hauses. Ständig drehte sich dabei nach allen Seiten um, vergewisserte sich, dass sie nicht verfolgt wurde. Aurilia strich mit ihren Fingerspitzen über die lange Wand, solange bis die gesamte Seite im glühenden Licht erstrahlte. Nochmals suchte sie prüfend ihre Umgebung ab, bevor sie hinter dem » Tor des Moooo « verschwand. Mellow hingegen träumte längst, dass er an einen weiten goldenen See mit einer spiegelglatten Oberfläche stand. Das gegenüberliegende Ufer war für ihn nur an den strahlend bunten Farben zu erkennen, die verlockend zu ihm herüber blitzen. Der stille See glitzerte im gleißenden Glanz des Goldes und blendete ihn so stark, dass er gezwungen war, seine Augen soweit zuzukneifen, bis er nur noch durch einen schmalen Schlitz hindurch blinzeln konnte. Er verharrte, ließ seinen Blick geduldig über den geruhsamen See schweifen. Er war nicht zum ersten Mal an diesem geheimnisvollen Ort. In seinen Träumen hatte er schon etliche Male diese Stelle besucht, nämlich immer dann, wenn er zuvor die fallenden Sternschnuppen am Himmel bewundert hatte. Sobald er all seine Aufmerksamkeit bündelte, nahm er ein Flirren wahr, das blitzartig über den See dahinglitt. Schemenhafte Figuren tanzten gleichsam wie eine gespenstische Fata Morgana über das Gold. Sogar an seiner Haut spürte er das Vorbeihuschen der schleierhaften Wesen. Eine kleine Ewigkeit könnte er hier verbringen, wenn ihn nicht die Realität wieder einholen würde.
„Tok, tok, tok.“ Großmutter Auri, wie er sie auch liebevoll nannte, klopfte an die Zimmertüre.
„Komm frühstücken du Schlafmütze! Los, beeile dich! Der Tag ist noch frisch und der Kakao warm.“
Mellow zog sich widerwillig die Bettdecke über den Kopf und lugte müde hervor. Jedoch, Aurilia blieb hartnäckig.
„Komm schon du Träumer, steh endlich auf!“
Mühselig schlupfte Mellow unter der warmen Decke hervor, zog sich seine himmelblauen Pantoffeln an, und schlurfte nach nebenan, in die Küche. Der Geruch von gebratenen Kartoffelecken drang ihm in die Nase und sofort lief ihm das Wasser im Mund zusammen, was er auch sogleich ausposaunte. Denn das war nun einmal seine Lieblingsspeise. Davon bekam er nie, nie, niemals genug. Blitzartig erwachten seine Lebensgeister. Mit einem langen Satz hüpfte er auf den langbeinigen Hocker am Küchentisch, direkt neben dem Herd, griff gierig nach der Gabel und klopfte ungeduldig gegen den gähnend leeren Teller. Aurilia wuschelte Mellow über das silberne Haar, das abermals für einen kurzen Moment aufleuchtete. Mellow schüttelte sich, zupfte sich seine silberne Strähne aus der Stirn.
„Großmutter Auri, 97 Schnupps habe ich heute Nacht gezählt. So
viele hatte ich bisher noch nie gesehen.“
Nachdem er einen kräftigen Schluck süßlichen Kakaos getrunken hatte, wischte er sich mit dem Handrücken den Mund ab.
„Zumindest nicht in einer Nacht.“
„Ja Mellow, das ist ziemlich selten, aber nicht ungewöhnlich. Kein Grund sich zu Sorgen.“
Aurilia kehrte ihm den Rücken zu, atmete schwermütig und zog ihre linke Augenbraue hoch, während sie die brutzelnden Kartoffelecken auf den Teller drapierte. Mellow verputzte hungrig die erste Portion. Aurilia füllte den Teller abermals.
„Poch, Poch, Poch.“ Laut klopfte es an die Fensterscheibe. Minja, ein pummeliges Mädchen mit nussbraunem kurzem Haar spähte herein. Sie war um einiges größer als Mellow, sah in ihren Bewegungen dennoch unbeholfen und tollpatschig aus.
„Mmmmh, das riecht lecker. Da läuft mir ja das Wasser im Mund zusammen!“, rief Minja aufgeregt in die Küche.
Aurilia forderte sie mit einem Schmunzeln auf, einzutreten.
„Das hatte ich eben schon einmal gehört.“
Minja, die gerne reichlich aß, ließ sich nicht zweimal bitten und flitzte eiligst herbei.
„Morgen Mellow, du Schlafmütze. Noch nicht lange wach, oder?“
Mit einem Schulterklopfen begrüßte sie ihren besten Freund,
nahm am schmalen Küchentisch Platz, und Aurilia brachte ihr einen Teller und das Besteck.
„Du hast bestimmt großen Hunger.“
Mit einem erheiterten Blick musterte Aurilia Mellows Freundin.
„Du bist ja schon wieder um einiges gewachsen.“ Minja nickte lächelnd, kniff wohlwollend in ihren fülligen Bauchspeck und stibitzte Mellows Teller. Minja durfte das. Sie kannten sich schon seit der frühesten Zeit im Sandkasten. Unzählige Abenteuer hatten sie erlebt und waren Freunde fürs Leben geworden. Minja schmatze laut, leckte sich wie eine verfressene Katze die Lippen. Aurilia reichte eine weitere Pfanne knusprig Gebratenes zu ihnen herüber, mit dem Ergebnis, dass sich die beiden maßlos überfraßen. Nach dem ausgiebigen Festmahl fläzten sie sich mit ihren kugelrunden Bäuchen auf den Hockern und grienten zufrieden.
„Na, was stellt ihr heute an?“, fragte Aurilia interessiert nach, wohlwissend, dass beide eh nur ihre Schultern zuckten, einen ahnungslosen Blick aufsetzten und sich schnellstens aus dem Haus trollten.
„Minja, komm mit mir! Wir holen uns die goldene Farbe und ein paar Pinsel.“ Er lotste Minja rüber zur Garage, überreichte ihr den vorbereiteten Beutel und schnappte sich den schweren Werkzeugkasten. Sie konnten es kaum mehr erwarten.
Unweit des Dorfes Nuckelon, in dem Mellow und Minja aufwuchsen, befand sich ein Abenteuerspielplatz. Schon seit etlichen Generationen spielten hier die kleinen Buben und Mädchen aus dem nahen Dorf. Die Kinder buddelten mit ihren Spielzeugschaufeln im Sandkasten, rutschten belustigt auf der blauen Rutsche hinunter oder kletterten mutig, wie die kleinen Äffchen, auf den Klettergerüsten. Mellow und Minja hatten tags zuvor, ganz in der Nähe, durch einen glücklichen Zufall während des Ballspielens einen Unterschlupf gefunden. Es war allem Anschein nach, ein ehemaliger Lagerraum für die Dorfbewohner gewesen, der aber längst in Vergessenheit geraten war. Mellow hatte sich auf der Jagd nach dem Ball in das dichte Gestrüpp gezwängt und dabei die moosbesetzte Türe bemerkt. Die klebrigen Spinnenweben verliehen dem Eingang ein düsteres Aussehen, doch ihre Neugierde besiegte die Furcht. Mit aller Kraft hatten sie solange an der Türe gerüttelt, bis sie endlich offenstand. Wie die Detektive schlichen sie jede einzelne Stufe des schmalen Ganges hinunter und verschwanden in einem verstaubten Kellerraum. Jedoch, sie fanden einzig und allein zwei morsche Hochbetten und ein Dutzend klapprige Stühle vor. Für Minja war es augenblicklich klar gewesen, hier wünschte sie sich häuslich einzurichten. Sie wohnte zwar bei ihrem Onkel Klaus, der aber beruflich, oft für viele Wochen am Stück, auf Reisen war. Er beriet namhafte Firmen beim Verkauf von Spielzeug. Sie hatten beschlossen den Kellerraum zu ihrem geheimen Unterschlupf umzubauen und gemütlich einzurichten. Zuallererst reparierten sie eifrig die instabilen Hochbetten, schraubten und hämmerten, verpassten ihnen mit goldener Farbe einen glänzenden Anstrich. Mit dem Werkeln waren sie bis in die Nacht hinein beschäftigt, doch sowie die Dunkelheit hereinbrach, trugen sie die alten Stühle aus dem neuen Quartier und verteilten diese wahllos im gesamten Dorf. Es war die einfachste Art alles Unbrauchbare schnellstens loszuwerden. Bei Minja standen zuhause im Keller zwei königsblaue Ohrensessel, die sie sich fraglos einverleibten, und eine blaue Ledercouch, die vorzüglich in ihr Versteck passen würde. Sie holten den hölzernen Transportwagen aus der Garage von Onkel Klaus und im Schutz der funkelnden Sterne transportierten sie die Möbelstücke zu ihrem neuen Schlupfloch. Auf diese Weise schleppten sie nach und nach tatkräftig alle nur erdenklichen Gegenstände an, und gestalteten einen ansehnlichen Rückzugsort. Mellow stiftete seine goldbeschlagene, tibetanische Truhe, ein Geschenk von seiner Großmutter, als er geboren worden war. Wahrlich, die Stunden verflogen im Fluge. Als ihr Werk endlich vollendet war, standen sie erschöpft aber zufrieden vor dem Gestrüpp, hielten sich lachend ihre Hände und tanzten vor Freude im Kreis. Sie waren nun Besitzer eines geheimen Wohnorts. Was sie jetzt noch unbedingt benötigten, war ein fantasievoller Name, und so nannten sie ihr ausgewähltes Heim begeistert „Wolke 7“.
Bereits am nächsten Tag, nachdem sie sich von der Anstrengung erholt hatten, trafen sie sich, wie besprochen, pünktlich zur Mittagszeit in ihrer Wolke.
„Mellow, hast du die Messer dabei?“, fragte Minja aufgeregt.
„Ja, klar.“, antwortete Mellow nur knapp. Er zückte zwei scharfe Messer aus seinem Beutel und reichte Minja eines hin.
„Hier nimm! Ich hoffe es klappt damit.“
Mellow breitete ein Zeichenblatt aus. Es war eine handgezeichnete Anleitung für den Bau von Pfeilen.
„Ist einfach. Schau, kein großes Hexenwerk. Das bekommen wir locker hin. Und ich brauche nur ein paar.“, ermutige Mellow seine Freundin.
Minja setzte sich auf die Couch, packte reichlich Schokolade auf dem kreisrunden Tisch und probierte das scharfe Werkzeug sofort an den fingerdicken Holzruten aus. Sie schälte behutsam die Rinde vom Holz, naschte nebenher von der Süßigkeit, während Mellow in der verzierten Truhe herumwühlte. Er zog freudestrahlend eine Tüte hervor, die bis oben hin mit bunten Federn aufgefüllt war.
„Die habe ich vor etlicher Zeit im Park gesammelt. Wenn wir sie hinten an den Stöcken ankleben, dann fliegen sie besser. Wie in den Indianerfilmen. Du weißt schon.“
Stolz zeigte er eine lange grünglänzende Feder seines quakenden Freundes, denn er regelmäßig am Entenweiher besuchte.
„Die habe ich von BigBlu. Ein zutrauliches Kerlchen.“
Außerdem überreichte er Minja einen starkhaftenden Kleber und entnahm zwei Bögen, womit sie emsig das Zielen auf die Blechdosen geübt hatten. Die alten Pfeile waren dadurch ziemlich verschließen und taugten nur noch für die Müllhalde. Sein Plan war es, seinen Brief unbedingt am kommenden Wochenende in die Wolken zu schießen. Es gab also keine Zeit zu verlieren und so waren beide eifrig bis in den späten Abend mit dem Anfertigen der Pfeile beschäftigt. Erst als sie die Federn allesamt verklebt hatten, bewunderten sie ihr Ergebnis und begaben sich zufrieden auf den Nachhauseweg.
„Wo kommt ihr so spät noch her?“, fragte Aurilia wie gewohnt nach.
Mellow sprang aufgedreht durch die Türe, rannte ungestüm auf
seine Großmutter zu und drückte ihr einen dicken Schmatz auf die Wange. Er blickte verstohlen zu Minja.
„Großmutter Auri, du bist noch wach?“, fragte er gespielt nach. Sie nickte knapp und zwinkerte Minja zu, ganz so, als ob sie genauestens Bescheid wusste. Doch sie konnte nichts wissen. Mellow und Minja hatten sich gegenseitig ein geheiligtes Versprechen gegeben, dass sie Niemanden, aber auch wirklich Niemanden, ganz ohne Ausnahme, von ihrem eingerichteten Keller erzählen würden.
„Ihr habt wohl schon zu Abend gegessen.“, stellte Aurilia amüsiert fest und wischte die Schokoreste mit einem Tuch aus Mellows grinsenden Gesicht. Mellow packte Minjas Hand und verschwand mit ihr ohne Umschweife in sein Zimmer.
„Siehst du, sie hegt keinen Verdacht. Wir sind für das Wochenende bestens vorbereitet.“, überzeugte Mellow seine Freundin, bevor sie zu Bett gingen und erschöpft einschliefen.
Mitten in der Nacht wachte Mellow auf, begutachtete in gewohnter Weise den Himmel, der jedoch frei von Sternschnuppen blieb. Abermals las er seinen Brief Zeile um Zeile durch, obwohl er ihn mittlerweile bis zum letzten Buchstaben auswendig vorsagen konnte. Zuversichtlich schlüpfte er wieder unter die Bettdecke, doch er bekam kein Auge zu.
Bis zum besagten Wochenende vergingen etliche Tage, die sich die beiden mit kleineren Streifzüge durch ihr Dorf Nuckelon, zeitweiligen Besuche im Zoogeschäft, oder dem nahegelegenen Wald vertrieben. Außerdem ließen sie sich von Aurilia mit allerlei Köstlichkeiten verwöhnen und gingen Mellows Lieblingsbeschäftigung nach, dem stundenlangen Wolkengucken. Seit der Zeit, als er noch ein Baby war, richtete er seinen Blick in den Himmel, zu den Wolken und zu den Sternen. Die Freunde lagen im Gras und erschufen in ihren Gedanken zauberhafte Fantasiegebilde, übertrumpften sich damit gegenseitig. Mellow verspürte dabei stets das untrügliche Gefühl, dass es nicht nur Einbildungen waren, die er mit spielerischen Worten von sich gab. Nein, ganz im Gegenteil. Er war sich ziemlich sicher, dass die Wolken vielmehr waren, als nur Wolken.
Als es endlich soweit war, packten sie ihre Bögen und die hölzernen Pfeile in die Rucksäcke. Den Brief, den Mellow wie einen Schatz hütete, verstaute er in seiner Brusttasche.
„Minja, trödle nicht! Ich will los. Bis du endlich soweit bist,
ist es wahrscheinlich dunkelste Nacht.“, drängelte Mellow.
„Ja, ja. Keine Hektik. Wir kommen schon rechtzeitig an.“, erwiderte Minja und verdrehte ihre braunen Augen.
„Wo ist denn die Limonade? Ohne die brauchen wir überhaupt nicht los. Ah ja, hier ist sie. Nicht dass wir das Wichtigste vergessen.“
Sie verstaute die Dosen in den Rucksack und richtete ihr Haar. Verspätet begaben sie sich auf den langen Weg durch den Wald, zu den weiter gelegenen Bergen. Zum Abschießen der Pfeile benötigte Mellow die höchste Stelle. Das Wetter war hervorragend, und so stimmten sie auf den langen Wanderweg ein trällerndes Lied ein, das sie aus ihrem Schulunterricht kannten. » Das Wandern ist des Müllers Lust. «
Damit erschien ihnen die Mühe des anstrengenden Marsches wesentlich geringer, und während sie eine Rast einlegten, naschten sie leckere Schokopralinen und spülten mit süßer Limonade hinterher. Rund um den Berggipfel versammelte sich ein weißes Wolkenfeld. Hoch oben am Gipfel übten die Zwei nochmals das Zielen an einer der leeren Limonadendosen. Mellow pfiff frohen Mutes. Im Tal hatte es wunderbar geklappt, aber jetzt ging es darum, eine Wolke zu erreichen. Minja fieberte mit, denn was ihr bester Freund für sein Vorhaben dringend benötigte, war eine große Portion Glück. Um zu sehen, wie weit die Pfeile flogen, schoss Mellow zwei Pfeile, einen nach dem anderen, in den Himmel. Als er sich gewiss war, dass er sein Ziel traf, umwickelte er den Brief mit einer reißfesten Schnur am Stecken, spannte den Bogen mit aller Kraft, zielte und schnalzte los. Der Pfeil surrte geradewegs auf die auserwählte Wolke zu. Mellow kribbelte das Freudenfeuer im Magen. Doch oh je, plötzlich schlug ein leuchtend grüner Blitz auf dem Pfeil ein und verschwand mit dem Brief ins Nirgendwo.
Mellow erschrak fürchterlich, traute seinen Augen kaum.
„Mein Brief. Was war das? Minja hast du das gesehen? Das war ein froschgrüner Blitz. Woher kam der?“
„Mellow, du spinnst! Welcher Blitz? Der Pfeil ist abgestürzt. Die Wolke war zu weit entfernt. Du träumst. Ein grüner Blitz. Tsss, das war einer deiner blöden Sinnestäuschungen, glaube mir.“
Mellow nickte zähneknirschend, denn er war sich ziemlich sicher, diesen sonderbaren Blitz gesehen zu haben, wollte aber nicht als Idiot vor seiner Freundin dastehen. Deswegen beließ er es dabei und blieb dennoch ratlos.
„Minja, der Brief ist weg. War keine gute Idee. Was wir jetzt brauchen, ist ein besserer Einfall. Einer, der auch funktioniert.“
Minja legte den Arm um ihren besten Freund. Mit hängenden Köpfen und den Bögen in den Händen trotteten sie nach Hause.
„Ich werde nochmals einen Brief verfassen und bis dahin fällt mir bestimmt etwas ein.“
Ein paar Tage später wurde Mellow, nach dem Misserfolg in den Bergen, von Minja in seiner weiträumigen Garage besucht.
„Was bastelst du denn da?“, erkundigte sich Minja neugierig.
Mellow war gerade mit dem Schraubenzieher zugange, ein bunter
Lackstift klemmte hinter seinem Ohr, er blickte kurz hoch, begrüßte Minja knapp und schraubte konzentriert weiter. Sie schritt um Mellow herum, atmete den scheußlichen Benzingestank ein, der in der Luft lag, und beobachtete erstaunt woran Mellow gerade mit vollem Eifer schraubte.
„Um Himmels Willen. Was hast du denn damit vor? Das ist doch einer deiner Raketen.“
Nach einem irritierten Blick stotterte sie ihre Bedenken los.
„Du wirst doch nicht etwa …, nein, das wirst du nicht …, nicht dieses Ding in die Luft schießen wollen?“, japste sie aufgeregt.
Mellow nahm seinen Kopf hoch, versuchte mit einem Hundeblick so unschuldig wie nur irgend möglich drein zu schauen.
„Ich habe meinen Brief fertig und der muss irgendwie da hoch. Da gehört er schließlich hin.“
Mellow deutete mit seinem Finger nach oben in den Himmel.
„Ab in die Wolken. Glaube mir, dieses Mal gelingt es bestimmt.“, frohlockte er siegesgewiss.
Minja schüttelte ungläubig ihren Kopf.
„Hilf mir besser, bevor du dir unnötig deinen Verstand zermarterst. Es ist eine beschlossene Sache.“
Und so bastelten sie tagelang an der einen Meter hohen Rakete. Sie nutzten, wann immer es ging, die Zeiten, wenn Aurilia außer Haus war. Sie durfte auf keinen Fall von Mellows Plan erfahren. Sie hätte beide Hände entsetzt über den Kopf zusammengeschlagen und es ihm mit strengen Worten verboten.
Nachdem die metallenen Treibstofftanks luftdicht versiegelt und an der Rakete festgeschraubt waren, band Mellow den zweiten Brief mit einer Schnur um den Bauch des blauweißen Luftgeschosses.
Noch in derselben Nacht schlichen sie sich außer Haus, transportierten aufgeregt das vollgetankte Ungetüm auf dem Bollerwagen zu ihrem Versteck Wolke 7.
„Minja, ich habe das Gefühl, wir werden beobachtet.“, flüsterte Mellow. „Vielleicht sollten wir es besser lassen. Zu gefährlich.“
Doch Minja wischte seine Bedenken zur Seite.
„Wie kommst du darauf? Es ist mitten in der Nacht und das Dorf schläft. Mach dir keine unnötigen Sorgen!“
Mellow wurde das Gefühl trotzdem nicht los. Hastig rollte er die mit Schwarzpulver gefüllte Lunte von der Trommel, versuchte so viel Abstand wie nur möglich zwischen sich und dem explosiven Fluggerät zu bekommen. „Ratsch, Ratsch.“ Das Feuerzeug ratschte und Mellow zündete mit zittriger Hand die Zündschnur an. Gebannt verfolgten sie die glühende Spur, die zischend abbrannte, und ihren Weg zielstrebig zu der Rakete fand. Das Vorkammergas entzündete sich blitzartig und feuerte mit einem ohrenbetäubenden Lärm den entweichenden Treibstoff an. Die Schubkraft beschleunigte die Rakete, sie hob vom Boden ab und begab sich auf die Reise zu den Sternen. Sie stieg und stieg. Höher und höher. Mellow wähnte sich im siebten Himmel, ballte seine Fäuste vor Siegesfreude. Eine tonnenschwere Last fiel ihm von den Schultern. Endlich war es geschafft.
„Juhu, es klappt! Schau Minja, es klappt.“, rief er jauchzend aus, tanzte ausgelassen um sie herum.
„Buuuumm.“ Ein lauter Knall zerriss den atemberaubenden Moment. Die Rakete explodierte vor ihren Augen und ein riesiger Feuerball erhellte den dunklen Himmel. Schlagartig flüchteten sie vor den herab prasselnden Teilen, die rund um den Spielplatz einschlugen und verglühten. Sie sahen das Ergebnis ihrer Missetat und versteckten sich, wie zwei angeschossene Karnickel, in ihrem geheimen Quartier. Niedergeschlagen ließen Mellow und Minja abermals ihre Schultern hängen. Abermals scheiterte der Versuch.
„Arrggh, nein, verdammter Mist. Das ist doch wirklich wie verhext.“, polterte Mellow enttäuscht los und knallte das Feuerzeug wütend gegen den Boden. „Was ist dieses Mal schiefgelaufen? Nix klappt. Aber auch gar nix. Verdammt, verdammt, verdammt.“
Minja schwieg, setzte sich bedrückt in den Ohrensessel.
Als er zu Hause war, fiel es ihm schwer einzuschlafen, so entmutigt war er mittlerweile. Jedoch, in dieser Nacht fielen die Sternschnuppen reichlich vom Himmel, und er verstand es insgeheim als Botschaft, auf keinen Fall aufzugeben.
Also tüftelte er auf ein Neues los, Tag um Tag, doch es stellte sich keine brauchbare Idee ein. Der dritte Brief war jedenfalls schnell geschrieben, das war schließlich das geringste Problem für ihn.
„Mellow, komm mit! Lass uns in die Stadt gehen, bevor du verzweifelst.“, forderte Minja ihn auf und grinste über beide Backen. „Wir sind viel zu jung um Trübsal zu blasen. Vielleicht kommst du dann auf andere Gedanken.“
Mit viel Mühe und Überredungskunst schaffte es Minja ihren betrübten Freund umzustimmen. Die Fahrt mit dem Bus nach Fow Fonk dauerte eine knappe Stunde, doch kaum waren sie angekommen, drängte es Mellow in das städtische Zoogeschäft, da es bei weitem größer war, als das in ihrem überschaubaren Dorf. Der Besuch bei den aufgeweckten Tieren hellte seine miese Laune schlagartig auf. Er streichelte die Hasen und die Hamster, bewunderte die exotischen Zierfische und verweilte bei den trägen Amphibien in ihren warmen Terrarien. Aber in der Abteilung der Vögel, da gab es für ihn kein Halten mehr. Mellow hegte von jeher eine tiefsitzende Leidenschaft für jegliche Gattung der gefiederten Tierchen. Hier gab es Arten, die kannte er nur von den bildlichen Zeichnungen aus dem Schulbuch. Er studierte begierig die knappen Beschreibungen auf den Tafeln, die vor den hohen Käfigen aufgestellt waren. Aus jeder Ecke zwitscherte es. Mellow steckte seinen Finger furchtlos durch die Gitterstäbe, streichelte die fedrigen Köpfe. Jedem anderen hätten sie vermutlich mit ihren harten Schnäbeln nervös in die Finger gehackt. Vor allem ein tschiepender Piepmatz tat es ihm an, aufgrund seiner himmelsgleichen Farbigkeit, die ihm das Aussehen eines fliegenden, strahlendblauen Saphirs verlieh. Er las die Beschreibung des faszinierenden Vogels genau durch. Mehr noch, Mellow verspürte eine innige Zuneigung zum dem putzigen Vögelchen.
„Schau mal Minja! Der blaue da. Das ist ein Eisvogel. Die Bezeichnung passt zu ihm.“, stellte Mellow begeistert fest.
Minja stellte sich an den Käfig und stimmte zu. „Ja, wunderschön.“
Mehrere Stunden waren mittlerweile vergangen. Sie beschlossen sich ein leckeres Eis zu besorgen.
„Minja, bleib stehen! Guck mal! Das glaubst du nicht.“
Auf dem Weg zur Eisdiele entdeckte Mellow ein weitflächiges Werbeplakat, das sofort seine gesamte Aufmerksamkeit auf sich zog. Sorgfältig las er den Text. Da stand es in großen Buchstaben.
„101 BALLON“
Abgebildet war eine ganze Flotte bunter Heißluftballons.
„Sonntag in ihrer Stadt. Ein einmaliges Spektakel. 101 Ballons streben der grenzenlosen Freiheit entgegen. Bewundern sie den Himmel über ihren Köpfen.“, stand einladend auf dem Plakat.
In Mellow begann es zu brodeln. Nachdem sie ihr leckeres Eis verputzt hatten, beschlossen sie mit dem Bus zurückzufahren.
Am nächsten Tag traf Minja erst am späten Nachmittag im Quartier Wolke 7 ein. Sie hörte ein aufgewecktes Tschiepen, das von unten aus dem Kellerraum zu ihr hochschallte. Neugierig folgte sie den Lauten, blickte geschwind um die Ecke, und sah Mellow, in seiner Hand befand sich der eisblaue Saphirvogel, der ihm in der Stadt am Finger geknappert hatte. Mellow sprach ganz ruhig mit ihm. Der Vogel, so schien es, hörte aufmerksam zu, ganz so als ob er ihn verstand.
„Mellow und sein neuer Freund.“, stellte Minja schnippisch fest, näherte sich, um den Vogel in Augenschein zu nehmen. Herrliches Kobaltblau und Türkisfarben strahlten aus seinem Gefieder und ein leuchtend blauer Streifen zierte seinen Rücken. Selbst sein spitz zulaufender Schnabel war mit einem wundervollen Blau ausgestattet.
„Ja, Minja! Der kleine Freund hier, wird nun mein Bote sein. Ich habe ihn BigBig getauft. Für ihn habe ich mein gesamtes Taschengeld ausgegeben. Aber er ist jede Münze wert. Mit meinem Teleskop werde ich wohl noch warten müssen.“
Mellow streichelte BigBig übers Gefieder.
„Ich werde mit seiner Hilfe den Brief in die Wolken befördern. Und ich weiß auch schon genau wann. Dieses Mal wird es sicher klappen.“
Mellow weihte Minja in seinen abenteuerlichen Plan ein.
Am Sonntagmorgen frühstückte Mellow mit Minja und Aurilia. Es gab als Hauptspeise leckeres Käsepopcorn und dazu cremiges Schokoladeneis als Nachtisch.
„Na was stellt ihr heute an?“, fragte Aurilia ganz nach ihrer großmütterlichen Art. Wie meist zuckten sie mit ihren Schultern. Schon längst hatten sie ihr neues Abenteuer ausgeheckt, aber es war besser Großmutter Aurilia nichts davon zu erzählen. Sie wäre vor schrecklicher Angst aus allen Wolken gefallen und hätte Mellow gnadenlos für eine sehr, sehr lange Zeit Hausarrest erteilt. Bloß die gigantische Show in der Stadt fand nur alle vier Jahre statt. Das wollte sich Mellow auf keinen Fall entgehen lassen. Wenn er sich etwas vornahm, dann zog er es durch. Und das um jeden Preis.
Die riesigen, runden Ballonhüllen waren schon von weitem auszumachen und das fröhliche Getöse der Besuchermassen war unüberhörbar. Mellow und Minja tauchten aufgeregt in den lebhaften Tumult ein. Die Luft roch nach süßer Zuckerwatte und warmer Schokolade. Bratwürste brutzelten auf den rauchenden Grills und die Pommes wurden goldgelb frittiert. Süßigkeiten aller Art lagen einladend in den Auslagen, lockten die Familien in langen Schlangen herbei, verführten sie zum Einkauf all der feilgebotenen Leckereien. Mellow kaufte cremige Schokoladenbonbons. Gierig schoben sie sich Minja und er die braunen Kugeln in die Mäuler, bis alle ratzeputz vertilgt waren. Sie holten sich noch weitere, doch dieses Mal mit Mintgeschmack.
„Komm Minja, lass uns die Ballons genau angucken. Es geht los.“
Minja stimmte nickend zu und so schritten sie mit ihrer zweiten Bonbontüte zwischen all den staunenden Leuten hindurch. Sie hielten Ausschau nach einem vertrauensseligen Ballonführer, und als sie endlich einen entdeckt hatten, gingen sie schnurstracks auf ihn zu. Sein feuerroter Ballon sah aus der Nähe betrachtet, ziemlich alt und notdürftig zusammengeflickt aus.
„Ich bin doch nicht lebensmüde! Das Ding bekommt er doch niemals in den Himmel.“ Mellow verdrehte ungläubig seine Augen. Aber er ließ sich nicht entmutigen und fragte den einen oder anderen Ballonfahrer, ob er ihn denn mitnehmen könnte. Seine Bemühungen blieben erfolglos, denn keiner wollte ihn mit zu den Wolken nehmen. Abermals fragte er einen Ballonfahrer. Der drehte geschäftig am Regler seines Gasbrenners, überprüfte durch das Ziehen der Kordeln, ob die Gondel fest am Ballon vertäut war. Das dicke Seil war mit einem schweren Eisenpflock in den Boden eingeschlagen und verankert, hielt den Korb sicher auf der Erde. Doch auch er schüttelte nur seinen Kopf. Aber Aufgeben, niemals, das entsprach nicht Mellows Wesen. Unterschiedliche Ballons bereiteten sich für ihren aufsehenerregenden Flug in den weiten Himmel vor. Blaue und grüne, rote und gelbe, alte und moderne. Das Surren der Aufrüstgebläse, die sommerlichen Ventilatoren ähnelten, presste kalte Luft in die Hüllen, bis sie zu einer stattlichen Größe anschwollen. Unzählige Besucher verfolgten neugierig die bombastische Show. Die ersten Ballons stiegen bereits auf. Am unteren Ende des weitläufigen Geländes befand sich eine steinige Schlucht, die einstmals einen tosenden Fluss mit sich geführt hatte, mittlerweile aber ausgetrocknet war. Die prall gefüllten Ballons erhoben sich in die Lüfte, flogen über dem gähnenden Abgrund, und die begeisterten Menschen jubelnden zu den Körben hoch.
„Gut, dann hilft nur noch Plan B.“, entschloss Mellow kurzerhand.
Minja stupste ihn aufgeregt in die Seite.
„Weißt du denn schon, welchen du nehmen willst?“
Mellow zeigte auf einen großen blütenweißen Ballon, auf dem das Bild eines fliegenden Engels prangte.
„Ja klar. Jetzt geht es los. Das wird ein Spaß!“
Er grinste breit übers Gesicht, überreichte Minja die Bonbontüte und atmete tief durch, während er seine Beine und Arme zum Aufwärmen schüttelte. Das Luftgefährt war ganz in der Nähe und es dauerte nicht lange, da löste die Bodencrew das vertäute Seil vom Haken. In diesem Augenblick rannte Mellow los, geradewegs auf das herabstürzende Gefälle zu. Er preschte vor, mit all der Geschwindigkeit, die er aufbrachte, während der Ballon an Höhe gewann. Unausweichlich kreuzte der Abgrund seinen Weg, dennoch flitzte er zum baumelnden Seil. Der Ballonfahrer holte es Stück um Stück ein, bis es nur noch knapp über den Boden hing. Mellows Herz schlug wie verrückt. Er richtete seine Augen auf das untere Ende des Seils, dass die Schlucht nur noch wenige Meter entfernt vor ihm lag, nahm er kaum war. Beherzt griff er nach dem Seil, aber verpasste es um ein paar Zentimeter. Die Menschen wurden auf ihn aufmerksam und schrien hektisch los.
„Haltet den Jungen fest! Der ist doch verrückt. Gleich stürzt er in die Tiefe! Fangt ihn, sonst geschieht ein Unglück!“
Als Minja sah, dass Mellow dennoch unaufhaltsam weiter rannte, ließ sie die halbvolle Bonbontüte fallen und hielt vor Schreck die Augen zu. Im letzten Augenblick sprang er mit einem großen Satz vom sicheren Boden ab, die steinige Schlucht unter seinen wedelnden Beinen und streckte seine Arme aus, soweit er nur konnte. Er schnappte mit seiner Hand zu, erwischte mit aller Mühe das Seilende, und hielt sich am baumelnden Strang fest. Trotz des Schwungs schaffte er es, das Seil auch mit seiner zweiten Hand zu fassen. Mellow schaukelte unbeholfen in der Luft. Der Kapitän des Ballons wurde durch das Geschrei der vielen Leute neugierig und bemerkte, dass sein Korb wippte. Er blickte nach unten, sah Mellow hin und her pendeln und zog den Jungen mit den silbernen Haaren hastig nach oben. Als Mellow endlich im sicheren Korb war, schüttelte ihn der alte Mann kräftig durch.
„Mensch, Junge! Bist du denn komplett wahnsinnig? Was ist mit euch Kindern nur los.“, schrie er ihn an.
Mellow zuckte seine schmalen Schultern, war überglücklich, dass er mit seiner heilen Haut davonkam. Er stellte sich dem Ballonfahrer vor, doch der verstand aufgrund des tosenden Lärms kein einziges Wort. Mit Fingerzeichen machte er Mellow verständlich, dass sie jetzt unmöglich umkehren konnten. Das war ganz in Mellows Sinn, schließlich wollte er bis in die bauschigen Wolken fliegen und weit darüber hinaus. Der kalte Wind pfiff ihm gnadenlos um die Ohren. Das brennende Gas verursachte einen ohrenbetäubenden Krach, trotzdem genoss er den atemberaubenden Ausblick. Er ließ seine Sicht nach unten schweifen, wartete nervös auf seinen wichtigen Einsatz. Die Hügel, die Täler und die Berge waren aus der Höhe wunderschön anzusehen, und die Menschen wuselten wie kleinen Ameisen umher.
Mellow griff angespannt in seine Brusttasche. Der neugierige Kapitän tippte wortlos auf Mellows Jacke und verzog grinsend seine Mundwinkel, als er bemerkte, dass sich darin etwas bewegte. Mellow holte BigBig hervor, hielt ihn fest an sich gedrückt, bis sich vor ihm endlich eine große weiße Wolke auftat. Dicht vor dem gewölbten Wolkenberg warf Mellow seinen Eisvogel kraftvoll, wie einen Tennisball, durch die Luft. Dem flatternden BigBig hing der blaue Brief am zarten Beinchen fest. Er winkte BigBig nach und wünschte ihm viel Erfolg. Der kleine Briefbote flatterte angestrengt auf die Wolke zu. Mellow verfolgte nervös den Flug. Mit aller Mühe kämpfte BigBig dagegen an, dass der Brief ihn nicht in die bedrohliche Tiefe zog. Als er endlich in die Wolke eintauchte, blähte diese sich auf, und ein grünliches Flimmern überzog die weiße Oberfläche. Der Pilot rieb sich ungläubig die Augen, schüttelte den Kopf und tat es als Sinnestäuschung ab. Nur Mellow allein wusste, dass dieses wundersame Schauspiel tatsächlich stattfand, so wie der grünliche Blitz, der den Pfeil getroffen hatte. Mellow jubelte und schrie freudig in den Himmel, seine Anspannung löste sich. Den Rest des Fluges kam er aus dem Staunen nicht mehr raus und fand es jammerschade, als sie nach zwei Stunden zur Landung ansetzten. Noch bevor der Korb die Erde berührte, sprang Mellow mit einem riesigen Satz heraus. Er spurtete davon, so schnell ihn die Beine trugen, schließlich wollte er keinen Ärger mit den Beamten der Flugsicherheit riskieren. Denn ihm war klar, dass seine Großmutter ihm für alle Zeiten Hausarrest geben würde, wenn sie das rausbekam. Noch bevor ihn einer ergriff, verschwand er in die schützende Menge der jubelnden Menschen. Er rannte schnurstracks zu seinem Versteck. Minja wartete, hielt die Ungewissheit kaum aus. Angespannt lief sie kleine Kreise im Unterschlupf, naschte zappelig von der Schokolade. Mellow sprang aufgeregt die Treppen hinunter und stürzte in den Kellerraum. Er war so unter Strom, dass er nicht wusste, wo er mit seiner Erzählung anfangen sollte. Also platzte er einfach heraus. „Geschrien haben sie, die Leute. Ich habe die Menge tosen gehört. Irre, sag ich dir. Das war ein Ritt durch die Wolken. Ich dreh durch, es hat geklappt.“
Minja schob sich den Riegel süßer Schokolade ganz in den Mund
und bot Mellow etwas von dem leckeren Naschwerk an.
„Hattest du keine Angst, als du am Seil hingst und der Wind dich hin und her schleuderte?“, fragte sie schmatzend nach.
„Oh, doch. Für einen kurzen Moment drehte es mir gewaltig den Magen um und mir wurde schlecht.“, erwiderte Mellow und kugelte dabei überzogen seine Augen. „Sehr schlecht.“ Minja prustete vor Lachen.
„Egal, es ist geschafft. Und das ist das Wichtigste. BigBig war spitze. Er flog furchtlos in die Wolke und diese antwortete prompt mit einem grünlichen Flimmern.“
Minja blickte ihn stutzig an, aber Mellow, zufrieden mit seiner waghalsigen Leistung, stopfte sich ebenfalls einen Riegel in seinen Mund.
„Ic hahe es atsächlich gesaft.“, fügte er mit vollem Mund hinzu und tanzte durch das Zimmer. Minja schlug ihm aufgeregt auf den Rücken.
„Mellow, du bist der Beste und ziemlich verrückt.“
In dieser Nacht des Triumphes fielen so unglaublich viele Sternschnuppen vom Himmel, dass Mellow das Zählen aufgab, da es unmöglich für ihn war, im glühenden Schnuppenregen den Überblick zu behalten. Es verschlug ihm die Sprache.
Am nächsten Tag, Aurilia war schon auf den Beinen, sie bereitete wie meist das Frühstück vor, bummelten Minja und Mellow müde aus dem Zimmer. Nachdem sie gegessen hatten, schlurfte Minja zum Zähneputzen ins Badezimmer. Mellow ging in den hinteren Garten, wo er freudig seinen mutigen Freund BigBig erwartete. Ein Schreck durchfuhr seine Knochen. Er schrie so laut er konnte nach Großmutter, die sofort zu ihm eilte. Sie stellte sich, nicht minder entsetzt, in den Türrahmen zum Garten.
„Es hat begonnen, was beginnen sollte. Die Erde wird brennen.
Laizif ist tatsächlich frei.“, flüsterte sie vor sich hin, als Mellow aufgeregt zu ihr rannte.
„Großmutter, sie mal, dass nimmt überhaupt kein Ende!“
Mit einem Fingerzeig deutete er in die wolkenlose Atmosphäre, die durchdrungen war von den unzählbaren Sternschnuppen.
„Ist da oben im Kosmos etwas kaputtgegangen?“, fragte er unsicher nach.
Aurilia drückte Mellow ganz nah an sich heran. Mellow verspürte das schuldige Gefühl, das es etwas mit seinem Brief zu tun hatte, deswegen verschwieg er sein Geheimnis, das nur er, Minja und BigBig kannten.