Читать книгу Mellow Tior - Shey Koon - Страница 6
Das innere Auge
ОглавлениеMellow schrie laut auf, sprang mit einem schreckverzerrten Gesichtsausdruck zur Seite, wich nach hinten aus. Minja blickte ihn missbilligend an, schüttelte ratlos ihren Kopf.
„Wie lange soll es mit ihm so weitergehen? Mellow dreht vollkommen durch. Und kein Doktor hat Zeit.“, brummelte sie.
Mal hüpfte er mit einem Satz, wie ein ängstlicher Hase nach rechts, dann schlagartig nach links. Aber sie unterließ es, Mellow wegen seines sonderbaren Benehmens zu tadeln. Ruckartig ging er in die Hocke, hielt sich schützend die Arme vor das Gesicht, schirmte sich ab vor den blitzenden Funken. Die letzten Tage wunderte sie eh kaum etwas. Die Bewohner des Dorfes Nuckelon waren allem Anschein nach in die Wüste ausgewandert, oder hatten beschlossen, für immer hinter ihren Türen zu leben. Warum sollte Mellow, ihr verrückter Freund, denn nicht auch dem Wahnsinn verfallen? Bor Mellows Augen schlugen die glühenden Schnuppen ein, zerstoben mit einem donnernden Knall. Seltsamerweise hinterließen sie keine Spuren. Doch er zweifelte nicht, denn die Wahrheit war, er sah sie.
„Minja, du musst dich vor den Sternschnuppen schützen?“, warnte er seine beste Freundin erschüttert. „Guck, wie sie mit aller Wucht auf dem Boden zerknallen! Wie ihr helles Licht in allen Himmelsrichtungen zerspringt! Sieh doch!“
„Nein Mellow, ich weiß echt nicht was du siehst. Bei mir ist alles in bester Ordnung. Das sind deine Einbildungen.“, widersprach sie. Wie sie es vorausgesehen hatte, Mellow reagierte beleidigt.
„Du meinst wohl, dass ich lüge, weil du es nicht sehen kannst? Was denkst du dir eigentlich wer du bist? Das Maß aller Dinge, oder was? Das nervt.“
Minja verzog ihre Mundwinkel zu einer Fratze. Es hatte jetzt
keinen Sinn, vernünftig darauf zu antworten. Mellow fühlte sich
gekränkt.
„Bleibe sofort stehen und gebe dir Mühe! Das ist alles was ich von dir verlange.“, forderte Mellow sie streng auf.
Minja tat, wie ihr befohlen wurde und blieb stehen, richtete ihren Blick zu den Stellen, auf die Mellow im Sekundentakt mit seinem Zeigefinger deutete. Doch sie erkannte rein gar nichts, trotz all der Anstrengung. Er winkte verärgert ab, beeilte sich, um Schutz im sicheren Unterschlupf Wolke 7 zu finden, wollte zu seinem blauen Freund BigBig. Mellow ärgerte es ungemein, dass Minja ihn als Spinner mit wirren Sinnestäuschungen abtat. Er raufte sich wütend die silbernen Haare, während er weiterhin den knallenden Erscheinungen auswich. Minja lief eindruckslos geradeaus, ungeachtet dessen, wo gerade eine Leuchtkugel einschlug.
„Die Wolken ziehen sich zusammen und werden dunkler. Wenn wir trocken bleiben wollen, sollten wir uns beeilen.“
„Ja, lass uns rennen! BigBig ist froh, wenn wir bald bei ihm sind. Er fürchtet sich vor Gewitter.“, stimmte Minja zu.
Und so rannten die zwei den langen Weg durch das leblos wirkende Dorf, zurück zu ihrem geheimen Stützpunkt. Doch die schattigen Wolken türmten sich rasend schnell zu bedrohlichen Bergen auf. Graue und schwarze Farbtöne überschwemmten den Himmel. Der Regenguss kündigte sich durch das herannahende Grollen an. Gefährlich bauschte sich das Gewitter auf und die ersten Tropfen fielen als warnende Vorboten herunter. Unwetter gab es zu dieser spätsommerlichen Jahreszeit des Öfteren, also kein Grund zur Besorgnis. Mellow bückte sich nach vorne, sein Magen verkrampfte sich schmerzhaft. Er legte die Hand auf seinem Bauch, damit die Übelkeit nachließ. Eine unerklärliche Vorahnung schlich sich in sein Bewusstsein, dieses Gewitter war kein gewöhnliches Unwetter. Er fand für das befremdliche Gefühl in seinem Magen keine passenden Worte, behielt es für sich. Der Druck in seiner Bauchgegend schwoll an, Mellow bekam augenblicklich Gänsehaut und die Nackenhaare stellten sich senkrecht auf. An dieser Wolkenansammlung war etwas Eigenartiges. Er blickte nervös nach oben, stellte überrascht fest, dass der Schnuppenschauer augenblicklich vorbei war. Jedoch die Wolken verformten sich zu roten Figuren, bedrängten bedrohlich den Himmel. Er zwang sich, seinen Blick auf den nassen Boden zu richten, verspürte Angst davor, hoch zu schauen. Die Übelkeit lähmte ihn. Mellow kämpfte mit aller Kraft dagegen an. Er wollte vorwärtskommen. Als er seine Augen abermals in den Himmel richtete, erlebte er eine schreckliche Mischung aus dem Sehen und dem Fühlen eines Unheils ungeheuerlichen Ausmaßes. In den grauschwarzen Wolken zeichneten sich rote Horden von gruseligen Monstern und ihren furchterregenden Tieren ab. Spitze Hörner zierten die Köpfe der Monster, und sie schnaubten roten Rauch aus ihren dicken Nasen. Scharfe Zähne krachten aufeinander, und feuriger Schleim tropfte aus den Mäulern der Ungetüme. Sie zogen ihr glühendes Feuer durch die sattgrauen Wolken, die den Himmel verdunkelten. Es schien, als ob sie Feuer legten, als ob sie alles in Brand steckten.
Mellow strengte sich an, Minja geschwind in Sicherheit bringen. Er ergriff sie mit zittriger Hand und rannte so schnell er konnte. Minja kam aus der Puste, japste wie ein Hase auf dem Rücken nach Luft. Doch Mellow nahm keinerlei Rücksicht, denn er flitzte mit ihr ums nackte Überleben. Die Türe zur Wolke 7 war schon in greifbarer Nähe, da funkten die ersten Blitze auf, schossen neben den beiden in den Boden. Selbst Minja erschrak, als sie das Zittern der Erde spürte. Dampf verteilte sich und der Gestank von verkohlter Erde stieg ihnen in die Nasen. Mellow hechtete zum Türgriff, riss die Stahltüre auf und zog Minja in das Innere. Während seine Freundin unsanft die harten Stufen nach unten polterte, spürte Mellow feurige Hitze in seinem Nacken. Ein rotglühendes Monster, das einer Kreatur aus zerstäubten und glühenden Wasser glich, griff nach Mellows Arm. Er reagierte ruckartig und schlug die schwere Türe zurück ins Schloss. Panisch schloss er von innen ab, rannte von der nackten Angst besessen nach unten, sprang über Minja hinweg und verkroch sich im hintersten Eck.
„Tschip, Tschip, Tschiip.“ BigBig begrüßte die beiden mit lautstarkem Willkommenstschiepen. Er flatterte ohne Umwege auf Mellows Schulter, zupfte aufgeregt an seinem silbernen Haar. Mellow zitterte heftig und seine Gesichtsfarbe war kreidebleich.
„Wow, das war ein fetter Blitz. Bumm, schlug der knapp neben uns ein. Wahnsinn, wenn der uns getroffen hätte, wären wir bestimmt zu heißer Asche verwandelt worden.“
Minja schlug ihre Hände über den Kopf zusammen, war sich der Tragweite ihrer Feststellung aber nicht im Geringsten bewusst.
„Mii- njaa, ich glaaaube so-sogar, die- die Blit-tzze soll-t-teen u-uns treff-ffen.“, schlotterte Mellow, der unter Schock stand.
„Jetzt spinnst du aber total. So ein Unsinn.“ Minja verdrehte verständnislos ihre Augen. „Das ist ein heftiges Unwetter und keine Seltenheit. Wieso sollten uns die Blitze absichtlich verletzen wollen? Das war nur Zufall, nichts weiter.“
Langsam normalisierte sich der Zustand des verschreckten Mellows. BigBig übte einen beruhigenden Einfluss auf ihn aus. Minja zog sich ihre nassen Klamotten aus und forderte Mellow auf, sich ebenso trockene Wäsche überzuziehen. Draußen vor der Türe hauste der entfesselte Sturm und es tobte ein wummerndes Geräusch durch den unterirdischen Raum. Die Stahltüre wurde beinahe aus den Angeln gehoben.
„Glaub mir Minja, du siehst nicht das, was ich sehe. Und wenn ich ganz ehrlich sein soll, ich spürte tief in mir, das Unglück sogar auf uns zukommen. Wir hatten riesiges Glück.“
Minja ging zu den vorrätigen Naschsachen, kramte leckere Erdbeerschokolade hervor, nachdem sie in trockenen Sachen gepackt war. Sie brach sich einen dicken Riegel ab, reichte ihn an Mellow weiter, der dankend ablehnte. Ihn gelüstete in diesem schauerlichen Moment nicht nach süßem Naschwerk. Seine heile Welt stürzte in ein bodenloses Chaos. Aurilia blieb verschwunden und kein erleichterndes Lebenszeichen in Aussicht.
„Verdrehte Welt. Die Bewohner des Dorfes verstecken sich in ihren Häusern und die Stadtbürger verhalten sich hitzig. Das ist mehr wie beängstigend.“ stellte Minja fest und schüttelte ihren Kopf.
„Minja, denke und sprich was du willst. Aber ich sage dir, da stimmt was nicht. Die Menschen benehmen sich nicht ohne Grund so seltsam. Es liegt riesengroßer Ärger in der Luft.“
Minja gab keinen Pfifferling auf Mellows Gedankengänge, obwohl es ihr nicht entging, dass eine streitsüchtige Stimmung als unerwünschter Gast in den Häusern Einzug hielt. Nur seine Fantasie war schon immer ausgeprägter, als bei den anderen Kindern. Der Rest war pure Spinnerei, weil die Nerven mit ihm durchgingen. Allein seine sonderbaren Träume zeugten von dem heillosen Durcheinander in seinem Kopf. Minja erwartete insgeheim, dass sobald Aurilia von ihrem Ausflug heimkam, alles wieder gut werden würde. Dann würden sie gemeinsam am Küchentisch sitzen, dem Brutzeln der bratenden Pfanne lauschen und ein neues Abenteuer aushecken.
Natürlich wagten sich beide im Moment nicht mehr vor die Türe und so blieb ihnen nur eines übrig, es war immer noch das Beste sich mit irgendetwas beschäftigen. Hauptsache es lenkte sie von ihrem Streitthema ab. Mellow holte die Zeichnungen für das Teleskop hervor und sie beugten sich gemeinsam über die bisherigen Skizzen. Nach mehreren Tafeln feinster Schokolade und etlichen Stunden an Tüfteleien entschlossen sie sich, sich aufs Ohr zu legen. Zumindest solange bis der Sturm vorbeigezogen war und sie mit BigBig zum Bach gehen konnten. Jeder einzelne von ihnen tat sich mit dem Einschlafen schwer, da ihnen die Gedanken durch die Köpfe jagten, aber die Müdigkeit siegte.
„Hallo, Mellow. Ich habe schon sehnsüchtig auf dich gewartet.“
Marianas Stimme zu hören war eine Wohltat. Wenn er sich am goldenen See befand, schien ihm diese Wirklichkeit viel realer als die Welt, in der er sich gerade schlafen gelegt hatte. Mellow erhob sich blinzelnd vom goldenen Boden.
„Hallo Mariana. Ich bin durcheinander und ich vermisse meine Großmutter. Was ist nur passiert?“
Mariana stellte sich vor ihm, spendete ein wenig Schatten, das gab ihm die Möglichkeit seine Augenlider zu entspannen. Auch dieses Mal stand sie ohne ihr Federkleid da. Ihr Lächeln strahlte pure Freude aus. Mellow fühlte sich auf unerklärliche Weise unendlich stark mit ihr verbunden. Ganz so, als ob sie beide aus derselben Familie entstammten.
„Was mit Aurilia geschehen ist, kann ich dir nicht sagen. Aber wie ich schon sagte, es gibt jemanden, der darüber Bescheid wissen könnte.“
„Dann fragen wir den Jemanden. Ich wünsche mir Antworten.“
Mariana lächelte verlegen.
„Nein, Mellow so einfach ist es leider nicht. Die Umstände sind überaus gefährlich. Ich kann dir nur verraten, dass du in einem uralten Mysterium verwickelt bist. Aurilia kennt das Geheimnis. Hat sie dir nichts darüber berichtet?“
Mellow reckte seine Faust nach oben.
„Nein, hat sie nicht und mir ist es völlig gleich in was ich verwickelt bin. Ich will meine Großmutter Auri bei mir haben. Und ich bin bereit, alles dafür zu tun.“
„Mellow, es ist wichtig für uns, dass dein Handeln durch Taten und nicht durch Worte geführt wird. Für dich und für mich und für all die anderen.“
„All die anderen?“, fragte Mellow erstaunt nach.
„Ich erahne deine Gedanken. Ein tiefes Geheimnis streift dich gerade mit seinen kristallenen Flügeln.“
Sie forderte ihn auf, sich auf seinen Hosenboden zu setzen und hinzuhören.
„Mellow, eine Schockwelle durchrast gerade das Universum. Es ist etwas passiert, was nicht passieren dürfte. Wir alle befinden uns in Gefahr. Das Höllenfeuer bricht über uns herein und der einzige, der das verhindern kann, bist du. Laizif jagt dich bereits. Er ist erbarmungslos und darf dich nicht erwischen, denn er wird dich, ohne mit der Wimper zu zucken, zerstören. Deswegen muss Aurilia gefunden werden, denn nur sie alleine kann dich vor ihm behüten.“
Mariana erwartete eine Reaktion, die aber ausblieb.
„Wenn wir dich verlieren, verlieren wir deine heilige Gabe.“
Mellow bemühte sich, seine Augen zu öffnen.
„Ich verstehe das alles nicht. Ich will doch nur meine Großmutter zurück. Sonst gar nichts.“
„Mellow, das kann ich verstehen, aber vertraue mir. Vielleicht hast du schon bemerkt, dass du die Fähigkeit besitzt, Dinge zu sehen, die andere nicht sehen. Du nutzt deinen inneren Blick. Das ist eine wertvolle Fähigkeit auf dem Weg deiner Suche. Nutze die Möglichkeiten, die es dir bietet. Nur so kannst du Aurilia helfen. Mellow nutze dein inneres Auge!“
Noch bevor Mellow etwas erwidern konnte, wurde er im geheimen Unterschlupf Wolke 7 wach. BigBig zupfte energisch am silbernen Haar und es blieb ihm keine andere Wahl, als aufzustehen.
„Ja, ja! Ich weiß, du hast Hunger.“
Mit einem sanften Rütteln weckte er Minja, die sich schwertat aufzustehen. Er wollte ihr unbedingt von seinem neuen Traum berichten. Minja war neugierig genug, sich die spannende Geschichte anzuhören, auch wenn sie ihn danach abermals für einen armen Spinner abtat. Mellow entsicherte das Schloss und lugte raus. Der Sturm war mittlerweile verzogen und sie begaben sich gefahrlos vor die Türe. Er atmete tief durch, blickte sich um und betrachtete neben dem Eingang die schwarzen großen Einschlaglöcher, die die Blitze hinterlassen hatten.
„Los komm schon! Beeile dich, Mellow. BigBig hat bestimmt tierischen Hunger.“
Unruhig flog der Eisvogel auf und ab, drängte seine Freunde, dass sie eine flotte Sohle vorlegen sollten. Der rauschende Bachlauf war vom vielen Regenwasser angeschwollen. BigBig jagte erfolgreich, schlug sich den gefiederten Bauch mit leckerem Futter zu. Es dauerte eine Weile bis er satt war. Auf dem Rückweg beschloss Mellow zuhause zu übernachten.
„Minja bleibst du heute Nacht bei mir? Ich habe das Gefühl, dass Großmutter auftauchen wird.“
Er brauchte sie nur einmal zu bitten, Minja war eine treue Seele. Auch wenn die Zeiten gerade schwierig waren. Zuhause suchte Mellow und Minja, wie jeden Tag, die Räume ab, aber Großmutter Auri blieb verschwunden. Mellow richtete üppige Käsebrote und gelbe Limonade in großen Gläsern her und sie verspeisten ihr Abendmahl vor dem Fernseher, guckten dabei gespannt eine neue Folge ihrer Lieblingssendung. Es war ja niemand da, der sie deswegen rügte. „Poch, poch, poch.“ Plötzlich pochte es stürmisch an der Türe. Mellow blieb vor Aufregung fast das Herz stehen. Blitzschnell warf er seinen Teller weg und sprang mit einem sportlichen Satz über die Rückenlehne des Sofas.
„Großmutter, Großmutter. Endlich.“, schrie er vor Erleichterung durch das gesamte Haus.
Minja blickte ihm verständnislos nach. Sie hatte kein Klopfen wahrgenommen. Sie biss genüsslich in ihr belegtes Brot, den halben Blick weiterhin auf dem flimmernden Bildschirm und die andere Hälfte auf die Türe gerichtet. Mellow riss mit einem Schwung die Türe auf und ihn überfiel vor Entsetzen die lähmende Starre. Unbändige Hitze drang ins Haus, die Welt vor der Türe war in ein geheimnisvolles Rot gehüllt. Ein Rot, aus dem zwei feurige Hände nach ihm griffen. Ein maskenhaftes Gesicht stierte böse nach Mellow, dem Jungen mit dem silbernen Haar. Der Schock durchdrang ihn. Er fiel bewusstlos in sich zusammen und stürzte hart auf dem Boden.
„Mellow, was ist passiert? Warte ich helfe dir.“
Minja ließ ihren Teller fallen und hechtete ihm zur Hilfe. Ohne Umschweife blickte sie nach außen ins Freie, doch sie stellte nichts Bemerkenswertes fest und schloss die Türe sofort wieder. Sie rüttelte an Mellow, aber es half nicht, er blieb regungslos. Sie zog den bewusstlosen Mellow an die Couch zurück, hievte ihn mit aller Kraft auf das Sitzpolster. BigBig flog aufgeregt durch das Wohnzimmer und tschiepte hektisch vor sich hin. Minja tätschelte das Gesicht ihres Freundes, packte ihn und schüttelte an den Schultern, doch Mellow blieb weggetreten. Erst Stunden später öffnete er seine Augen.
Nach diesem eigenartigen Ereignis zog Mellow sich tagelang zurück, nahm kaum mehr Nahrung zu sich, verschmähte selbst die Schokolade und war unfähig BigBig zum Bach zu begleiten. BigBig hingegen kuschelte sich jede freie Minute unter Mellows Bettdecke, schenkte ihm seinen freundschaftlichen Beistand. Minja kümmerte sich fürsorglich um ihn, sorgte sich, wie es um ihn stand. Wenn Mellow schlief, dann brachte sie BigBig an den Bachlauf, belegte die Brote mit allem was aufzutreiben war, denn die Nahrungsmittel neigten sich dem Ende zu und die Geschäfte im Dorf blieben weiterhin geschlossen. Mellow träumte wirres Zeug. Er erholte sich nur langsam, aß schlecht und schwieg. Drei Tage später stand Minja in der Küche, holte die letzten Pommes Frites aus dem Kühlschrank und bereitete sie für Mellow mit ein wenig Paprika zu.
„BigBig, was soll ich nur mit ihm anstellen? Wenn das so weitergeht, nimmt das noch ein schlimmes Ende.“
BigBig nickte, als ob er sie klar verstanden hätte, drehte seinen Kopf zu den Flügeln und begann ausgiebig sein farbenprächtiges Federkleid zu putzen. Minja richtete das Essen auf einen Teller an und brachte es mit einem Tablett zu Mellow, der erschöpft den Tag verschlief. Beim Hinausgehen rückte der Astronautenanzug in ihr Blickfeld, blitzartig schoss ihr eine Idee durch den Kopf. Zaghaft zupfte sie an Mellows wolkenbestickte Bettdecke, während er sich hin und her wälzte. Im Halbschlaf winkte er genervt ab. Sie ließ nicht locker und schüttelte ihn solange, bis er wütend losschnaubte.
„Lass mich doch mit deinem Quatsch in Ruhe! Ich will schlafen.“
Minja rüttelte jetzt noch heftiger und brachte Mellow dazu seine Augen zu öffnen. Schlagartig war er wach und erschrak fürchterlich. Vor ihm stand Minja, eingezwängt in seinem weißen Astronautenanzug. Sie beugte sich über ihn.
„Alo, kan ic dir elfen?“
Minja tat so, als ob sie eine verirrte Außerirdische wäre und Mellow fand ihren Auftritt so lustig, dass er vor Lachen losprustete.
„Ic omme on eit heer. Ein ame it Mars-ensch. Ud du?“
Mellow kugelte sich und hielt sich mit beiden Händen den Bauch. Als seine beste Freundin auch noch gekonnt den Robot-Dance hinlegte, gab es kein Halten mehr und Mellow kullerte unter Tränen aus dem Bett.
„Komm jetzt endlich!“, forderte Minja ihren Freund auf, während sie sich den engen Anzug abstreifte.
„Ich habe gestern Spätabend etwas Sonderbares entdeckt, als ich mit BigBig zum Bach spazierte. Das musst du dir ansehen. So wie das Ding aussieht, ist es nicht von dieser Welt.“
Mellows Neugierde erwachte schlagartig und obwohl er sich schwach bis in die Knochen fühlte, zog er sich ohne zu zögern an.
„Minja ich bin bereit. Wir können sofort aufbrechen!“, drängelte er.
Sie marschierten den menschenleeren Weg zum Bach, hin zu der Stelle, an der BigBig gewohnheitsmäßig seine Fische fing. Mellow erkannte nichts Ungewöhnliches im rauschenden Wasser. Jedoch Minja krabbelte durch das grüne dichte Unterholz, raschelte an jeder Ecke. Trotz des eifrigen Suchens kam sie mit leeren Händen zurück. Minja blieb ruhig und dachte angestrengt nach. Sie ging nochmals zum Ufer des Baches und schritt ihn Fuß um Fuß entlang ab. Auf einmal schrie sie vor Freude auf, hechtete mit einem weiten Kopfsprung in das kalte Wasser, schüttelte sich angewidert und tauchte ab. Wiederholt kam sie nach oben, holte tief Luft und tauchte erneut zu dem steinigen Grund. Mellow betrachtete verwundert das eifrige Schauspiel. Nachdem sie mehrere große Steine zur Seite geschoben hatte, griff sie nach einem Gegenstand, der sehr intensiv glänzte. Beim genaueren Hinsehen erkannte Mellow, dass von dem Fundstück eine überwältigende Strahlkraft ausging. Minja zog es lächelnd an die Wasseroberfläche und schwamm zurück zum Ufer. Sie hielt es über ihrem Kopf, wie eine Trophäe für den Sieger.
Der gefundene Gegenstand war ein langer gebogener Stecken, an dessen Anfang ein blitzender Stern hing. Am anderen Ende befand sich ein hauchzarter blinkender Schweif, der vor herumfliegenden Funken nur so stob, wie ein Haufen glühender Flöhe.
„Lebt das Ding etwa?“, platzte es aus Mellow spontan heraus.
„Ich weiß es nicht.“, zuckte Minja mit ihren Schultern, nachdem sie aus dem kalten Bach geklettert war.
Sie reichte es Mellow, der es aber nicht wagte, den Gegenstand in die Hände zu nehmen. Seine rätselnden Gedanken lösten ein unsicheres Gefühl in seiner Magengegend aus, also hielt er gebührenden Abstand, und betrachtete das Fundstück aus sicherer Entfernung.
„Was ist das, Minja?“, fragte Mellow nach.
„Das weiß ich doch nicht.“, antwortete Minja frierend. „Ich habe es gestern erst entdeckt. Spannend, findest du nicht? Vielleicht gehört es ja zu den Sternschnuppen, von denen du die ganze Zeit berichtest. Auch wenn ich sie nicht sehen kann. Wer weiß, das könnte doch so eine verlorene Schnuppe sein.“, antwortete sie mit einem belustigten Schmunzeln im Gesicht. „Los lass uns heimgehen, bevor ich mich erkälte. Ich brauche dringend trockene Kleidung.“
Sie beschlossen einstimmig, das mysteriöse Fundstück mitzunehmen. Während Minja keinerlei Berührungsängste verspürte, verhielt sich Mellow sehr merkwürdig in der Nähe des blitzenden Gegenstandes. Er bestaunte ihn sorgfältig, aber es blieb ihm anrüchig.
Jedoch, in dieser Nacht träumte er seit einer langen Zeit wieder vom goldenen See. Der Unterschied war dieses Mal nur, dass er sich selbst dabei beobachtete, wie er vor Mariana kniete. Ein überdimensionales Leuchten, das jeglicher Umschreibung trotzte, ging von ihm aus. Auch Mariana sah er in ihrer gänzlichen Blüte. Noch nicht einmal seine Augen kniff er zu, wie er es sonst gewohnt war. Er vernahm ihre Stimme auf zweierlei Weisen. Einmal mit seinem knienden Körper und einmal als der Beobachter von Oben.
„Dieses Stück ist von einer Sternschnuppe abgesplittert worden. Es war für eine lange Zeit verlorengegangen. Deine Freundin Minja hat wirklich gut getippt, wenn auch aus purem Zufall. Das Fundstück wurde geschaffen zu der Zeit, als alles Seiende entstand. Es entstammt vom mächtigen Mittelpunkt des pulsierenden Universums, geschmiedet von den sterbenden grünen Riesen und abgekühlt im Meer des Jenseitigen. Es ist auf ewig mit deinem Geheimnis verbunden. Das ist dein persönlicher Glücksbringer, der dir helfen wird, deine Großmutter Aurilia zu finden.“
Doch Mariana hob ihren Zeigefinger in die Luft und beschwor Mellow, es nicht früher anzufassen, als wie er sich sicher war, dass er die Zukunft mit aller Kraft und Energie tragen wollte.
Dann drehte sie ihren Kopf nach oben, als ob sie erahnte, dass Mellow die Szene ebenso von außen betrachtete und wiederholte eindringlich ihre Ermahnung. Sein Bewusstsein verlor die Bilder am goldenen See und er schlief weiter mit einem ganz gewöhnlichen Traum.
„Mellow, wach sofort auf!“
Minja rüttelte heftig an ihrem schlafenden Freund.
„Was ist denn? Lass mich schlafen!“, nörgelte Mellow, drehte sich um und wollte weiterschlafen.
„Mellow, wenn du nicht sofort aufstehst, geschieht hier gleich ein Unglück. Bitte, wach auf.“
Mellow öffnete mühevoll seine Augen und setzte sich auf. Er erschrak noch im selben Moment. Die Umgebung war in ein durchdringendes Feuer eingehüllt, der Raum dehnte sich auseinander und zog sich wieder zusammen. Wie schon vor ein paar Tagen tauchte die Fratze auf, schwebte ruhelos umher und eine Vielzahl von Händen griff um sich. Einer dieser Hände hielt das Fundstück fest. Es verschwand in dem roten Schlund des Ungeheuers, während er Mellow mit seinen feurigen Augen anstarrte. Mellow saß mit offenem Mund da, er war gelähmt und sein Gesicht war kreidebleich.
„Minja, hast du „ES“ gesehen?“, stotterte er und schluckte, wie wenn er einen großen Stein hinunterwürgte.
„Ja klar habe ich gesehen wie unser Fundstück durch die Luft geflogen ist und sich ins Nichts auflöste.“, antwortete sie.
„Nein!“, „Ja!“, „Ich meine doch die rote Maske, die wie
eine Fratze aussieht.“
„Ein Gesicht habe ich nicht gesehen. Da musst du dich wohl
täuschen. Aber ist letztendlich doch egal. Unser Fundstück ist
auf seltsame Weise verschwunden.“
Für Mellow hatte das Unglück eine viel weitreichendere Wirkung als Minja erahnte. Wenn Mariana Recht behielt, dann war soeben der Schlüssel zu seiner Großmutter Aurilia verschwunden. Verzweifelt steckte er seinen Kopf unter die Bettdecke, bat sie mit energischem Ton zu gehen, da er alleine sein wollte. Minja trollte sich von dannen und war wütend über ihren besten Freund, der sie abermals ziemlich rücksichtslos behandelte. Sie war enttäuscht darüber, dass Mellow sie wie eine vollkommene Idiotin behandelte, wo sie doch alles für ihn tat. Frustriert verließ sie das Haus und ließ Mellow alleine zurück. Mellow wollte mit Minja keinen Streit, aber es waren doch keine Wahnvorstellungen, die um ihn herum geschahen. Mellow grübelte und verirrte sich in schierer Verzweiflung. Er beschloss, sich erst einmal zwei Brötchen mit Schokocreme zu streichen, bevor er mit BigBig zum Bachlauf ging. Es klopfte an der Türe. Mellow tat sich schwer mit dem Öffnen. Wer weiß, was ihn erwartete. Er drehte den Türknauf vorsichtig um und vor ihm stand Minja, die sofort losredete.
„Ich will dir glauben, aber es fällt mir schwer, denn ich sehe überhaupt nichts von dem, was du angeblich siehst.“
„Ja, aber bin ich deswegen im Unrecht?“
Minja legte ihren Arm um Mellow und ging zurück ins Haus.
„Ich kann dir die Schokobrötchen doch nicht alleine überlassen, oder?“, grinste sie über beide Ohren, schnappte sich gleich eines und verdrückte es genüsslich.
Mellow biss besänftigt in seinen süßen Snack und beließ es für das erste dabei. Sie begleiteten BigBig zum Bach. Mellow erwähnte die Sternschnuppen, die er am Himmel sah, überhaupt nicht.