Читать книгу Glutheiße Küsse - Shirlee Busbee - Страница 7
Оглавление3. KAPITEL
Roxanne saß noch lange nach Einbruch der Dunkelheit vor ihrer Blockhütte. Sie trug nur ein übergroßes weißes T-Shirt und nippte an einem Glas Eistee. Sie genoss die Ruhe und die erfrischend kühle Luft. Der Wind wehte das Rascheln der Tiere aus dem nahen Wald bis zu ihr. Es wirkte gleichzeitig beruhigend und aufregend. Was war das für ein Geräusch? Ein Fuchs? Ein Waschbär? Oder womöglich ein Berglöwe? Sie schüttelte sich unwillkürlich. Etwa ein Bär? Der Nachthimmel über ihr war atemberaubend. Wie ein endloses blauschwarzes Samttuch, das mit Millionen funkelnder Diamanten bestickt war. Unter ihr strahlten die Lichter der Stadt, und sie fühlte sich wie ein Adler, der hoch oben in den Lüften kreist und auf die Welt hinunterschaut. Ihr Blick glitt zum Vorgebirge im Osten. Sie freute sich, als sie das Licht in den dunklen Hügeln entdeckte. Es hatte etwas Intimes, dieses andere Licht in der unendlichen Dunkelheit zu sehen. Mein Nachbar von gegenüber, dachte sie belustigt.
Je mehr Zeit verstrich, desto kühler wurde es, und als Roxanne anfing zu frösteln, zog sie sich in ihr gemütliches Blockhaus zurück. Sie hatte dort zwar immer noch keine Elektrizität, aber bisher war sie mit ihren batteriebetriebenen Lampen und den Geräten, die mit Propangas arbeiteten, gut zurechtgekommen. Und mit ihrem Handy, das sie über die Autobatterie aufladen konnte. Natürlich würde sie nicht lange ohne Strom bleiben. Morgen würde ihr neuer Generator geliefert, zusammen mit einem zweiten Tank für Propangas.
Sie rollte sich im Doppelbett zusammen, das sie im Hauptraum des Blockhauses aufgebaut hatte, schlief ein und träumte von dem, was sie am nächsten Tag schaffen wollte. Mit Anbruch der Morgendämmerung sprang sie voller Tatendrang aus dem Bett. Sie duschte, trank eine Tasse Kaffee, die sie aufbrühte dank eines alten Aluminiumtopfs, in dem sie das Wasser auf dem Ofen erhitzte, aß eine Schale Müsli und eine Banane, und war nun zu allem bereit. Sie trug eine Caprihose und eine leichte, weiße Leinenbluse. Ihre wundervolle schwarze Mähne hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden.
Es war noch früh, als sie mit ihrer zweiten Tasse Kaffee auf die Veranda hinaustrat und diese Aussicht genoss. Die Luft war mild, der Himmel strahlend blau, und die Berge und das Vorgebirge, die das Tal umfassten, schienen sich dem Himmel entgegenzuwölben. Roxanne war hingerissen. Sie hatte so viel Glück gehabt! Behutsam stellte sie die Tasse ab und tanzte über die Veranda. Sie war glücklich, glücklich. Glücklich!
Summend nahm sie ihre Tasse und ging ins Haus zurück. Sie durchwühlte die CDs, die sie mitgebracht hatte, und legte eine CD von Cher in den tragbaren CD-Player. Da sie keine Rücksicht auf Nachbarn nehmen musste, stellte sie die Anlage brüllend laut. Chers Stimme ließ die Blockhütte vibrieren. Roxanne machte ihr Bett und räumte die Küche auf.
Danach trat sie erneut auf die Veranda.
Wohin sie auch blickte, schaute Arbeit zurück. Harte Arbeit und hohe Kosten, aber beides konnte Roxanne nicht abschrecken. Sie hatte jahrelang ganz oben in ihrem Berufsstand gearbeitet und entsprechend hohe Honorare eingestrichen. Obwohl sie gut gelebt hatte, hatte sie ebenfalls klug investiert. Wenn sie ihr Geld richtig einsetzte, würde es ihr gelingen, etwas Ansehnliches aus diesem Anwesen zu machen. Was sie unter ansehnlich verstand. Und wenn sie dabei sparsam vorging, blieb ihr genug übrig, um sorgenfrei leben zu können. Sie hatte ihrem Agenten Marshall Klein gesagt, dass sie sich zwar zur Ruhe setzen wollte, für wohltätige Zwecke dennoch weiterhin zur Verfügung stünde. Und falls sich ein ganz besonderer Job anbot und sie Lust darauf hatte, würde sie ihn möglicherweise annehmen.
Lächelnd schlenderte sie vor der Blockhütte auf und ab und betrachtete sie. Sie hatte zwar Pläne für eine Erweiterung, aber sie wollte den Charakter des A-förmigen Gebäudes nicht zerstören. Sam Tindale, der Architekt, den ihr Sloan empfohlen hatte, als sie Anfang Mai das Blockhaus gekauft hatte, sollte heute Nachmittag mit den endgültigen Plänen kommen. Zuerst hatte sich Roxanne an ihren Bruder gewandt, der ebenfalls Architekt war. Sloan hatte entsetzt abgewunken. »Auf keinen Fall«, hatte er unverblümt erklärt. Als er merkte, dass er Roxanne mit seiner direkten Weigerung verletzt hatte, fuhr er fort: »Erinnerst du dich noch an das Baumhaus, das wir als Kinder gebaut haben?«
»Ja.« Sie zögerte, als ihr einfiel, wie hitzig sie sich darüber gestritten hatten, in welcher Art sie es bauen sollten. Sie hatte ihn sogar mit einer Bohle geschlagen, als er ein Fenster an einer Stelle eingesetzt hatte, wo sie keines hatte haben wollen. »Du hast Recht«, gab sie glucksend zu. »Es ist bestimmt gesünder für unser Verhältnis, wenn wir nicht zusammen arbeiten.«
Daraufhin umarmte Sloan sie. »Genau das meinte ich.«
Die Übertragungsurkunde war erst letzte Woche in Kraft getreten. Aston war im Januar gestorben, und die gerichtliche Testamentsbestätigung hatte Zeit gekostet. Roxanne hatte jedoch, ungeduldig wie üblich, den Papierkram bereits vorher eingereicht, um sofort mit dem Umbau beginnen zu können, wenn ihr Angebot akzeptiert worden war. Sie hatte das Haus mit Tindale besichtigt und die Veränderungen skizziert, die sie plante. Noch bevor sie nach New York gefahren war, hatte Sam wie durch Zauberei ihre Vorstellungen Wirklichkeit werden lassen, jedenfalls auf dem Papier. Ein Bauunternehmer aus Ukiah, Theo Draper, sollte die Arbeiten ausführen. Ihm war ebenfalls die undankbare Aufgabe zugefallen, sich mit dem Bauamt des Countys herumzuschlagen und die notwendigen Genehmigungen einzuholen. Roxanne wusste nicht, wie Theo es bewerkstelligt hatte, aber zu ihrer Freude konnten die Bauarbeiten bereits am Montag beginnen. Sam und Theo hatten sie allerdings vorgewarnt, dass jetzt erst die eigentlichen Probleme anfangen würden.
Wahrscheinlich übertreiben die beiden nur, beruhigte sich Roxanne, unterbrach ihre Betrachtungen über das Blockhaus und schlenderte zu den Gewächshäusern, die hinter einer Kurve lagen. Sie waren vom Haus aus nicht zu sehen. Sie hatte sich bisher nur einen flüchtigen Überblick über das Gelände und ihr Land verschafft, und bis auf das Blockhaus den Außengebäuden und dem Grundstück selbst nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Deshalb war alles noch abenteuerlich für sie. Sie warf einen kurzen Blick in das größte Gewächshaus. Es hatte einen Kiesboden, und die Bretterregale reichten über die gesamte Länge des Gebäudes. An der Decke hingen schwarze Bewässerungsrohre aus Plastik. Aston musste ziemlich unverschämt gewesen sein. Sollte man Marihuana nicht besser im Verborgenen anbauen?
Sie zuckte mit den Schultern und ging zu dem zweiten Gewächshaus. Es sah genauso aus wie das erste, nur kleiner. Danach erkundete sie die Gegend drum herum. An der Baumgrenze standen neue und angebrochene Säcke mit Hühnerdünger und Torfmoos sowie einige Rollen feiner Maschendraht. Zwischen den Gewächshäusern häufte sich ein unordentlicher Stapel Netze. Als sie ihn näher inspizierte, stellte sie fest, dass es sich um Tarnnetze handelte. Sie konnte sich leicht ausrechnen, dass Aston damit vermutlich die Gewächshäuser getarnt hatte, damit sie aus der Luft nicht so leicht zu erkennen waren. Vielleicht hat er tatsächlich Marihuana angebaut, dachte Roxanne. Ihr konnte das egal sein. Aston war tot. Und sein Besitz gehörte jetzt rechtmäßig ihr. Sie würde natürlich nicht in Astons Fußstapfen treten, ganz gleich, was ein bestimmter Blödmann im Büro des Sheriffs andeuten mochte.
Ihr beinahe zwanzig Morgen großes Stück Land hatte keine geraden Grenzen und war alles andere als eben. Es wies beträchtliche Höhenunterschiede auf, war an manchen Stellen beinahe zweihundertfünfzig Meter breit, und an anderen kaum siebzig. Zum Teil war das Land bewaldet und von dichtem Unterholz bewachsen. Einige Abschnitte waren sumpfig und feucht, andere von den allgegenwärtigen Sterndisteln übersät, Brombeersträuchern, gelegentlich auch von Kratzdisteln, Lacksumach und einer Vielfalt von wilden Gräsern und Kräutern. Das meiste davon war allerdings Unkraut. Der Zweizahn, in ihrer Familie lediglich »Klette« genannt, verirrte sich sogar auf ihre Caprihose. Sie hasste die Dinger. Ebenso wie Sterndisteln und Lacksumach. Während sie zum Blockhaus zurückging, versuchte sie herauszufinden, welche sie am meisten hasste. Es war eine schwierige Entscheidung. Vor allem zwischen Sterndistel und Lacksumach. Schließlich fiel ihre Wahl des meistgehassten Unkrauts auf die Sterndistel. Der Lacksumach bot wenigstens den Vögeln Nistplätze und Nahrung. Die Sterndistel dagegen ruinierte nur die Weiden und erstickte die natürlichen Gräser.
Roxanne spazierte an einem dichten Gestrüpp vorbei. Die Gewächshäuser lagen weit hinter ihr, und die Blockhütte war noch einige Hundert Meter entfernt, als sie ein tiefes Brüllen hörte, das irgendwie bedrohlich klang. Sie blieb wie angewurzelt stehen. Unwillkürlich schoss ihr das Bild eines Bullen mit, blutunterlaufenen Augen durch den Kopf, der Feuer spuckte und seine spitzen Hörner auf sie richtete, die zwei Meter Spannbreite hatten. Vorsichtig drehte sie den Kopf zu dem Dickicht von Kiefern und Bärentraube, aus dem das Geräusch gekommen war. Es war knapp fünf Meter von ihr entfernt. Ihr Herz schlug ihr bis in den Hals, dann hörte sie erneut das Gebrüll. Ihm folgte ein Krachen, das nur ein großes Tier erzeugen konnte, wenn es durch das Unterholz brach. Eine Sekunde später tauchte kaum drei Meter von der Stelle, an der Roxanne wie zur Salzsäule erstarrt stand, die größte und schwärzeste Kuh auf, die sie je in ihrem Leben gesehen hatte. Ein winziges schwarzes Kalb mit glänzendem Fell folgte auf wackligen Beinen der enormen Kreatur.
Das muss Shellys Kuh sein, dachte Roxanne benommen. Und ihr Kalb. Sie schluckte. Roxanne war zwar mit Rindern aufgewachsen, aber es war schon lange her, seit sie einem Auge in Auge gegenübergestanden hatte. Vom Rücken eines Pferdes aus betrachtet wirkten Rinder längst nicht so einschüchternd, vor allem, wenn das Pferd schneller laufen konnte. Unbehaglich erinnerte sie sich daran, dass selbst die sanfteste Kuh völlig unberechenbar werden konnte, wenn sie ein neu geborenes Kalb dabei hatte. Es war ab und zu passiert, dass Kühe Menschen angegriffen und niedergetrampelt hatten, die das Pech hatten, ihnen im Weg zu stehen. Angusrinder hatten zwar keine Hörner, doch das tröstete Roxanne in dieser Minute nicht im Geringsten. Mit ihrem riesigen Schädel konnte die Kuh sie mit Leichtigkeit bis in den nächsten Bundesstaat schleudern. Falls das Tier sie nicht mit seinen gewaltigen Hufen unangespitzt in den Boden stampfte. Roxanne beäugte die Kuh. Die Kuh glotzte Roxanne an. Es war eine klassische Pattsituation.
Langsam, sehr, sehr langsam wich Roxanne in Richtung ihres Blockhauses zurück, ohne dabei die Kuh aus den Augen zu lassen. Es beruhigte sie nicht gerade, dass die Kuh wieder ohrenbetäubend muhte, den Kopf senkte und mit ihrem Huf zornig Staub aufwirbelte.
»He, kein Problem«, sagte Roxanne leise. »Ich verschwinde schon. Glaub mir, ich will mich weder mit dir noch mit deinem Baby anlegen. Bleib einfach da stehen, und ich verschwinde in meinem netten, sicheren Blockhaus, einverstanden?«
Ihre Stimme schien das Vieh zu beruhigen. Mit jedem Schritt, mit dem Roxanne den Abstand zwischen ihnen vergrößerte, wuchs auch ihre Zuversicht, dass sie diese Begegnung möglicherweise überleben konnte. Als sie glaubte, der Abstand zwischen ihnen wäre groß genug, und die Kuh mehr an ihrem Kalb interessiert war, als Roxanne niederzuwalzen, drehte sie sich um und fegte wie ein Blitz in ihr Haus. Mit einem Satz sprang sie die beiden Stufen zu ihrer Veranda hinauf, stürzte durch die Tür, schlug sie zu und schob den Riegel vor.
Eine Kuh! Ihr Lachen klang fast schon hysterisch. Ich hätte mir wegen einer Kuh beinahe in die Hose gemacht. Vielleicht war ich doch schon zu lange dem Landleben entwöhnt. Oder sollte lieber in New York bleiben.
Sie duschte und zog sich eine tief geschnittene schwarze Jeans und ein burgunderfarben und weiß gestreiftes Top an, das einen großzügigen Blick auf ihren festen Bauch gewährte. Doch sie war alles andere als beruhigt. Sie war von einem Rindvieh gedemütigt worden, auch wenn es zugegebenermaßen eine sehr große Kuh gewesen war. Sie war vor ihr davongelaufen wie vor einer Bande New Yorker Straßenräuber. Sie nahm ihr Handy und rief Nick an.
»Rate mal, was in meinem Hinterhof steht«, überfiel sie ihn ohne Einleitung.
»Ich hoffe, eine große, trächtige Angus-Kuh.« Nick hatte ihre Stimme sofort erkannt.
»Nicht ganz. Sie hat ihr Kalb schon zur Welt gebracht. Mutter und Kind sind wohlauf.«
»Großartig. Mir fällt ein Stein vom Herzen! Behalt sie im Auge. Wir laden die Pferde in den Hänger und kommen, so schnell wir können.«
Roxanne schaltete das Handy aus und kaute beunruhigt auf ihrer Unterlippe. Sie sollte dieses Monstrum im Auge behalten? Sie hatte nicht die geringste Lust, noch einmal ihre Gesundheit und ihr Leben zu riskieren! Trotzdem würde sie es tun. Schließlich war sie nicht feige. Sie holte tief Luft und ging hinaus. Verdammt, sagte sie sich, es ist nur eine Kuh! Und ein kleines Kälbchen.
Sie bewaffnete sich mit einer Schaufel, die an der Seite der Blockhütte lehnte, und machte sich auf den Weg, ihrer schwarzhäutigen Nemesis entgegenzutreten. Wenn das Vieh sie angriff, konnte sie es vielleicht mit einigen kräftigen Schaufelschlägen überzeugen, jemand anderen zu belästigen. Roxanne hatte kaum fünfzig Meter zurückgelegt, als die Kuh mit dem Kalb im Schlepptau in Sicht kam.
Diesmal war Roxanne jedoch auf den Anblick vorbereitet und fand die Kuh nicht mehr so angsteinflößend. Im Gegenteil. Nachdem sie den ersten Schrecken überwunden hatte, kam es ihr vor, als wäre die Kuh mehr an ihrem Neugeborenen interessiert als daran, irgendeinem schwachen Menschen Leid anzutun. In sicherer Entfernung von den beiden Tieren lehnte sich Roxanne an einen Baum und wartete auf die Männer.
Eine knappe halbe Stunde später hörte sie Nicks Gespann die Straße zu ihrem Haus hochfahren. Bis jetzt hatte sich die Kuh beinahe liebenswürdig verhalten. Sie war in Roxannes Blickfeld geblieben und hatte friedlich gegrast. Ihr Kalb schlief auf dem Boden neben ihr, nachdem es sich satt getrunken hatte.
Nick, Acey und Roman sprangen aus dem Pick-up. Zwischen den beiden größeren und jüngeren Männern wirkte Acey mit seinem weißen Schnurrbart und seiner drahtigen, kleinen Gestalt wie ein Gnom. Erneut fiel Roxanne die Ähnlichkeit zwischen Nick und Roman ins Auge. Beide waren groß und schlank und bewegten sich mit der gleichen raubkatzenhaften Geschmeidigkeit. Sie hatten beide dichtes, schwarzes Haar und smaragdgrüne Augen. Roxanne lächelte. Außerdem sahen beide besser aus, als ihnen gut tat. Während sie die Männer beobachtete, fielen ihr wieder die Gerüchte ein, die schon seit langem im Tal zirkulierten. Danach sollte Josh Granger Nick Rios Vater sein. Der wäre dann Shellys Neffe und ein entfernter Cousin von Roman.
Im Frühling hatte Shelly zur Überraschung der Talbewohner angeordnet, ihren Vater zu exhumieren, der schon seit zwanzig Jahren tot war. Man hatte ihm eine DNA-Probe entnommen. Josh war nach seinem Selbstmord im März eingeäschert worden, und seine DNA stand nicht mehr zur Verfügung. Mit einer Probe von Shellys DNA, der ihres Vaters und einer von Roman konnte die Wahrheit über Nicks Herkunft endlich bewiesen werden. Dachte man. Maria Rios jedoch, Nicks Mutter, ließ sich nach wie vor kein Wort zu der ganzen Angelegenheit entlocken. Sie weigerte sich, Joshs Vaterschaft zu bestätigen oder zu dementieren. Deshalb wartete das ganze Tal mit angehaltenem Atem auf die Ergebnisse. Zum Ärger der Neugierigen verloren Shelly, Nick, Roman, Sloan, Maria und selbst Acey, der die Resultate vermutlich ebenfalls kannte, kein Wort darüber. Einmal hatte Roxanne versucht, Sloan Informationen zu entlocken. Sie hatte nur einen langen, kühlen Blick als Antwort geerntet. Entsprechend wucherten die Spekulationen. Dass Shelly und Nick eine Partnerschaft geschlossen hatten, um die Granger Cattle Company wieder aufzubauen, und dass Nick in Joshs Haus wohnte, goss nur Öl ins Feuer. Wenn Nick nicht Joshs Sohn war, warum steckten Shelly und er dann enger zusammen als zwei Erbsen in einer Schote? Und wenn er es war, warum gab die Familie es dann nicht endlich zu? Roxanne musterte die beiden Männern noch einmal. Wenn man sie gefragt hätte, hätte sie darauf gewettet, dass Josh Nicks Vater war. Dummerweise fragte sie niemand, aber es sagte ihr auch keiner was.
Die Männer verteilten sich. Acey und Nick gingen zum Viehanhänger hinter dem Pick-up, und Roman kam zu Roxanne. Aceys Hütehunde, Blue und Honey, sprangen von der Ladefläche des Pick-ups und liefen schwanzwedelnd um das Gespann herum.
»Ganz schön aufregend, was?« Roman lächelte Roxanne an. In seiner Stimme klang noch der melodische Südstaatenakzent durch. Dies, seine geschmeidigen Bewegungen und sein gutes Aussehen fanden Roxanne und die Hälfte der weiblichen Talbewohner umwerfend charmant. »Kühe im Hinterhof«, meinte er gedehnt. »In New York passiert das wohl nicht so häufig.«
Sie lachte. »Nein. Da haben wir es eher mit solchen Kleinigkeiten wie Räubern, Vergewaltigern und Mördern zu tun.«
Roman deutete mit einem Nicken auf die Kuh und das Kalb. »Bevor wir losgefahren sind, hat Nick Shelly angerufen. Sie war sehr erleichtert. Es würde mich nicht wundern, wenn sie und Sloan hier auftauchen, bevor wir fertig sind.«
Roxanne kannte Shellys Pläne mit der Granger Cattle Company. Früher einmal war die Granger Cattle Company ein bekannter Name auf dem Rindermarkt gewesen. Nachdem Josh Granger das Ruder übernommen hatte, war das Unternehmen zum Erliegen gekommen. Jetzt versuchte Shelly mit Nicks Hilfe, die Granger Cattle Company neu zu etablieren. Sie hatte im Frühling einige Kühe mit Granger-Blut aus Texas importiert, und Roxanne wusste, dass Shelly, Nick und selbst Sloan ungeduldig auf die Geburt des ersten Kalbs gewartet hatten.
»Da ich nun schon Besuch habe, kann ich genauso gut einen Kaffee aufsetzen.« Sie schaute mit zusammengekniffenen Augen in die Sonne. Es würde ein heißer Tag werden. »Vielleicht wäre Eistee besser.«
»Ich helfe dir.« Romans grüne Augen glitzerten belustigt. »Wenn wir jetzt noch einen von Marias Apfelkuchen anbieten könnten, hätte wenigstens Acey das Gefühl, dass sich die ganze Mühe gelohnt hätte.«
Maria, Nicks Mutter, arbeitete schon fast ihr ganzes Leben als Haushälterin bei den Grangers, und ihre Apfelkuchen waren legendär. Seit einiger Zeit tauchte bei jeder Krise wie durch ein Wunder einer von ihren Apfelkuchen aus dem Gefrierschrank auf. War er aufgebacken und gefuttert worden, war auch meist die Krise beigelegt. Acey insbesondere war der Meinung, dass man mit einem Apfelkuchen großartig feiern konnte. Und zwar alles.
Roxanne warf ihm einen viel sagenden Blick zu. »Bedauerlicherweise müsst ihr euch mit Kaffee und Eistee und Orangenkeksen begnügen. Ich hatte keine Gesellschaft erwartet.«
Roman lächelte. »Sind wir heute Morgen leicht gereizt?« Amüsiert fügte er hinzu: »Dieses Stückchen Erde ist wohl doch nicht das bukolische Paradies, auf das du gehofft hast, hm?«
»Fang du nicht auch noch damit an! Das höre ich schon mehr als genug von meiner Familie.« Ihre Miene verfinsterte sich. »Und von diesem großen Trottel Jeb.«
Roman legte ihr freundschaftlich die Hand auf die Schulter. »Ich mache nur Spaß.« Dann hob er eine Braue. »Macht Jeb Ärger?«
»Nein, nicht direkt. Aber anscheinend glaubt jeder, ich wäre ein Treibhauspflänzchen, das in der realen Welt sofort verwelkt. Die sollten mal versuchen, in der Modewelt zu überleben. Glaub mir, Primeln haben keine Chance in diesem Job. Bei dem Wettbewerb musst du hart sein. Und ich bin härter, als die meisten Leute mir zutrauen.«
Roman widersprach ihr nicht. Roxanne und er waren einige Male miteinander ausgegangen. Sie hatten rasch herausgefunden, dass sie sich zu sehr mochten, um ihre wunderbare Freundschaft damit zu ruinieren, sich zu verlieben, oder vielmehr, ins Bett zu steigen, wie Roxanne es direkter formulierte. Sie gaben sich lieber damit zufrieden, Freunde und Vertraute zu sein. Im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen wusste Roman, dass hinter Roxannes wunderschöner, unbeschwerter Fassade, die sie der Öffentlichkeit zeigte, eine Menge mehr steckte. Sie war klug. Sie war amüsant. Und sie war hart.
Nick und Acey ritten auf ihren Pferden zu Roxanne und Roman hinüber. Die beiden Hunde, Blue und Honey, trotteten hinterher. »Morgen«, meinte Nick und tippte grüßend an seinen Hut. »Wir gefällt’s dir hier denn so?« Er lächelte belustigt, und seine grünen Augen schimmerten wie die von Roman. »Diese Kuh hat dich wohl ganz schön erschreckt, hm?«
Roxanne hätte niemals zugegeben, wie sehr sie erschrocken war. »Kann man so sagen«, erwiderte sie. Sie deutete mit einem Nicken auf die Kuh. »Wie sieht euer Plan aus?«
Acey kratzte sich das Kinn. »Erst müssen wir das Kalb erwischen und den Nabel desinfizieren. Das wird schwierig, weil Mutterkühe es nicht sonderlich schätzen, wenn man sich an ihren Kälbern zu schaffen macht. Doch wir machen so etwas schließlich nicht zum ersten Mal. Da du hier keine Korrals hast, wollten wir sie eigentlich durch die Wälder nach Hause treiben. Vermutlich ist es jedoch wegen des Kalbes praktischer, sie in den Anhänger zu verfrachten. Roman fährt sie dann zur Ranch zurück, und Nick und ich reiten hinterher.«
Nick schaute Roman an. »Du musst das Gespann wenden und die Türen des Transporters weit aufmachen. Ich habe einige Bohlen an der Seite des Anhängers angebunden. Du kannst sie wie Arme an die Türen einhängen. Das macht es uns einfacher, Kuh und Kalb in den Anhänger zu bugsieren.«
Roman nickte. »Klingt gut.«
Der erste Teil des Plans verlief reibungslos. Acey und die beiden Hunde lenkten die Kuh ab, während Nick vom Pferd sprang, das Kalb auf die Seite legte und den Nabel mit einer Novalsan-Lösung abtupfte, um eine Infektion zu verhindern. Er konnte gerade noch auf sein Pferd springen und flüchten, bevor die Kuh Aceys Phalanx durchbrach und zu ihrem Kalb donnerte. Doch als sie versuchten, Kuh und Kalb zum Transporter zu treiben, schlug der Plan fehl.
Anfangs spielten die Tiere noch mit, bis sie sich dem gähnenden schwarzen Eingang des Anhängers gegenübersahen. Die Kuh blieb wie angewurzelt stehen, musterte den Anhänger und stürmte dann in den Wald davon. Sie ließ sich von den beiden Reitern und den zwei Hütehunden nicht beeindrucken und erwies sich als furchtlos und eigensinnig. Sie schenkte den nach ihr schnappenden Hunden nicht mehr Beachtung als irgendwelchen Insekten. Die Reiter respektierte sie schon gar nicht. Jedes Mal, wenn Nick und Acey das Tier in die passende Richtung getrieben hatten, brach die Kuh aus und raste in den Wald, verfolgt von den beiden Männern, die ihre Pferde fluchend durch das Dickicht trieben. Durch den Lärm wurde die Kuh allerdings zunehmend nervös, das verstörte Kalb eng an ihrer Seite. Die Prozedur wiederholte sich mehrmals, und mit jedem Mal stieg die Anspannung aller Beteiligten. Einmal gelang es ihnen, die Kuh von dem Kalb zu trennen, doch bevor Acey es auf sein Pferd ziehen konnte, griff das Muttertier ihn an. Acey ließ Kalb Kalb sein und sorgte gesundheitsfördernd dafür, dass er schleunigst aus der Reichweite der Kuh kam. Den Hunden erging es erheblich schlimmer. Blue bekam einen heftigen Tritt ab. Er jaulte herzerweichend und schlich humpelnd davon. Nachdem sie einen Feind ausgeschaltet hatte, verschwanden Mutter und Kalb erneut im Busch. Nick galoppierte hinter ihr her. Acey vergaß die Kuh und rief besorgt seinen Hund zu sich. Als Blue sich mit eingezogenem Schwanz aus seinem Versteck unter einem Bärentraubenbusch herauswagte, schwang Acey sich aus dem Sattel und untersuchte ihn erst mal gründlich.
»Er ist okay!«, rief er einige Minuten später. »Das Bein ist nicht gebrochen. Er wird sich bald erholen, aber die Kuh kann er nicht mehr treiben.« Es kam häufig vor, dass Rinder Hütehunde töteten, selbst gut ausgebildete, kluge Hunde. Wenn man einen verletzten Hund auf ein Mutterrind ansetzte, sprach man praktisch sein Todesurteil. Zehn Minuten später wurde Honey von einem Kopfstoß getroffen. Sie segelte durch die Luft und landete krachend an einem Baum. Acey schüttelte sein Haupt, überzeugte sich kurz, dass Honey nicht ernstlich verletzt war, und brachte sie zu Blue auf die Ladefläche des Pick-ups. Er wollte das Leben seiner Hunde nicht wegen einer verirrten, wütenden Kuh riskieren.
Es wurde immer heißer. Das Temperament der Menschen erhitzte sich ebenfalls. Dazu kam noch die Sorge um das Kalb. Diese Hetzjagd durch das Unterholz war nicht gut für ein Neugeborenes. Mittlerweile hatten sie den Versuch aufgegeben, Kuh und Kalb in den Transporter zu verladen, und konzentrierten sich jetzt darauf, die beiden nach Hause zu treiben. Doch auch daran fand die Kuh nicht den geringsten Gefallen. Sie schien fest entschlossen, genau da zu bleiben, wo sie war.
Nick und Acey legten eine Pause ein. Ihre Gesichter waren schweißgebadet und staubverschmiert und ihre Pferde schweißnass. Wortlos reichte Roxanne den beiden Gläser mit Eistee, und Roman hatte zwei Eimer Wasser für die Pferde bereitgestellt. Die vier Menschen betrachteten die schwarze Kuh. Da sie momentan nicht belästigt wurde, graste sie friedlich kaum zehn Meter von ihnen entfernt das gelbliche, von Unkraut durchsetzte Gras ab. Ihr Kalb lag neben ihr auf dem Boden.
»Das ist zweifellos der mieseste Fellsack mit T-Bone-Steaks, der mir je untergekommen ist«, maulte Acey und warf der Kuh einen verdrossenen Blick zu.
»Komm schon, Acey, sie hat ein Neugeborenes bei sich. Alle Kühe sind zu solchen Zeiten empfindlich«, meinte Nick. »Sieh es einfach positiv. Wenigstens wissen wir, wo sie sich aufhält.«
»Was heißt hier positiv?«, knurrte Acey. »Ich finde es schlicht und einfach nur demütigend. Unglaublich, dass ich nach all den Jahren von einem Hamburger auf vier Hufen ausgetrickst werde.«
Beim Klang von Motorengeräusch drehten sich alle Köpfe erwartungsvoll zur Straße. Sie erwarteten Shelly und Sloan zu sehen, stattdessen bog jedoch ein großer roter Van auf Roxannes Grundstück ein.
Sie erkannte das Fahrzeug sofort. Jeb Delaney. Wer um alles in der Welt hatte den bloß eingeladen?
Jeb stieg aus. Er trug Jeans, Stiefel, ein schwarzweiß kariertes Hemd und einen schwarzen Cowboyhut. »Shelly hat mich angerufen«, erklärte er lächelnd sein Auftauchen. »Sloan und sie können nicht kommen.« Er deutete auf die Kuh. »Wolltet ihr sie gerade verladen?«
»Gerade?«, fragte Acey gereizt. »Was glaubst du wohl, was wir den ganzen Morgen versucht haben? Dieses Steak ist das eigensinnigste, mieseste Vieh diesseits des Mississippi. Das meine ich ernst. Sie hat Blue und Honey krankenhausreif getreten, was ich ihr nicht verzeihen werde. Wenn du dein Gewehr bei dir hast, kannst du ihr von mir aus gern eine Kugel zwischen die Augen verpassen.«
»Die Lady ist also dickköpfig, ja?«, erwiderte Jeb und streifte Roxanne in ihrem kurzen Top und ihrer engen Jeans mit einem kurzen Blick. »Mit solchen Frauen habe ich ein bisschen Erfahrung.« Er feixte Acey an. »Denen kommt man nur mit Finesse bei.«
Nick lachte verächtlich und deutete auf die Kuh. »Lass deine Finesse spielen, so viel du willst. Wir bleiben hier sitzen und sehen zu.«
Jeb beobachtete Kuh und Kalb eine Weile. Er schätzte den Abstand zwischen der Kuh und dem Viehtransporter. Anschließend musterte er die beiden Männer und ihre Pferde.
»Sie will nicht in den Transporter?«, erkundigte er sich.
»Bis jetzt nicht«, erwiderte Nick. »Und glaub mir, wir haben alles versucht.«
»Und sie lässt sich auch nicht treiben?«
»Nein.« Diesmal antwortete Acey. »Das haben wir ebenfalls ausprobiert.«
Jeb schob sich den Stetson in den Nacken. »Dann müssen wir sie wohl überlisten.«
»Und wie willst du das anstellen?«, erkundigte sich Roxanne herausfordernd und peilte ihn finster an.
Jeb zwinkerte ihr zu. »Schau einfach hin, dann lernst du vielleicht noch etwas, Prinzessin.«
»Hast du einen Plan?«, mischte sich Roman hastig ein. Er merkte, dass Roxanne sich vor Wut über Jebs spöttische Bemerkung aufplustern wollte. Die beiden provozieren sich wirklich ununterbrochen, dachte er leicht amüsiert. Es wäre bestimmt interessant, die Streithähne eine Viertelstunde in einen Raum zu sperren und dann darauf zu warten, wer lebendig herauskommt. Er würde auf Roxanne setzen, allerdings vermutete er, dass Jeb sich durchaus zur Wehr setzen konnte. Vielleicht war genau dies das Problem. Keiner von beiden wollte auch nur einen Millimeter nachgeben.
Jeb grinste und schaute Roman an. »Ich will herausfinden, ob ich noch so schnell auf den Beinen bin wie früher.« Er sah Nick und Acey an. »Baut diese Balken ab. Und bereitet euch darauf vor, die Türen so schnell wie möglich zuzuschlagen. Ach ja, und sorgt dafür, dass die Sicherheitstür vorn am Anhänger geöffnet ist. Ich dürfte es ziemlich eilig haben, aus dem Hänger herauszukommen.«
Nick und Acey grinsten ihn wissend an. »Das glaube ich gerne«, meinte Nick und machte sich daran, Jebs Anweisungen zu befolgen. Als er zurückkam, fragte er: »Und jetzt, Boss?«
»Glaubt ihr Jungs, dass ihr die Kuh lange genug ablenken könnt, damit ich mir das Kalb schnappen kann? Verschafft mir einen Vorsprung, dann sollte es eigentlich klappen.«
Roxanne sah Jeb fassungslos an. »Bist du verrückt? Sie wird Hackfleisch aus dir machen.«
»Oh, Prinzessin, ich hatte nicht erwartet, dass dir das nahe gehen würde.« Seine dunklen Augen funkelten.
Roxanne ballte unwillkürlich die Hand zur Faust. »Das tut es ganz und gar nicht«, schoss sie zurück. »Ich will nur keinen Bulldozer beauftragen müssen, damit der deine Reste zusammenkarrt.«
Jeb lachte. »Keine Sorge. Die Kosten werde ich dir nicht in Rechnung stellen.«
Es dauerte einige Minuten, bis alle auf ihren Positionen waren. Jeb wollte eine möglichst kurze Strecke mit dem achtzig Pfund schweren Kalb auf den Armen laufen. Deshalb drängten Acey und Nick Kuh und Kalb behutsam in Richtung Hänger, während sich Jeb im Unterholz versteckte. Als die Kuh noch etwa fünfunddreißig Meter vom Anhänger entfernt war, rührte sie keinen Schritt mehr. Die beiden Reiter hielten ihre Pferde zurück und ließen die Kuh in Ruhe grasen.
Roman und Roxanne bereiteten sich derweil auf ihre Rolle vor. Sobald Jeb das schlafende Kalb packte, lag es an ihnen, die Kuh so gut wie möglich abzulenken, ohne ihr Leben zu riskieren, bis Jeb es mit dem Kalb in den Viehhänger geschafft hatte. Roxanne war mit Töpfen bewaffnet, mit denen sie Lärm machen wollte, und Roman sollte mit Handtüchern winken.
Das Kalb schlief, und die Kuh graste. Die Menschen nahmen verstohlen ihre Positionen ein. Jeb versteckte sich hinter einem dichten Gebüsch und schätzte die Lage ein. Das Kalb lag knapp drei Meter vor ihm, fast fünfunddreißig Meter vom rettenden Anhänger entfernt. Die Kuh wiederum graste in etwa zehn Meter Abstand von ihrem Kalb. Acey, Nick, Roxanne und Roman waren bereit, dazwischenzugehen, wenn Jeb das Kalb packte. Er holte tief Luft und fragte sich, ob er komplett verrückt geworden war. Dann fiel sein Blick auf Roxanne in ihrem kurzen Top und ihrer tief sitzenden Jeans. Sie umklammerte die beiden Töpfe, als hinge ihr Leben davon ab. Seltsam, denn seines hing tatsächlich davon ab. Er war eindeutig irre. Jeb hatte seit er sechzehn war nicht mehr versucht, mit irgendeiner Tollkühnheit ein Mädchen zu beeindrucken.
Die Kuh graste und entfernte sich dabei noch zwei Meter weiter von ihrem Kalb. Jeb wartete. Sein Herz hämmerte schmerzhaft gegen seine Rippen. Gerade hatte sie noch einen Meter mehr Abstand zwischen sich und das Kalb gelegt und drehte ihm den Rücken zu. Jetzt oder nie!
Jeb wischte sich die Hände an seiner Jeans ab, holte tief Luft und schoss wie aus der Kanone geschossen aus dem Gebüsch. Er sprintete zu dem Kalb und riss es vom Boden hoch. Als er es sich über die Schulter warf, stieß das Jungtier ein überraschtes Muhen aus. In der nächsten Sekunde war Jeb schon zum Viehhänger unterwegs.
Obwohl alle den Plan genau kannten, wurden sie von Jebs Geschwindigkeit überrumpelt. Eine Sekunde standen sie reglos da und glotzten. Eine beinahe tödliche Sekunde. Selbst die Kuh, die bei dem leisen Muhen ihres Kalbes herumgefahren war, rührte sich nicht.
Dann passierte alles gleichzeitig. Die Kuh brüllte und griff an. Acey und Nick gaben ihren Pferden die Sporen und ritten zwischen die Kuh und Jeb. Sie johlten und pfiffen und schwangen ihre Lassos durch die Luft. Roxanne und Roman mischten aus Leibeskräften mit. Roxanne hämmerte so laut sie konnte die Töpfe aneinander, und Roman schwenkte wie ein Verrückter die Handtücher. Es klappte. Die Kuh zögerte, verwirrt von dem Lärm und dem Getue. Doch ein zweites klägliches Muhen ihres Babys genügte. Sie stürmte los und durchbrach die Phalanx der Helfer. Die brachten sich schnellstens in Sicherheit.
Nick wendete sein Pferd auf der Hinterhand und ritt im vollen Galopp hinter der Kuh her. Er schwang sein Lasso in der Luft. Acey war eine knappe halbe Pferdelänge hinter ihm.
Roxanne schlug das Herz bis in den Hals, als sie hilflos mit ansehen musste, wie die Kuh in rasendem Tempo den Abstand zwischen sich und ihrem Kalb verkürzte, das jämmerlich auf Jebs Schulter muhte, während es durchgeschüttelt wurde.
Das wird verdammt knapp, dachte Jeb. Er war noch drei Meter von dem Anhänger entfernt, und die Kuh, eine riesige, schwarze Masse aufgewühlter Mutterinstinkte, befand sich höchstens fünf Meter hinter ihm. Und sie holte rasch auf.
»Lauf, Jeb, lauf, verdammt!«, schrie Roman, der gleichzeitig fluchte und lachte. »Lauf und sieh dich nicht um!«
Jeb fürchtete, seine Lungen würden platzen, als er mit einem verzweifelten Satz in den Anhänger sprang. Der Sekunden später unter mehr als einer halben Tonne wütender Mutterkuh heftig schwankte und krachte. Jeb ließ das Kalb am vorderen Ende des Hängers auf den Boden fallen. Er spürte schon den heißen Atem des Verderbens hinter sich und hechtete durch die Sicherheitstür an der Seite des Viehtransporters. Allerdings verschätzte er sich, merkte jedoch nicht, wie er sich den Schädel an dem Metallrahmen anstieß. Genauso wenig spürte er, wie ihm das Blut über das Gesicht lief. Er hatte nur seine Flucht im Sinn und wollte raus aus dem Anhänger. Sofort. Kaum war er draußen und hatte die Tür blitzartig zugeschoben, ließ er sich gegen die Seite des Viehanhängers sinken. Er lachte atemlos und war närrisch stolz auf sich. Erschöpft lehnte er an der Seite des Hängers, während Acey und Nick sich aus ihren Sätteln schwangen und hinter der Kuh die beiden Türen zuschlugen. Kuh und Kalb waren sicher verstaut.
Roman und Roxanne rannten ebenfalls zum Anhänger. Sie lachten und johlten, schlugen sich auf den Rücken und gratulierten sich.
»Ihr habt es ganz schön eng werden lassen, was Jungs?«, fragte Jeb Nick, nachdem der Adrenalinrausch verflogen war.
»Eigentlich nicht«, gab Nick grinsend zurück. »Für einen so großen Burschen bist du gerannt wie ein Reh. Wir fanden, die Kuh hatte eine Chance verdient.«
»Himmel, Jeb!« Roman schüttelte lachend den Kopf. »Ich war sicher, du wärst erledigt. Du musst den Atem der Kuh im Nacken gespürt haben, als du in den Anhänger gesprungen bist.«
Jeb lachte und wischte sich achtlos das Blut aus dem Gesicht. »Da liegst du richtig. Ich habe nur eines gedacht: Bloß nicht stolpern. Sonst ist es das Letzte, was du in deinem Leben tust.«
Roxanne betrachtete den Riss über seinem Auge und das Blut auf seinem Gesicht. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Was war mit ihr los? Dieser große Trottel hatte sich das Gesicht aufgeschlagen, na und? Er hatte es verdient. Wieso zog er auch so einen kindischen Halbstarkentrick ab? Sich ein Kalb zu schnappen und vor dem Muttertier davonzulaufen! Was für ein Blödsinn! Typisch Mann!
Acey riss sie aus ihren Gedanken. »Wir sollten uns allmählich nach Hause aufmachen.« Er schaute auf seine Taschenuhr, warf Roxanne einen Blick zu und ließ seinen Schnauzbart tanzen. »Maria backt einen ihrer köstlichen Apfelkuchen für mich. Ich möchte sie nicht warten lassen.«